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[Tagebuch, 21. Februar 1911; Dienstag]

21. II 11 Mein Leben hier ist so, als wäre ich eines zweiten Lebens ganz gewiß, so wie ich z. B. den mißlungenen Aufenthalt in Paris im Hinblick darauf verschmerzte, dass ich danach streben werde bald wieder hinzukommen. Hiebei der Anblick der scharf getrennten Licht- und Schattenpartien auf dem Gassenpflaster.

Einen Augenblick fühlte ich mich umpanzert.

Wie fern sind mir z. B. die Armmuskeln.

Marc Henry - Delvard. Das durch den leeren Saal erzeugte tragische Gefühl im Zuschauer begünstigt die Wirkung ernster Lieder, schadet den lustigen. - Henry prologiert, unterdes die Delvard hinter einem Vorhang, der, was sie nicht weiß durchscheinend ist sich die Haare ordnet. - Wetzler der Veranstalter scheint bei schlechtbesuchten Veranstaltungen seinen assyrischen Bart, der sonst tiefschwarz ist, graumeliert zu tragen. - Gut sich von so einem Temperament anblasen zu lassen, das hält für 24 Stunden, nein nicht solange. - Viel Kleideraufwand, bretonische Kostüme, der unterste Unterrock ist der längste, so dass man den Reichtum von der Ferne zählen kann. - Zuerst begleitet die Delvard, weil man einen Begleiter sparen wollte, in einem weiten ausgeschnittenen grünen Kleid und friert. - Pariser Straßenrufe. Zeitungsausträger sind ausgelassen. - Jemand spricht mich an, ehe ich aufatme bin ich verabschiedet. - Delvard ist lächerlich, sie hat das Lächeln alter Jungfern, eine alte Jungfer des deutschen Kabarets, mit einem roten Shawl, den sie sich hinter dem Vorhang holt, macht sie Revolution, Gedichte von Dauthendey mit der gleichen zähen nicht zu zerhackenden Stimme. Nur wie sie frauenhaft anfangs am Klavier saß, war sie lieb. - Bei dem Lied "a Batignolles" spürte ich Paris im Hals. Batignolles soll rentnerhaft sein, auch seine Apachen. Bruant hat jedem Quartier sein Lied gemacht.

Die städtische Welt.

Oskar M. ein älterer Student - wenn man ihn nahe ansah, erschrak man vor seinen Augen - blieb an einem Winternachmittag mitten im Schneefall auf einem leeren Platze stehn in seinen Winterkleidern mit dem Winterrock darüber einem Shawl um den Hals und einer Fellmütze auf dem Kopf. Er zwinkerte mit den Augen vor Nachdenken. So sehr hatte er sich in Gedanken verlassen, dass er einmal die Mütze abnahm und mit ihrem krausen Fell sich über das Gesicht strich. Endlich schien er zu einem Schluß gekommen und wendete sich mit einer Tanzdrehung zum Heimweg. Als er die Tür des elterlichen Wohnzimmers öffnete, sah er seinen Vater einen glattrasierten Mann mit schwerem Fleischgesicht der Tür zugekehrt an einem leeren Tische sitzen. "Endlich" sagte dieser kaum dass Oskar den Fuß ins Zimmer gesetzt hatte bleib ich bitte Dich bei der Tür, ich habe nämlich eine solche Wut auf Dich, dass ich meiner nicht sicher bin. Aber Vater sagte Oskar und merkte erst beim Reden wie er gelaufen war. Ruhe schrie der Vater und stand auf, wodurch er ein Fenster verdeckte. Ruhe befehle ich. Und Deine Aber laß Dir, verstehst Du. Dabei nahm er den Tisch mit beiden Händen und trug ihn einen Schritt Oskar näher. Dein Lotterleben ertrage ich einfach nicht länger. Ich bin ein alter Mann. In Dir dachte ich einen Trost des Alters zu haben, indessen bist Du für mich ärger als alle meine Krankheiten. Pfui über einen solchen Sohn, der durch Faulheit, Verschwendung, Bosheit, und Dummheit seinen alten Vater ins Grab drängt. Hier verstummte der Vater, bewegte aber sein Gesicht, als rede er noch. Lieber Vater sagte Oskar und gieng vorsichtig dem Tisch zu, beruhige Dich, alles wird gut werden. Ich habe heute einen Einfall gehabt, der mich zu einem tätigen Menschen machen wird, wie Du es Dir nur wünschen kannst. Wie das? fragte der Vater und sah in eine Zimmerecke. Vertraue mir nur, beim Abendessen werde ich Dir alles erklären. In meinem Innern war ich immer ein guter Sohn, nur dass ich es nach außen nicht zeigen konnte, verbitterte mich so, dass ich Dich lieber ärgerte, wenn ich Dich schon nicht erfreuen konnte. Jetzt aber laß mich noch ein wenig spazieren gehn damit sich meine Gedanken klarer entwickeln. Der Vater, der sich zuerst aufmerksam werdend auf den Tischrand gesetzt hatte, stand auf: Ich glaube nicht, dass das, was Du jetzt gesagt hast viel Sinn hat, ich halte es eher für Geschwätz. Aber schließlich bist Du mein Sohn - Komm rechtzeitig wir werden zuhause nachtmahlen und Du kannst Deine Sache dann vortragen. Dieses kleine Vertrauen genügt mir, ich bin Dir dafür vom Herzen dankbar. Aber ist es denn nicht schon an meinen Blicken zu sehn, dass ich mit einer ernsten Sache vollkommen beschäftigt bin? Ich sehe vorläufig nichts sagte der Vater. Aber es kann auch meine Schuld sein, denn ich bin aus der Übung gekommen, Dich überhaupt anzusehn. Dabei machte er, wie es seine Gewohnheit war, durch regelmäßiges Beklopfen der Tischplatte darauf aufmerksam, wie die Zeit vergieng. Die Hauptsache aber ist, dass ich gar kein Vertrauen mehr zu Dir habe Oskar. Wenn ich Dich einmal anschreie - wie Du gekommen bist, habe ich Dich doch angeschrien? nicht wahr? - so tue ich das nicht in der Hoffnung, es könnte Dich bessern, ich tue es nur in Gedanken an Deine arme gute Mutter, die jetzt vielleicht noch kein unmittelbares Leid über Dich verspürt, aber schon an der Anstrengung, ein solches Leid abzuwehren, denn sie glaubt Dir dadurch irgendwie zu helfen, langsam zugrundegeht. Aber schließlich sind das ja Sachen die Du sehr gut weißt und ich hätte schon aus Rücksicht auf mich nicht wieder an sie erinnert, wenn Du mich durch Deine Versprechungen nicht dazu gereizt hättest. Während der letzten Worte trat das Dienstmädchen ein, um nach dem Feuer im Ofen zu sehn. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als Oskar ausrief: Aber Vater! Ich hätte das nicht erwartet. Wenn ich nur einen kleinen Einfall gehabt hätte, sagen wir, einen Einfall zu meiner Dissertation, die ja doch schon 10 Jahre in meinem Kasten liegt und Einfälle braucht wie Salz so ist möglich wenn auch nicht wahrscheinlich, dass ich wie es heute geschehen ist, vom Spaziergang nach Hause gelaufen wäre und gesagt hätte: Vater ich habe glücklicherweise diesen und diesen Einfall. Wenn Du daraufhin mit Deiner ehrwürdigen Stimme die Vorwürfe von vorhin mir ins Gesicht gesagt hättest, dann wäre mein Einfall einfach weggeblasen gewesen und ich hätte sofort mit irgendeiner Entschuldigung oder ohne solche abmarschieren müssen. Jetzt dagegen! Alles was Du gegen mich sagst, hilft meinen Ideen, sie hören nicht auf, stark werdend füllen sie mir den Kopf. Ich werde gehn, weil ich nur im Alleinsein Ordnung in sie bringen kann. Er schluckte an seinem Athem in dem warmen Zimmer. Es kann ja auch eine Lumperei sein, die Du im Kopf hast sagte der Vater mit großen Augen dann glaube ich schon, dass sie Dich festhält. Wenn sich aber etwas Tüchtiges in Dich verirrt hat, entlauft es Dir über Nacht. Ich kenne Dich. Oskar drehte den Kopf, als halte man ihn am Halse. Laß mich jetzt. Du bohrst überflüssiger Weise in mich hinein. Die bloße Möglichkeit, dass Du mein Ende richtig voraussagen kannst, sollte Dich wahrhaftig nicht dazu verlocken, mich in meiner guten Überlegung zu stören. Vielleicht gibt Dir meine Vergangenheit das Recht dazu, aber Du solltest es nicht ausnützen. Da siehst Du am besten, wie groß Deine Unsicherheit sein muß, wenn sie Dich dazu zwingt, so gegen mich zu sprechen. Nichts zwingt mich sagte Oskar und zuckte im Genick. Er trat auch ganz eng an den Tisch heran, so dass man nicht mehr wußte wem er gehörte. Was ich sagte, sagte ich in Ehrfurcht und sogar aus Liebe zu Dir, wie Du später noch sehen wirst, denn an meinen Entschlüssen hat die Rücksichtnahme auf Dich und Mama den größten Anteil. Da muß ich Dir schon jetzt danken sagte der Vater da es ja sehr unwahrscheinlich ist, dass Deine Mutter und ich im rechten Augenblick noch dessen fähig sein werden. Bitte Vater laß doch die Zukunft noch schlafen, wie sie es verdient. Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt, bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart. Daß Dir das aber erst Dein Sohn sagen muß. Auch wollte ich Dich ja noch nicht überzeugen, sondern Dir nur die Neuigkeit melden. Und das wenigstens ist mir, wie Du selbst zugeben mußt gelungen. Jetzt Oskar wundert mich eigentlich noch eins: warum Du mit einer solchen Sache wie heute nicht schon öfters zu mir gekommen bist. Sie entspricht so Deinem bisherigen Wesen. Nein tatsächlich, es ist mein Ernst.

Ja hättest Du mich dann durchgehaut statt mir zuzuhören. Ich bin hergelaufen, das weiß Gott, um Dir rasch eine Freude zu machen. Verraten kann ich Dir aber nichts solange mein Plan nicht vollständig fertig ist. Warum strafst Du mich also für meine gute Absicht und willst von mir Erklärungen haben, die jetzt noch der Ausführung meines Planes schaden könnten.

Schweig ich will gar nichts wissen. Aber ich muß Dir sehr rasch antworten, weil Du Dich zur Tür zurückziehst und offenbar etwas sehr Dringendes vorhast: Meine erste Wut hast Du mit Deinem Kunststück beruhigt, - nur mir ist jetzt noch trauriger zu Mut als früher und deshalb bitte ich Dich - wenn Du darauf bestehst kann ich auch die Hände falten - sage wenigstens der Mutter nichts von Deinen Ideen. Laß es mit mir genug sein.

Das ist ja nicht mein Vater der so mit mir spricht rief Oskar, der den Arm schon auf die Türklinke gelegt hatte. Es ist seit Mittag etwas mit Dir vorgegangen oder Du bist ein fremder Mensch, dem ich jetzt zum erstenmal im Zimmer meines Vaters begegne. Mein wirklicher Vater - Oskar schwieg einen Augenblick mit offenem Mund - er hätte mich doch umarmen müssen, er hätte die Mutter hergerufen. Was hast Du Vater?

Du solltest lieber mit Deinem wirklichen Vater nachtmahlen, mein ich. Es würde vergnügter zugehn.

Er wird schon kommen. Schließlich kann er nicht ausbleiben. Und die Mutter muß dabei sein. Und Franz den ich jetzt hole. Alle. Darauf drängte Oskar mit der Schulter gegen die leicht aufgehende Türe, als habe er sich vorgenommen, sie einzudrücken.

In Franzens Wohnung angekommen beugte er sich zur kleinen Hauswirtin mit den Worten: Der Herr Ingenieur schläft ich weiß, das macht nichts, und ohne sich um die Frau zu kümmern, die aus Unzufriedenheit mit dem Besuch nutzlos im Vorzimmer auf und ab gieng, öffnete er die Glastür, die als sei sie an einer empfindlichen Stelle gefaßt in seiner Hand erzitterte und rief unbekümmert um das Innere des Zimmers, das er noch kaum sah: Franz, aufstehn. Ich brauch Deinen fachmännischen Rat. Aber hier im Zimmer halte ich es nicht aus, wir müssen ein bischen spazierengehn, Du mußt auch bei uns nachtmahlen. Also rasch. Sehr gern sagte der Ingenieur von seinem Lederkanapee her aber was zuerst aufstehn nachtmahlen spazierengehn, Ratgeber Einiges werde ich auch überhört haben. Vor allem keine Witze machen Franz. Das ist das Wichtigste, das habe ich vergessen. Den Gefallen mach ich Dir sofort. Aber das Aufstehn - Ich würde lieber zweimal für Dich nachtmahlen als einmal aufstehn. Also jetzt auf! Keine Widerrede. Oskar faßte den schwachen Menschen vorn beim Rock und setzte ihn auf. Du bist aber rabiat weißt Du. Alle Achtung. Er wischte sich mit beiden kleinen Fingern die geschlossenen Augen aus. Sag. Hab ich dich schon einmal so vom Kanape gerissen. Aber Franz sagte Oskar mit verzogenem Gesicht zieh Dich schon an. Ich bin doch kein Narr, dass ich Dich ohne Grund geweckt hätte. - Ebenso habe ich auch nicht ohne Grund geschlafen. Ich habe gestern Nachtdienst gehabt, dann bin ich heute schon um meinen Mittagsschlaf gekommen, auch Deinetwegen - Wieso? Ach was, es ärgert mich schon, wie wenig Rücksicht Du auf mich nimmst. Es ist nicht das erste Mal. Natürlich Du bist ein freier Student und kannst machen was Du willst. Jeder ist nicht so glücklich. Da muß man doch Rücksichten nehmen, zum Kuckuck. Ich bin zwar Dein Freund, aber deshalb hat man mir noch meinen Beruf nicht abgenommen. - Er zeigte das durch Hin- und Herschütteln der flachen Hände. Muß ich aber nach Deinem jetzigen Mundwerk nicht glauben, dass Du mehr als genug ausgeschlafen bist sagte Oskar der sich auf einen Bettpfosten hinaufgezogen hatte von wo er den Ingenieur ansah als habe er schon etwas mehr Zeit wie früher. Also was willst Du eigentlich von mir? oder besser gesagt warum hast Du mich geweckt fragte der Ingenieur und rieb sich stark den Hals unter seinem Ziegenbart in dieser nähern Beziehung, die man nach dem Schlaf zu seinem Körper hat. Was ich von Dir will sagte Oskar leise und gab dem Bett einen Stoß mit dem Fußabsatz. Sehr wenig. Ich habe es Dir doch schon aus dem Vorzimmer gesagt: dass Du Dich anziehst. Wenn Du damit Oskar andeuten willst, dass mich Deine Neuigkeit sehr wenig interessiert, so hast Du ganz recht. Das ist ja gut, so wird das Feuer, in das sie Dich setzen wird, ganz auf ihre eigene Rechnung gehn, ohne dass sich unsere Freundschaft eingemischt hätte. Die Auskunft wird auch klarer sein, ich brauche klare Auskunft, das halte Dir vor Augen. Wenn Du aber vielleicht Kragen und Kravatte suchst, sie liegen dort auf dem Sessel. Danke sagte der Ingenieur, und fieng an Kragen u. Kravatte zu befestigen auf Dich kann man sich halt doch verlassen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at