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[Tagebuch, 6. Oktober 1911; Freitag]

6 (Oktober 1911) Die zwei alten Männer vorn bei dem langen Tisch an der Bühne. Der eine stützt sich mit beiden Armen auf den Tisch und hat nur sein Gesicht, dessen falsche gedunsene Röte mit einem unregelmäßig viereckigen, verfilzten Bart darunter sein Alter traurig verheimlicht, rechts zur Bühne emporgewendet, während der andere der Bühne gerade gegenüber sein vom Alter richtig trockengewordenes Gesicht frei vom Tisch zurückhält, an den er sich nur mit dem linken Arm lehnt, und seinen rechten Arm in der Luft gebogen hält um die Melodie besser zu genießen, der seine Fußspitzen folgen und der die kurze Pfeife in seiner Rechten schwach nachgibt. "Tateleben, so sing doch mit" ruft die Frau bald dem ersten bald dem zweiten zu, indem sie sich ein wenig bückt und die Arme antreibend vorstreckt.

- Die Melodien sind dazu geeignet, jeden aufspringenden Menschen aufzufangen und ohne zu zerreißen seine ganze Begeisterung zu umfassen, wenn man schon einmal nicht glauben will, dass sie sie ihm geben. Denn besonders die 2 im Kaftan eilen zum Singen hin, als strecke es ihnen den Leib nach seinem eigentlichsten Bedürfnis und das Händezusammenschlagen während des Gesanges zeigt offenbar das beste Wohlsein des Menschen im Schauspieler an. - Die Kinder des Wirtes in einer Ecke bleiben mit der Frau Klug auf der Bühne in kindlicher Beziehung und singen mit, den Mund zwischen den sich aufstülpenden Lippen voll von der Melodie.

Das Stück: Seidemann, ein reicher Jude, hat sich in offenbarer Verdichtung aller seiner verbrecherischen Instinkte auf dieses Ziel hin, taufen lassen schon vor zwanzig Jahren und hat seine Frau damals, da sie sich zur Taufe nicht zwingen ließ, vergiftet. Seitdem hat er sich angestrengt, den Jargon zu vergessen, der freilich ohne Absicht in seiner Rede unten mitklingt, und äußert besonders am Anfang damit es sich die Zuhörer merken und weil die herankommenden Vorgänge dazu noch Zeit lassen immerfort einen großen Ekel vor allem Jüdischen. Seine Tochter hat er für den Officier Dragomirow bestimmt, während sie, die ihren Vetter den jungen Edelmann liebt, in einer großen Szene sich in einer ungebräuchlichen erst in der Taille gebrochenen steinernen Stellung aufrichtend ihrem Vater erklärt, dass sie fest am Judentum halte, und die einen ganzen Akt mit einem verächtlichen Lachen über den ihr angetanen Zwang beendet. [Die Christen des Stückes sind: ein braver polnischer Diener Seidemanns, der später zu seiner Entlarvung beiträgt, brav vor allem deshalb weil um Seidemann die Gegensätze versammelt sein müssen, der Officier, mit dem sich das Stück, abgesehen von der Darstellung seiner Verschuldung wenig abgibt, weil er als vornehmer Christ niemanden interessiert, ebenso wie ein später auftretender Gerichtspräsident und endlich ein Gerichtsdiener, dessen Bösartigkeit über die Anforderung seiner Stellung und der Lustigkeit der 2 Kaftanleute nicht hinausgeht, trotzdem ihn Max einen Pogromisten nennt.] Dragomirow kann aber aus irgendwelchen Gründen nur heiraten, wenn seine Wechsel ausgelöst werden, die der alte Edelmann besitzt, die dieser aber, trotzdem er vor der Abreise nach Palästina steht und trotzdem sie Seidemann mit Bargeld bezahlen will, nicht hergibt. Die Tochter ist gegen den verliebten Officier stolz und rühmt sich ihres Judentums trotzdem sie getauft ist, der Officier weiß sich nicht zu helfen und sieht, die Arme schlaff die Hände unten lose verschlungen, hilfesuchend den Vater an. Die Tochter entflieht zu Edelmann, sie will den Geliebten heiraten, wenn auch vorläufig im Geheimen, da ein Jude nach dem weltlichen Gesetz eine Christin nicht heiraten darf und sie offenbar ohne Zustimmung ihres Vaters nicht zum Judentum übergehn kann. Der Vater kommt hin, sieht ein, dass ohne List alles verloren wäre und gibt äußerlich seinen Segen zu dieser Ehe. Alle verzeihen ihm, ja fangen ihn so zu lieben an, als wären' sie im Unrecht gewesen, sogar der alte Edelmann und er besonders, trotzdem er weiß, dass Seidemann seine Schwester vergiftet hat. (Diese Lücke ist vielleicht durch eine Kürzung entstanden, vielleicht aber auch dadurch, dass das Stück hauptsächlich mündlich von einer Schauspielertruppe zur andern verbreitet ist) Durch diese Versöhnung erlangt Seidemann vor allem die Wechsel des Dragomirov, denn "weißt Du" sagt er "ich will nicht, dass dieser Dragomiriv schlecht von den Juden spricht" und Edelmann gibt sie ihm umsonst, dann ruft ihn Seidemann zur Portiere im Hintergrund, angeblich um ihm etwas zu zeigen, und sticht ihm von hinten ein Messer durch den Schlafrock tötlich in den Rücken. (Zwischen der Versöhnung und dem Mord war Seidemann eine Zeitlang von der Bühne entfernt, um sich den Plan auszudenken und das Messer zu kaufen) Dadurch will er den jungen Edelmann an den Galgen bringen, denn auf ihn muß der Verdacht fallen, und seine Tochter wird frei für Dragomirov. Er entläuft, Edelmann liegt hinter der Portiere. Die Tochter tritt mit dem Brautschleier auf, am Arm des jungen Edelmann der das Gebethemd angezogen hat. Der Vater ist wie sie sehn leider noch nicht da. Seidemann kommt und scheint glücklich über den Anblick des Brautpaares. Da erscheint ein Mann, vielleicht Dragomirov

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at