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[An Felice Bauer]
[Prag, 27. November 1912; Mittwoch]

27. XI. 12

Liebste, warum mit Küssen nur die Briefe schließen, da doch die Briefe selbst so unwichtig sind und vor Deiner ersehnten und doch unvorstellbaren Gegenwart Papier und Feder in das Nichts hinüberfliegen würden, das sie auch jetzt und tatsächlich schon sind. Wirklich, Felice, wenn ich so allein in der Nacht hier sitze und wie heute und gestern nicht besonders gut geschrieben habe - es wälzt sich etwas trübe und gleichmüthig fort und die notwendige Klarheit erleuchtet es nur für Augenblicke - und wenn ich mir nun in diesem keineswegs allerbesten Zustand unser Wiedersehen auszudenken versuche, fürchte ich manchmal, dass ich Deinen Anblick, sei es auf der Gasse oder im Bureau oder in Deiner Wohnung, nicht ertragen werde, nicht so ertragen werde, dass mir Menschen oder auch nur Du allein zusehn könnten und dass ein Ertragen Deines Anblicks mir nur möglich sein wird, wenn ich so zerfahren und in Nebeln bin, dass ich gar nicht verdienen werde, vor Dir zu stehn. Nun glücklicherweise bist Du ja keine Statue, sondern lebst und lebst sehr kräftig, vielleicht wird, wenn Du mir dann einmal die Hand gereicht hast, alles gut und mein Gesicht wird vielleicht bald ein menschliches Aussehn bekommen.
Du fragst nach meinen Weihnachtsferien. Ich habe leider keinen Kalender bei der Hand. Urlaub habe ich natürlich nur während der zwei Feiertage, da ich aber noch auf 3 freie Tage innerhalb dieses Jahres Anspruch habe (ein Schatz ist das, die Möglichkeit seiner Verwendung stärkt mich schon seit Monaten) und die Feiertage, wie ich gehört habe, so angeordnet sind, dass durch Einschiebung zweier von den 3 Tagen mit Sonntag 5 oder gar 6 Ferialtage sich ergeben, so würde mein Weihnachtsurlaub, wenn ich jene 2 Tage draufgehn lasse, doch schon ein Ansehn haben. Nun war ich aber fest entschlossen, diese Zeit nur für meinen Roman zu verwenden, vielleicht gar für den Abschluß des Romans. Heute, wo der Roman nun schon über eine Woche ruht und die neue Geschichte zwar zu Ende geht, mich aber seit zwei Tagen glauben machen will, dass ich mich verrannt habe - müßte ich eigentlich noch fester an jenem Entschluß mich halten. Einen Tag der Weihnachtsferien verliere ich wohl durch die Hochzeit meiner Schwester, sie wird am 22. sein. Übrigens erinnere ich mich nicht, jemals Weihnachten eine Reise gemacht zu haben; irgendwo hinzurollen und nach 1 Tag zurückzurollen, die Nutzlosigkeit einer solchen Unternehmung war mir immer erdrückend. Nun, Liebste, wie sehn Deine Weihnachtsferien aus? Bleibst Du in Berlin trotz des starken Erholungsbedürfnisses, das Du hast? Ins Gebirge wolltest Du, wohin? Irgendwohin, wo Du für mich erreichbar wärest? Sieh, ich war entschlossen, mich vor Beendigung des Romans nicht vor andern Menschen zu zeigen, aber ich frage mich, heute abend allerdings nur, würde ich nach der Beendigung vor Dir, Liebste, etwas besser oder weniger schlecht bestehen als vorher. Und ist es nicht wichtiger, als der Schreibwut die Freiheit von 6 fortlaufenden Tagen und Nächten zu geben, meine armen Augen endlich mit Deinem Anblick zu sättigen? Antworte Du, ich sage für mich ein großes "Ja".

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at