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[Tagebuch, 16. Dezember 1911; Samstag]

16. (17.) XII (1911) So. 12 Uhr mittag. Den Vormittag vertrödelt mit Schlafen und Zeitunglesen. Angst eine Kritik für das Prager Tagblatt fertigzustellen. Solche Angst vor dem Schreiben äußert sich immer darin, dass ich gelegentlich ohne beim Schreibtisch zu sein, Eingangssätze des zu Schreibenden erfinde, die sich gleich als unbrauchbar, trocken, weit vor dem Ende abgebrochen herausstellen und mit ihren vorragenden Bruchstellen in eine traurige Zukunft zeigen.

Die alten Künste auf dem Christmarkt. Zwei Kakadus auf einer Querstange ziehn Planeten. Irrtümer. Ein Mädchen bekommt eine Geliebte prophezeit. - Ein Mann bietet künstliche Blumen mit Versen zum Verkaufe an: To jest ruze udelana z kuze.

Der junge Pipes beim Gesang. Als einziges Geberdenspiel wird der r. Unterarm im Gelenk hin und her gekegelt, die halbgeöffnete Hand öffnet sich noch etwas weiter und zieht sich dann wieder zusammen. Der Schweiß bedeckt ihm das Gesicht, besonders die Oberlippe wie mit Glassplittern. Flüchtig ist ein knopfloses Plastron hinter die Weste des Schlußrockes gesteckt. - Der warme Schatten im weichen Rot der Mundhöhle der singenden Frau Klug.

Judengassen in Paris rue Rosier Abzweigung der rue de Rivoli

Wird eine ungeordnete Bildung, die in sich nur den notdürftigsten zum bloßen, unsichern Dasein unentbehrlichen Zusammenhang hat, plötzlich zu einem zeitlich eingeschränkten, daher notwendig energischem Arbeiten, zum Sichentwickeln, zum Reden aufgefordert, so erfolgt nur eine bittere Antwort, in der sich Hochmut wegen des Erreichten, das nur mit allen ungeübten Kräften ertragen werden kann, ein kleiner Rückblick auf das überrascht entfliehende Wissen, das deshalb besonders leicht beweglich ist, weil es mehr geahnt, als seßhaft war und endlich Haß und Bewunderung der Umgebung mischen.

Vor dem Einschlafen hatte ich gestern die zeichnerische Vorstellung einer für sich bergähnlich in der Luft abgesonderten Menschengruppe, die mir in ihrer zeichnerischen Technik vollständig neu und einmal erfunden leicht ausführbar schien. Um einen Tisch war eine Gesellschaft versammelt, der Erdboden verlief etwas weiter als der Menschenkreis, von allen Leuten aber sah ich vorläufig mit einer großen Gewalt des Blickes nur einen jungen Mann in altertümlichem Kleid. Den linken Arm hatte er auf dem Tisch aufgestützt, die Hand hieng lose über seinem Gesicht, das spielerisch zu jemandem aufschaute, der sich besorgt oder fragend über ihn bückte. Sein Körper besonders das rechte Bein war mit nachlässiger Jugendlichkeit gestreckt, er lag mehr als er saß. Die zwei deutlichen Linienpaare, welche die Beine begrenzten, kreuzten und verbanden sich leicht zu den Grenzlinien des Körpers. Mit schwacher Körperlichkeit wölbten sich zwischen diesen Linien die bleich gefärbten Kleider. Vor Erstaunen über diese schöne Zeichnung die mir im Kopfe eine Spannung erzeugte, die meiner Überzeugung nach dieselbe undzwar dauernde Spannung war, von der, wann ich wollte, der Bleistift in der Hand geführt werden könnte, zwang ich mich aus dem dämmernden Zustand heraus, um die Zeichnung besser durchdenken zu können. Da fand sich allerdings bald, dass ich mir nichts anderes vorgestellt hatte, als eine kleine Gruppe aus grauweißem Porcellan.

In Übergangszeiten, wie es für mich die letzte Woche und zumindest noch dieser Augenblick ist, erfaßt mich oft ein trauriges aber ruhiges Erstaunen über meine Gefühllosigkeit. Ich bin von allen Dingen durch einen hohlen Raum getrennt, an dessen Begrenzung ich mich nicht einmal dränge.

Jetzt am Abend, wo mir die Gedanken freier zu werden anfangen und ich vielleicht zu einigem fähig wäre, muß ich ins Nationalteater zu "Hippodamie", Uraufführung von Vrchlicky.

Sicher ist, dass mir der Sonntag niemals mehr nützen kann, als der Wochentag, da er durch seine besondere Einteilung alle meine Gewohnheiten durcheinanderwirft und ich die überschüssige freie Zeit nötig habe, um mich in diesem besondern Tag halbwegs einzurichten.

Meinem Verlangen eine Selbstbiographie zu schreiben, würde ich jedenfalls in dem Augenblick, der mich vom Bureau befreite, sofort nachkommen. Eine solche einschneidende Änderung müßte ich beim Beginn des Schreibens als vorläufiges Ziel vor mir haben, um die Masse der Geschehnisse lenken zu können. Eine andere erhebende Änderung aber als diese, die selbst so schrecklich unwahrscheinlich ist, kann ich nicht absehn. Dann aber wäre das Schreiben der Selbstbiographie eine große Freude, da es so leicht vor sich gienge, wie die Niederschrift von Träumen und doch ein ganz anderes, großes, mich für immer beeinflussendes Ergebnis hätte, das auch dem Verständnis und Gefühl eines jeden andern zugänglich wäre.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at