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[An Felice Bauer]
[Prag, 24. November 1912; Sonntag]

24. XI. 12

Liebste! Was ist das doch für eine ausnehmend ekelhafte Geschichte, die ich jetzt wieder beiseite lege, um mich in den Gedanken an Dich zu erholen. Sie ist jetzt schon ein Stück über ihre Hälfte fortgeschritten und ich bin auch im allgemeinen mit ihr nicht unzufrieden, aber ekelhaft ist sie grenzenlos und solche Dinge, siehst Du, kommen aus dem gleichen Herzen, in dem Du wohnst und das Du als Wohnung duldest. Sei darüber nicht traurig, denn, wer weiß, je mehr ich schreibe und je mehr ich mich befreie, desto reiner und würdiger werde ich vielleicht für Dich, aber sicher ist noch vieles aus mir hinauszuwerfen und die Nächte können gar nicht lang genug sein für dieses übrigens äußerst wollüstige Geschäft.
Ehe ich aber jetzt schlafen gehe (es ist wirklich 3 Uhr nachts, sonst arbeite ich nur bis 1 Uhr, die Zeitbestimmung in einem meiner letzten Briefe scheinst Du mißverstanden zu haben, sie bedeutete 3 Uhr nachmittag, ich war eben im Bureau geblieben und schrieb an Dich) will ich Dir , weil Du es verlangst und weil es so einfach ist, noch ins Ohr sagen, wie ich Dich liebe. Ich liebe Dich, Felice, so, dass ich, wenn Du mir erhalten bleibst, ewig leben wollte, allerdings, was nicht zu vergessen ist, als ein gesunder und Dir ebenbürtiger Mensch. So ist es also, damit Du es weißt, und das ist allerdings schon fast jenseits der Küsse und es bliebe mir in Erkenntnis dessen fast kein anderes Zeichen übrig als bloß Deine Hand zu streicheln. Und deshalb nenne ich Dich lieber Felice als Liebste und lieber Du als Lieb. Aber weil ich soviel als möglich auf Dich beziehen will, nenne ich Dich auch gerne Liebste und bin glücklich, Dich überhaupt nennen zu dürfen.

Sonntag nach dem Mittagessen

Zwei Briefe! Zwei Briefe! Wo ist der Sonntag, der in der Folge einer solchen Einleitung entsprechen könnte. Aber nun, Liebste, da Du auch dieses mir nicht nur verziehen, sondern auch eingesehen hast, wollen wir, Felice, nicht wahr, was auch geschehe, ruhig bleiben und ohne Störung einander lieb haben. Möchte ich doch die Kraft haben, Dich durch Briefe wieder frisch und lustig zu machen, wie ich leider genug Schwäche hatte, Dich durch Briefe müde und zum Weinen traurig zu machen. Fast habe ich das Vertrauen dazu. Wenn es mir aber gelingt, dann verdanke ich es wieder nur dem stärkenden Bewußtsein, Dich zur Freundin zu haben und auf einen Menschen, wie Du es bist, mich verlassen zu können.
Nur bitte, Liebste, bitte, schreib nicht mehr in der Nacht, ich lese diese mit Deinem Schlaf erkauften Briefe nur mit einer Mischung von Glück und Trauer. Tue es nicht mehr, schlaf so schön, wie Du es verdienst, ich könnte nicht ruhig arbeiten, wenn ich weiß, dass Du noch wachst und gar meinetwegen. Weiß ich aber, dass Du schläfst, dann arbeite ich desto mutiger, denn dann scheint es mir, als seiest Du ganz meiner Sorge übergeben, hilflos und hilfebedürftig im gesunden Schlaf, und als arbeite ich für Dich und für Dein Wohl. Wie sollte bei solchen Gedanken die Arbeit stocken! Schlaf also, schlaf, um wieviel mehr arbeitest Du doch auch während des Tages als ich. Schlaf unbedingt schon morgen, schreib mir keinen Brief mehr im Bett, schon heute womöglich nicht, wenn mein Wunsch Kraft genug hat. Dafür darfst Du vor dem Schlafengehn Deinen Vorrat an Aspirintabletten aus dem Fenster werfen. Also nicht mehr abends schreiben, mir das Schreiben in der Nacht überlassen, mir diese kleine Möglichkeit des Stolzes auf die Nachtarbeit überlassen, es ist der einzige, den ich Dir gegenüber habe, sonst würde ich doch gar zu untertänig und das würde gewiß auch Dir nicht gefallen. Aber warte einen Augenblick, zum Beweise dessen, dass die Nachtarbeit überall, auch in China den Männern gehört, werde ich aus dem Bücherkasten (er ist im Nebenzimmer) ein Buch holen und ein kleines chinesisches Gedicht für Dich abschreiben. Also hier ist es (was für einen Lärm mein Vater mit dem Neffen macht!): Es stammt von dem Dichter Jan-Tsen-Tsai (1716-97) über den ich die Anmerkung finde: "Sehr talentvoll und frühreif, machte eine glänzende Karriere im Staatsdienst. Er war ungemein vielseitig als Mensch und Künstler". Außerdem ist zum Verständnis des Gedichtes die Bemerkung nötig, dass die wohlhabenden Chinesen vor dem Schlafengehen ihr Lager mit aromatischen Essenzen parfümieren. Im übrigen ist das Gedicht vielleicht ganz wenig unpassend, aber es ersetzt den Anstand reichlich durch Schönheit. Hier ist es also endlich:

In tiefer Nacht

In der kalten Nacht habe ich über meinem
Buch die Stunde des Zubettgehens vergessen.
Die Parfüms meiner goldgestickten Bettdecke
sind schon verflogen, der Kamin brennt nicht mehr.
Meine schöne Freundin, die mit Mühe bis dahin
ihren Zorn beherrschte, reißt mir die Lampe weg
Und fragt mich: Weißt Du, wie spät es ist?

Nun? Das ist ein Gedicht, das man auskosten muß. Übrigens fällt mir bei diesem Gedicht dreierlei ein, ohne dass ich den Zusammenhang weiter überprüfen will.
Erstens hat es mich sehr gefreut, dass Du im Herzen Vegetarianerin bist. Die wirklichen Vegetarianer liebe ich eigentlich gar nicht so sehr, denn ich bin ja auch fast Vegetarianer und sehe darin nichts besonders Liebenswertes, nur etwas Selbstverständliches, aber diejenigen, welche in ihrem Gefühl gute Vegetarianer, aber aus Gesundheit, Gleichgültigkeit und Unterschätzung des Essens überhaupt, Fleisch und was es gerade gibt wie nebenbei mit der linken Hand aufessen, die sind es, die ich liebe. Schade, dass sich meine Liebe zu Dir so übereilt hat, dass sie keinen Platz mehr läßt, Dich noch Deines Essens halber zu lieben. Und meine Narrheit, bei offenem Fenster zu schlafen, hast Du also auch? Das ganze Jahr ist es offen? Auch im Winter? Und vollständig? Da würdest Du mich übertrumpfen, denn im Winter lasse ich es nur ganz wenig offen, eine kleine Spalte weit. Allerdings geht mein Fenster auf einen großen, leeren Bauplatz hinaus, hinter dem die Moldau vorüberfließt. Und hinter dieser kommen gleich Anhöhen mit öffentlichen Gärten. Es gibt also viel Luft und Wind und Kälte, und selbst wenn Du jetzt noch nachts in der Immanuel-Kirchstraße das Fenster gänzlich offen läßt, ist es noch gar nicht sicher, dass Du es auch in einem Zimmer tun würdest, das so wie meines gelegen ist. Übrigens besiege ich Dich noch darin, dass in meinem Zimmer überhaupt nicht geheizt wird und ich doch darin schreibe. Jetzt merke ich sogar (ich sitze knapp beim Fenster), dass das innere Fenster gänzlich offen und das äußere nur flüchtig geschlossen ist, während auf dem Geländer der Brücke unten nicht Schnee aber Reif liegt. Nun versuche noch gegen mich aufzukommen.
Das Gedicht Deiner kleinen Damen ist prachtvoll. Ich schicke es Dir natürlich zurück, aber ich habe es mir abgeschrieben. Um aber dieses Fräulein Brühl für den Mann mit Namen "von" zu strafen, den sie Dir wünscht oder besser dem sie Dich wünscht - wünsche ich ihr zu ihrem Geburtstage, dass von heute ab Abend für Abend nach Geschäftsschluß ein Jahr lang bis zu ihrem nächsten Geburtstag zwei rasende Prokuristen rechts und links neben sie treten und ihr ununterbrochen und gleichzeitig bis Mitternacht Briefe diktieren. Und nur weil sie so hübsche Verse macht, will ich, wenn Du für sie bittest, die Strafe auf ein halbes Jahr herabsetzen. Aber weil Du sie gern hast und weil sie sich so hübsch zu freuen versteht, werde ich aus Kratzau (das ist hinter Reichenberg, oben im Gebirge) wohin ich leider morgen fahren muß, eine Ansichtskarte schicken, auf die ich mir von fremder Hand und ohne Unterschrift habe schreiben lassen: "Herzliche Glückwünsche. Aber ach! Von wem denn?"
Längst schon wollte ich Dich fragen, und immer wieder entwischt es mir, wie kommst Du denn dazu, so viele und so verschiedenartige Zeitschriften, wie Du sie in Deinem zweiten Briefe als unter Deiner Tagespost befindlich erwähntest, zu abonnieren oder gar zu lesen? So viele hast Du schon dort genannt und dahinter stand noch u.s.w. Aber wenn es wirklich so ist, d.h. wenn ich es richtig verstanden habe, dann könnten wir noch einen ergänzenden Verkehr zwischen uns einrichten. Ich kann gar nicht genug Dinge in die Hand bekommen, die Du in der Hand gehalten hast und kann Dir gar nicht genug Dinge schicken, die mich etwas angingen. Nun habe ich schon längst den Plan gehabt und nur aus Nachlässigkeit ihn immer wieder auszuführen unterlassen, verschiedene Zeitungsnachrichten, die mir aus irgendeinem Grunde überraschend waren, mir nahegingen und mir persönlich für nicht absehbare Zeit wichtig schienen, meistens waren es für den ersten Blick nur Kleinigkeiten, aus der letzten Zeit z.B. "Seligsprechung der 22 christlichen Negerjünglinge von Uganda" (das habe ich sogar jetzt gefunden und lege es bei) auszuschneiden und zu sammeln. Fast jeden zweiten Tag finde ich in der Zeitung eine derartige, förmlich für mich allein bestimmte Nachricht, aber ich habe nicht die Ausdauer, eine solche Sammlung für mich anzufangen, wie erst für mich sie fortsetzen. Für Dich aber mache ich es mit Freuden, tu es doch, wenn es Dir gefällt, von Deiner Seite für mich. Solche Nachrichten, die nicht für alle Leser bestimmt sind, sondern nur auf bestimmte Leser hie und da zielen, ohne dass der unbeteiligte Beurteiler den Grund des besonderen Interesses herausfinden könnte, gibt es doch gewiß für jeden und solche kleine Nachrichten, die Dich besonders bekümmern, hätten für mich mehr Wert als meine eigene Sammlung, die ich Dir also ohne großes Bedauern schicken könnte. Verstehe mich recht, nur kleine Ausschnitte aus Tageszeitungen meine ich, meistens über wirkliche Ereignisse, Ausschnitte aus Zeitschriften wären nur seltene Ausnahmen, Du darfst nicht glauben, dass ich Deine schönen Hefte für mich zerreißen will. Übrigens lese ich selbst nur das Prager Tagblatt und dieses sehr flüchtig und an Zeitschriften die Neue Rundschau und dann noch "Palästina", das mir jedoch nicht mehr zugeschickt wird, trotzdem ich noch immer Abonnent bin. (Wahrscheinlich glaubt diese Zeitschrift, dass sie an unserem gemeinsamen Abend mit dem damaligen einen Heft für mich mehr geleistet hat als für andere Abonnenten mit einem ganzen Jahrgang und das ist allerdings richtig.) Um gleich im Beginn der Sammlung einen tüchtigen Beitrag zu schicken, lege ich noch den Bericht über einen scheußlichen Proceß bei. Nun da ich einmal von der Reise nach Kratzau gesprochen habe, verläßt mich der ärgerliche Gedanke nicht mehr. Meine kleine Geschichte wäre morgen gewiß fertig geworden und nun muß ich morgen abend um 6 wegfahren, komme um 10 nach Reichenberg, fahre früh um 7 nach Kratzau zu Gericht und habe die feste Absicht, in der betreffenden ziemlich schwierigen und riskanten Sache mich so eindeutig und energisch zu blamieren, dass man mich niemals mehr mit solchen Aufträgen wegschicken soll. Übrigens hoffe ich, schon Dienstag um 4 Uhr nachmittag wieder in Prag zu sein, wo ich sofort ins Bureau laufen werde, um für jeden Fall (aber ohne die geringste Aufregung, ohne die allergeringste Aufregung) nachzuschauen, ob ein Brief von Dir da ist, um dann, mit einem Brief zufrieden, ohne Brief gefaßt, nachhause zu gehn und mich ins Bett zu werfen. Soll dieser Plan gelingen, muß ich allerdings bei Gericht in Kratzau mit meiner Angelegenheit in spätestens 3 Stunden fertig sein aber ich denke daran, wenn sich das Ende der 3tten Stunde nähert, allmählich in Ohnmacht zu sinken und mich auf die Bahn eiligst tragen zu lassen. Im Gerichtsprotokoll wird dann an Stelle meiner Unterschrift stehn: "Der Vertreter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (nicht Gesellschaft, Liebste!) fiel in Ohnmacht und mußte weggeschafft werden." Wie werde ich dann im Zug doppelt lebendig werden und nach Prag rasen!
Ach ich habe Dir noch sovieles zu sagen und sovieles zu fragen und nun ist es schon so spät und ich kann nicht mehr. Heute vormittag war ich bei Baum (kennst Du Oskar Baum?) wie jeden Sonntag und habe (es war auch Max mit seiner Braut dort) den ersten Teil meiner kleinen Geschichte vorgelesen. Nachher kam dann ein Fräulein hin, die in irgendeiner Kleinigkeit Ihres Auftretens mich an Dich erinnerte. (Es braucht nämlich nicht viel, um mich an Dich zu erinnern.) Wie verzaubert habe ich sie angesehn und wäre gern, nachdem ich mit meinen Augen die kleine Ähnlichkeit ausgeschöpft hatte, zum Fenster gegangen, um hinauszuschauen, keinen Menschen zu sehn und vollkommen Dir anzugehören.
Mit meiner Mutter stehe ich sehr gut. Es bildet sich sogar eine gute Beziehung zwischen uns heraus, das gemeinsame Blut scheint einen Sinn zu bekommen, sie scheint Dich zu lieben. Sie hat Dir auch schon einen Brief geschrieben, aber ich habe ihn nicht weggehn lassen, er war zu demüthig, er war so, wie ich ihn an dem schlimmen Abend verlangt hätte und das wäre nicht gut gewesen. Sie wird Dir bald einen ruhigen, freundlichen Brief schreiben, glaube ich.
Also ein Bild soll ich nicht bekommen? Und der Humor wurde nicht photographiert? Was für eine sonderbare Gesellschaft, die sich das entgehen ließ? Und Gruppenaufnahmen aus dem Bureau gibt es nicht? Ansichten der Bureaulokalitäten? Der Fabrik? der Immanuel-Kirchstraße? Prospekte der Fabrik? Die Adresse der Prager Filiale? Worin besteht Deine Arbeit? Jede Kleinigkeit aus dem Bureau interessiert mich (zum Unterschied von meinem Bureau). Was für hübsche Redensarten es bei Euch gibt. Du bist in der Registratur? Was ist das eigentlich? Wie kannst Du zwei Mädchen gleichzeitig diktieren? Wenn Du mir irgendetwas Hübsches aus Deinem Bureau schickst, schicke ich Dir Jahresberichte meiner Anstalt mit ungeheuer interessanten Aufsätzen von mir.
Und nun umarme ich Dich zum Abschied.

Franz


Buch: Hans Heilmann: Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. (Bd. 1 der Sammlung "Die Fruchtschale"), München [1905].
Moldau: Kafka wohnte damals im Haus der Eltern, Niklasstraße (Mikulásská) 36, einem Eckhaus nahe der Moldau.
Gedicht : Ein paar jüngere Bürokolleginnen von Felice Bauer hatten ihr zum Geburtstag ein kleines Gedicht geschrieben.
Seligsprechung der 22 christlichen Negerjünglinge von Uganda: Im Prager Tagblatt vom 25. September 1912 war eine Notiz über die "Seligsprechung der Märtyrer von Uganda" erschienen. Kafka schnitt diese Notiz aus und legte sie dem Brief bei. (Diese Männer wurden im Oktober 1964 heiliggesprochen.)
Proceß: Dieser Zeitungsausschnitt ist nicht erhalten.
Oskar Baum: Oskar Baum (1883 - 1941), Schriftsteller, früh erblindet. Kafka hatte ihn im Herbst 1904 durch Max Brod kennengelernt. Baum gehörte zu dem Freundeskreis Max Brod, Felix Weltsch und Franz Kafka. Diese jungen Autoren kamen fast an jedem Wochenende zusammen und lasen einander aus ihren Arbeiten vor.
vorgelesen: Max Brod bestätigt, dass Kafka am 24. November 1912 "Die Verwandlung" vorgelesen hat, nimmt aber an, dass es die ganze Erzählung war. (Max Brod zitiert in seiner Kafka-Biographie aus eigenen Tagebüchern, wo laut Eintrag Kafka am 24. November 1912 bei Baum "seine herrliche Novelle vom Ungeziefer" vorgelesen habe.)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at