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[Stempel: Stapelburg, 10. 7. 12]

[An:] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkonceptspraktikant Prag k.k. Postdirection

Abs.: Dr Franz Kafka Naturheilanstalt Jungborn im Harz Post Stapelburg

[Briefkopf: Rudolf Just's Kuranstalt, Jungborn i. Harz]


[den] 10. Juli [191] 1

Mein liebster Max, weil mir Dein Brief vor Freude in den Händen brennt, antworte ich gleich. Dein Gedicht wird der Schmuck meiner Hütte bleiben, und wenn ich in der Nacht aufwache, was oft vorkommt, denn an die Geräusche in Gras Baum und Luft bin ich noch nicht gewöhnt, so werde ich es bei der Kerze lesen. Vielleicht bringe ich es einmal dazu, es auswendig hersagen zu können, dann werde ich mich, und sei es auch nur im Gefühl, wenn ich verkannt bei meinen Nüssen sitze, damit erheben. Es ist rein (nur mit den "schweren Trauben" kommt in die zwei Zeilen ein nicht ganz sicherer Überfluß, da solltest Du noch mit der Hand hineingreifen), aber außerdem und vorher noch hast Du es für mich bestimmt, nicht wahr, schenkst es mir vielleicht, läßt es gar nicht drucken, denn, weißt Du, noch die erträumteste Vereinigung ist für mich das Wichtigste auf dieser Welt.

    Der brave, der kluge, der tüchtige Rowohlt! Wandere aus, Max, wandere von Juncker aus, mit allem oder mit möglichst vielem. Er hat Dich aufgehalten, nicht in Dir, daran glaube ich nicht, da bist Du auf dem guten Weg, aber vor der Welt bestimmt. Die Schrift der Kleist-Anekdoten paßt ganz genau, aus dieser trockenen Schrift wird man die Höhe des Gefühls um so besser rauschen hören.

    Vom Jahrbuch und vom Billig schreibst Du nichts. Nimmt Rowohlt den "Begriff" umsonst? dass er an mein Buch denkt, ist mir natürlich recht, aber ihm von hier aus schreiben? Ich wüßte nicht, was ich ihm schreiben sollte.

    Wenn das Bureau Dich ein wenig plagt, so tut das nichts, dazu ist es hier, man kann nichts anderes verlangen. Dagegen kann man verlangen, dass aber schon in nächster Zeit Rowohlt oder irgendein anderer kommt und Dich aus Deinem Bureau herauszieht. Er soll Dich dann aber nur in Prag lassen und Du sollst dort bleiben wollen! Hier ist es schon schön, aber ich bin unfähig genug und traurig. Das muß nicht endgiltig sein, das weiß ich. Jedenfalls reicht es zum Schreiben noch lange nicht. Der Roman ist so groß, wie über den ganzen Himmel hin entworfen (auch so farblos und unbestimmt wie heute) und ich verfitze mich beim ersten Satz, den ich schreiben will. dass ich mich durch die Trostlosigkeit des schon Geschriebenen nicht abschrecken lassen darf, das habe ich schon herausgebracht und habe von dieser Erfahrung gestern viel Nutzen gehabt.

    Dagegen macht mir mein Haus viel Vergnügen. Der Fußboden ist ständig mit Gräsern bedeckt, die ich hereinbringe. Gestern vor dem Einschlafen glaubte ich sogar Frauenstimmen zu hören. Wenn man das Klatschen nackter Füße im Gras nicht kennt, so ist, wenn man im Bett liegt, ein vorüberlaufender Mensch wie ein dahineilender Büffel anzuhören. Mähen kann ich nicht erlernen.

    Lebe wohl und grüße alle.

Dein Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Dein Gedicht: "Lugano-See", Erstdruck in März 7 (1913). Siehe BKR, wo das Sonett wiederabgedruckt ist.


Rohwolt: Mit Ernst Rowohlt, der Kafkas erstes Buch Betrachtung verlegte, war er kurz zuvor in Leipzig durch Brod bekanntgeworden.


Juncker: Über seinen Verleger Axel Juncker schreibt Brod in SL 32 ff.


Kleist-Anekdoten . . . Höhe des Gefühls: Das - von Kafka rezensierte - Buch Heinrich von Kleist's Anekdoten, hrsg. von Julius Bab, Leipzig: Rowohlt 1911, war ein Drugulin-Druck. Max Brods Die Höhe des Gefühls. Szenen, Verse, Tröstungen, Leipzig: Rowohlt 1913 wurde, noch im Herbst 1912, mit größerer Schrift und in besonders schöner Aufmachung von Poeschel & Trepte gedruckt.


Jahrbuch: Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, hrsg. von Max Brod, Leipzig: Kurt Wolff 1913. Vgl. Kafkas Brief vom 17. 7. 1912.


Billig: Zu dieser geplanten Veröffentlichung - es sollte ein von Brod und Kafka gemeinsam verfaßtes, neuartiges Reisehandbuch sein - siehe BKR.


den "Begriff": Das von Max Brod und Felix Weltsch gemeinsam verfaßte Buch Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung, Leipzig: Kurt Wolff 1913.


mein Buch: Die "kleine Prosa" (Br 103), die Kafka erst am 14. August 1912 an Rowohlt abschicken konnte, ist als das Buch Betrachtung noch vor Jahresende erschienen.


Der Roman: Eine erste Fassung von Kafkas unvollendet gebliebenem Roman "Der Verschollene".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at