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[Tagebuch, 20. November 1911; Montag]

20. XI 11 Traum eines Bildes, angeblich von Ingres. Die Mädchen im Wald in tausend Spiegeln oder eigentlich: Die Jungfrauen u. s. w. Ähnlich gruppiert und luftig gezogen wie auf den Vorhängen der Teater war rechts im Bild eine Gruppe dichter beisammen nach links hin saßen und lagen sie auf einem riesigen Zweig oder einem fliegenden Band oder schwebend aus eigener Kraft in einer gegen den Himmel langsam ansteigenden Kette. Und nun spiegelten sie sich nicht nur gegen den Zuschauer hin sondern auch von ihm weg, wurden undeutlicher und vielfacher, was das Auge an Einzelheiten verlor gewann es an Fülle. Vorn aber stand ein von den Spiegelungen unbeeinflußtes nacktes Mädchen auf ein Bein gestützt mit vortretender Hüfte. Hier war Ingres Zeichenkunst zu bewundern, nur fand ich eigentlich mit Wohlgefallen, dass zuviel wirkliche Nacktheit auch für den Tastsinn an diesem Mädchen übriggeblieben war. Von einer durch sie verdeckten Stelle gieng ein Schimmer gelblich blassen Lichtes aus.

Sicher ist mein Widerwillen gegen Antithesen. Sie kommen zwar unerwartet, aber überraschen nicht, denn sie sind immer ganz nah vorhanden gewesen; wenn sie unbewußt waren, so waren sie es nur am äußersten Rande. Sie erzeugen zwar Gründlichkeit, Fülle, Lückenlosigkeit aber nur so wie eine Figur im Lebensrad; unsern kleinen Einfall haben wir im Kreis herumgejagt. So verschieden sie sein können, so nuancenlos sind sie, wie von Wasser aufgeschwemmt wachsen sie einem unter der Hand, mit der anfänglichen Aussicht ins Grenzenlose und mit einer endlichen mittlern immer gleichen Größe. Sie rollen sich ein,,sind nicht auszudehnen, geben keinen Anhaltspunkt, sind Löcher im Holz, sind stehender Sturmlauf, ziehn wie ich gezeigt habe Antithesen auf sich herab. Möchten sie nur alle auf sich herabziehn und für immer.

für das Drama: Englischlehrer Weiß, wie er mit geraden Schultern, die Hände stark in den Taschen, mit dem in Falten gespannten gelblichen Überrock einmal abend auf dem Wenzelsplatz über die Fahrbahn mit mächtigen Schritten knapp an der allerdings noch stehenden aber schon läutenden Elektrischen vorübereilt. Von uns weg.

E. Anna!

A. (aufschauend) Ja.

E. Komm her.

A. (große ruhige Schritte) Was willst Du?

E. Ich wollte Dir sagen, dass ich seit einiger Zeit mit Dir unzufrieden bin.

A. Aber!

E. Es ist so.

A. Dann mußt Du mir eben kündigen, Emil.

E. So rasch? Und Du fragst gar nicht nach der Ursache?.

A. Ich kenne sie.

E. So?

A. Das Essen schmeckt Dir nicht.

E. (steht rasch auf, laut) Weißt Du, dass Karl heute abend wegfahrt oder weißt Du es nicht?

A. (innerlich unbeirrt) Aber ja, leider fährt er weg, deshalb hast Du mich nicht herrufen müssen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at