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[Tagebuch, 12. November 1911; Sonntag]

12. XI 11 Sonntag. Gestern Conference Richepin "La legende de Napoleon" im Rudolphinum. Ziemlich leer. Wie zur Prüfung der Manieren des Vortragenden ist auf dem Weg vom Eingangstürchen zum Vortragstisch ein großes Klavier aufgestellt. Der Vortragende kommt herein, will mit dem Blick ins Publikum auf dem kürzesten Weg zu seinem Tisch, kommt daher dem Piano zu nahe, staunt, tritt zurück und umgeht es sanft, ohne mehr ins Publikum zu schauen. In der Begeisterung des Abschlusses seiner Rede und im großen Beifall hat er an das Piano natürlich längst vergessen, da es sich während des Vortrags nicht bemerkbar gemacht hat, er will möglichst spät die Hände auf der Brust dem Publikum den Rücken kehren, macht daher einige elegante Schritte seitwärts, stößt natürlich ein wenig an das Piano und muß auf den Fußspitzen den Rücken ein wenig durchbiegen, ehe er wieder in freies Terrain kommt. So hat es wenigstens Richepin gemacht. - Ein großer starker Fünfziger mit Taille. Die steif umherwirbelnde Frisur Daudets z. B. ist ohne zerstört zu sein, ziemlich fest an den Schädel gedrückt. Wie bei allen alten Südländern, die eine dicke Nase und das zu ihr gehörige breite faltige Gesicht haben, aus deren Nasenlöchern ein starker Wind wie durch Pferdeschnauzen gehn kann und denen gegenüber man genau weiß, dass dies der nicht mehr zu überholende, aber noch lang andauernde Endzustand ihres Gesichtes ist, erinnerte mich auch sein Gesicht an das Gesicht einer alten Italienerin hinter einem allerdings sehr natürlich gewachsenem Bart. - Die neu gestrichene hellgraue Farbe des hinter ihm aufsteigenden Concertpodiums beirrte anfangs. Das weiße Haar klebte sich förmlich an dieser Farbe fest und ließ keine Kontur zu. Wenn er den Kopf zurückbeugte kam die Farbe in Bewegung, sein Kopf versank fast in ihr. Erst gegen die Mitte des Vortrags als sich die Aufmerksamkeit ganz koncentrierte, hörte die Störung auf, besonders als er beim Recitieren mit dem großen schwarzgekleideten Körper aufstand und mit geschwungenen Händen die Verse führte und die graue Farbe verjagte. - Am Anfang war er zum verlegen werden, so sehr machte er Komplimente nach allen Seiten. Bei der Erzählung von einem napoleonischen Soldaten, den er noch gekannt und der 57 Wunden gehabt hatte, bemerkte er, die Mannigfaltigkeit der Farben auf dem Oberkörper dieses Mannes hätte nur ein großer Colorist wie sein anwesender Freund Mucha nachahmen können. - Ich bemerkte an mir ein Fortschreiten im Ergriffensein durch Menschen auf dem Podium. Ich dachte nicht an meine Schmerzen und Sorgen. Ich war in die linke Ecke meines Fauteuils eigentlich aber in den Vortrag hineingedrückt, die gefalteten Hände zwischen den Knien. Ich spürte eine Wirkung Richepins auf mich, wie sie Salomo hat spüren müssen, als er junge Mädchen ins Bett nahm. Ich hatte sogar eine leichte Vision Napoleons, der in einer systematischen Phantasie auch aus dem Eingangstürchen trat, trotzdem er doch aus dem Holz des Podiums oder aus der Orgel hätte treten können. Er drückte den ganzen Saal, der in diesen Augenblicken dicht gefüllt war nieder. So nah ich ihm eigentlich war, ich hatte und hätte auch in Wirklichkeit niemals Zweifel an seiner Wirkung gehabt. Ich hätte jede Lächerlichkeit seines Aufzuges vielleicht bemerkt, wie auch bei Richepin, aber dieses Bemerken hätte mich nicht gestört. Wie kühl war ich dagegen als Kind! Ich wünschte mir oft dem Kaiser entgegengestellt zu werden, um ihm seine Wirkungslosigkeit zu zeigen. Und das war nicht Mut, nur Kühle. - Gedichte recitierte er, wie Reden in der Kammer. Er schlug auf den Tisch, als ohnmächtiger Zuseher von Schlachten, mit schwingenden gestreckten Armen machte er den Garden eine Gasse mitten durch den Saal, empereur rief er nur mit dem gehobenen zur Fahne gewordenem Arm und gab ihm in einer Wiederholung förmlich das Echo durch ein unten in der Ebene rufendes Heer. Bei einer Schlachtbeschreibung stieß irgendwo ein Füßchen auf den Boden auf, man sah nach, es war sein Fuß, der sich zu wenig getraut hatte. Es störte ihn aber nicht. - Bei den Grenadieren, die er in einer Übersetzung von Gerard de Nerval vorlas und besonders ehrte war am wenigsten Beifall. - In seiner Jugend wurde das Grab Napoleons einmal im Jahr geöffnet und den Invaliden, die im Zug vorübergeführt wurden, wurde das einbalsamierte Gesicht gezeigt, mehr ein Anblick des Schreckens als der Bewunderung, weil das Gesicht aufgedunsen und grünlich war; man schaffte daher später dieses Graböffnen ab. Richepin sah das Gesicht aber noch auf dem Arm seines Großonkels, der in Afrika gedient hatte und für den der Kommandant das Grab eigens öffnen ließ. - Ein Gedicht, das er recitieren will (er hat ein untrügliches Gedächtnis, wie es bei starkem Temperament eigentlich immer vorhanden sein muß) kündigt er lange vorher an, bespricht es, die künftigen Verse machen schon ein kleines Erdbeben unter diesen Worten, beim ersten Gedicht sagte er sogar er werde es mit seinem ganzen Feuer vortragen. Es geschah. - Beim letzten Gedicht hatte er dann die Steigerung unvermerkt in die Verse zu kommen (Verse von Viktor Hugo) langsam aufzustehen, auch nach den Versen sich nicht mehr zu setzen, die großen Recitationsbewegungen mit der letzten Gewalt seiner Prosa aufzunehmen und zu erhalten. Er schloß mit dem Schwur, dass auch nach 1000 Jahren jedes Stäubchen seines Leichnams, falls es Bewußtsein hätte, bereit sein würde, dem Rufe Napoleons zu folgen. - Das Französisch kurzatmig mit seinen rasch aufeinanderfolgenden Ventilen hielt selbst den einfältigsten Improvisationen stand, zerriß nicht einmal dann wenn er öfters von den Dichtern sprach die das Alltagsleben verschönen, von seiner Phantasie (Augen geschlossen) als der eines Dichters, von seinen Hallucinationen (Augen widerwillig in die Ferne aufgerissen) als denen eines Dichters u. s. w. Hiebei verhüllte er auch manchmal die Augen und enthüllte sie langsam einen Finger nach dem andern wegführend. - Er hat gedient, sein Onkel in Afrika, sein Großvater unter Napoleon, er sang sogar 2 Zeilen eines Kriegsliedes. -

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at