Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Reisetagebuch Lugano-Paris-Erlenbach, 20. September 1911; Mittwoch]

20. (September 1911) kameradschaftlicher Verkehr alter Frauen im Coupee. Erzählungen von alten Frauen, die von Automobilen überfahren wurden, ihre Mittel auf der Reise: niemals Sauce essen, das Fleisch herausnehmen, die Augen während der Fahrt geschlossen halten, aber dabei reden, zum Obst Brot essen, kein hartes Kalbfleisch, Herren bitten, einen über die Gassen hinüber zu führen, Kirschen sind das schwerste Obst, die Rettung der alten Frau.

Siamesenkoupee im Mailänder Bahnhof

Junges italienisches Ehepaar im Zug nach Stresa mischt sich mit einem andern im Zug nach Paris. Ein Ehemann ließ sich nur küssen und gab beim Hinausschaun aus dem Fenster nur seine Schulter für ihre Wange her. Als er in der Hitze den Rock auszog und die Augen schloß schien sie ihn genauer anzusehn. Hübsch war sie nicht, sie hatte nur dünnes Lockenhaar um das Gesicht. Die andere aber mit dem Schleier, von dessen blauen Tupfen einer öfters ein Auge verdeckte, deren Nase zu bald abgeschnitten schien, deren Falten um den Mund jugendliche Falten waren, für die Zwecke ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit. Ihre Augen fuhren, wenn sie das Gesicht senkte, hin und her, wie ich es bei uns nur bei Leuten mit Augengläsern gesehn habe.

[Bemühungen aller Franzosen mit denen man in Berührung kommt, schlechtes Französisch wenigstens für den Augenblick zu verbessern.]

Junger, schlecht rasierter Geistlicher mit dem Ansichtskartenreisenden, der zu Dutzenden gepackte Karten vorzeigt, die der Geistliche bespricht. Ich schaue ihn, auch ein wenig durch die Hitze beeinflußt so aufmerksam an, dass ich ihm schließlich mit dem ganzen Stiefelabsatz in die Kutte trete. Niente sagt er und spricht weiter immer mit starkem durch italienische Ah! angezeigtem Athemzusetzen.

Mit den unsichern Entschlüssen bezüglich des Hotels im Innern unseres Wagens sitzend scheinen wir auch den Wagen unsicher zu kutschieren, einmal in eine Nebengasse zu führen, dann ihn wieder in die Hauptrichtung zurückzuziehn und das im Vormittagsverkehr der rue de Rivoli in der Nähe der Halles

Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick, wie wenn ich

Darstellung der allmählichen Verbesserungen der Cafe Biard Frühstücke

Euripides - König von Griechenland

Bettina und Oberst im Teater: Darf Bettina den Kopf auf Deinen Arm legen? Wenn Bettina keine Läuse hat.

Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick wie wenn ich jetzt in diesem Zimmer erwacht wäre, während ich doch von der Nachtfahrt so müde bin, dass ich nicht weiß, ob ich es imstande sein werde für den ganzen Tag in diese Gassen hinauszulaufen, besonders wie ich sie jetzt von oben aus, noch ohne mich sehe.

Anfang der Pariser Mißverständnisse. Max kommt in mein Hotelzimmer herauf und ist darüber aufgeregt, dass ich noch nicht fertig bin und mir das Gesicht wasche, während ich früher doch gesagt hätte, dass wir uns nur ein wenig waschen und gleich weggehn sollen. Da ich mit Wenigwaschen nur das Waschen des ganzen Körpers ausgeschlossen, dagegen damit gerade das Waschen des Gesichtes gemeint habe und damit eben noch nicht fertig bin, verstehe ich seine Vorwürfe nicht und wasche das Gesicht weiter wenn auch nicht so genau wie früher, während sich Max mit dem ganzen Schmutz der Nachtfahrt in seinen Kleidern auf mein Bett setzt, um zu warten. Er hat die Gewohnheit und führt sie auch jetzt vor beim Vorwürfemachen den Mund aber auch das ganze Gesicht süßlich zusammenzuziehn, als suche er dadurch einerseits das Verständnis seiner Vorwürfe zu befördern und als wolle er andererseits zeigen, dass nur dieses süßliche Gesicht, das er gerade hat, ihn davon abhalte mir eine Ohrfeige zu geben. Darin dass ich ihn zu diesem Heuchlerischen gegen seine Natur zwinge liegt noch ein eigener Vorwurf, den er mir dann zu machen scheint wenn er verstummt und sein Gesicht um sich von dem Süßlichen zu erholen, in der entgegengesetzten Richtung also vom Mund weg sich auseinanderspannt, was natürlich viel stärker wirkt als das erste Gesicht. Ich dagegen verstehe es - so war es auch in Paris - so vor Müdigkeit in mich zurückgefallen zu sein, dass mich der Einfluß solcher Gesichter überhaupt nicht erreicht, weshalb ich dann in meinem Jammer so mächtig sein kann, geradewegs aus der vollkommensten Gleichgiltigkeit und ohne jedes Schuldgefühl mich ihm gegenüber entschuldigen zu können. Das beruhigte ihn damals in Paris wenigstens scheinbar so, dass er mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor allem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur wie frisch er war, wie er sicher zu irgendeinem Paris paßte das ich gar nicht bemerkte, wie er jetzt aus seinem dunklen Hinterzimmer kommend zum erstenmal seit einem Jahr in der Sonne auf einen Pariser Balkon trat und sich dessen würdig bewußt war, während ich leider deutlich müder war, als bei meinem ersten Hinaustreten auf den Balkon ein Weilchen vor Maxens Kommen. Und meine Müdigkeit in Paris kann nicht durch Ausschlafen sondern nur durch Wegfahren beseitigt werden. Manchmal halte ich das sogar für eine Eigentümlichkeit von Paris.

Ich habe das eigentlich ohne Widerwillen geschrieben, auf den Fersen war er mir aber bei jedem Wort

Ich bin zuerst gegen die Cafe Biard, weil ich glaube dass man dort nur schwarzen Kafe bekommt. Es zeigt sich dass auch Milch zu haben ist, wenn auch nur mit schlechtem schwammigem Gebäck. Es ist fast die einzige Verbesserung die mir für Paris eingefallen ist, dass man besseres Gebäck in diesen Cafes anschaffen soll. Später komme ich darauf vor dem Frühstück, während Max schon sitzt, in den Seitengassen herumzulaufen und Obst zu suchen. Auf dem Weg zum Cafe esse ich immer ein bißchen weg, damit Max nicht zusehr staunt. Als wir in einem guten Cafeehaus bei der Station der Vers. Dampfbahn den gelungenen Versuch machen Apfelstrudel und Mandelgebäck aus einer Bäckerei unter den Augen eines über uns in der Tür lehnenden Kellners aufzuessen, führen wir das auch im Cafe Biard ein und finden, dass man dadurch abgesehen vom Genuß des feinen Gebäcks zum deutlichernGenuß des eigentlichen Vorteils dieser Cafee kommt, nämlich des vollständigen Unbeachtetseins bei ziemlich leerem Lokal, guter Bedienung, nahe allen Menschen hinter dem Pult und vor der immer geöffneten Ladentür. Nur muß man sich damit abfinden, wenn der Boden gekehrt wird, was wegen des unmittelbar von der Gasse hereinkommenden an dem Pult sich hin und herschiebenden Besuches häufig geschieht und wobei auch von der Gewohnheit nicht abgesehen wird die Gäste nicht zu beachten.

Beim Anblick der kleinen Bars auf der Versailler Dampfbahnstrecke scheint es für ein junges Ehepaar leicht, eine solche Bar zu eröffnen und dabei ein ausgezeichnetes interessantes, risikoloses nur zu bestimmten Tageszeiten anstrengendes Leben zu führen. Sogar auf den Boulevards werden zwischen zwei Seitengassen an der Spitze eines keilförmigen Häuserblocks solche billige Bars im Seitendunkel herangeschoben.

Die Gäste in kalkbespritzten Hemden um die Tischchen der Vorstadtgasthäuser.

Das Rufen einer Frau mit einem kleinen Bücherhandwagen am Abend auf dem Boulevard Poissoniere: Blättert, blättert meine Herren, sucht Euch aus, alles was daliegt wird verkauft. Ohne zum Einkaufen zu drängen ohne auch aufdringlich hinzusehn nennt sie innerhalb ihres Rufens gleich den Preis des Buches, das einer der Umstehenden in die Hand nimmt. Sie scheint nur zu verlangen dass rascher geblättert wird, rascher die Bücher in den Händen wechseln, was man verstehn kann wenn man zusieht, wie hie und da einer, z. B. ich, langsam ein Buch aufhebt, langsam und wenig drin blättert, langsam es hinlegt und endlich langsam weggeht. Das ernste Nennen der Preise von Büchern, deren Unanständigkeit so lächerlich ist, dass man sich einen Kaufabschluß unter den Augen des ganzen Publikums zuerst nicht vorstellen kann.

Um wie viel mehr Entschlußkraft das Kaufen eines Buches vor dem Laden als drinnen verlangt, weil dieses Aussuchen eigentlich nur ein freies Überlegen ist bei zufälliger Gegenwart der ausliegenden Bücher

Sitzen auf den zwei einander zugewendeten Sesselchen in den Champs Elysees. Viel zu lang aufbleibende Kinder spielen noch im Halbdunkel, in dem sie die von ihnen in den Sand gezogenen Striche nicht mehr gut sehn.

Die geschlossene Badeanstalt mit einer in der Erinnerung türkisch wirkenden Außenbemalung. Sie ist eisengrau beleuchtet mitten am Nachmittag, weil Sonnenlicht nur durch die Lücken der oben ausgespannten Tücher in einer Ecke mit einzelnen Strahlen kommt und unten das Flußwasser das Ganze verdunkeln hilft. Großer Raum. In einer Ecke eine Bar. Die Schwimmeister jagen hier und drüben das Bassin entlang laufend einander die Kundschaften ab. Sie treten an den Besucher vor seiner Kabine von der Seite drohend heran und verlangen mit unverständlichen aber beharrlichen Reden ein Sperrgeld. Ein Verlangen in unverständlicher Sprache scheint mir diskret vorgebracht. Grand bains du pont Royal. In den Ecken stehn auf den Stufen Leute die sich gründlich mit Seife abwaschen. Das Seifenwasser um sie herum rührt sich nicht. Man sieht durch die Lücken zum Fluß zu etwas sich vorbeibewegen, es sind Dampfer. Die Ärmlichkeit dieses Schwimmvergnügens zeigt sich, als zwei mit einem alten Seelentränker sich unterhalten, der von einer Wand weggeschoben schon an die gegenüberliegende stößt. Kellergeruch. Schöne grüne Gartenbänke. Viel Deutsch. In einer Schwimmschule hängt über Wasser ein Knotenstrick zum beliebigen Turnen herunter. Wir fragen nach Musee Balzac, ein hübscher Junge mit von der Nässe aufgebauschter Frisur erklärt uns dass wir das Musee Grevin (ein Panoptikum) meinen. Dienstbereit läßt er sich seine Kabine aufmachen, bringt einen kleinen Führer (vielleicht Neujahrsgeschenk eines Etablissements) und findet auch dort das Musee Balzac nicht. Wir haben uns schon innerlich fortwährend bedankt, da wir das voraussahen; und auch dringend abgeraten, es zu suchen. Es steht ja auch im Bottin nicht.

Warum saß am Vormittag im Cassenraum des Teatre Francais ein Polizeimann Gendarm oder Soldat?

Eine dicke Placeuse in der Kom. Oper nimmt uns ziemlich von oben herab etwas Trinkgeld ab. Ich dachte, es liege daran, dass wir mit unsern Teaterkarten in der Hand etwas zu sehr Schritt für Schritt hintereinander heraufgekommen waren und nahm mir vor am nächsten Abend in der Comödie der Placeuse in ihre Augen hinein das Trinkgeld zu verweigern, während ich jetzt vor ihr und mir mich schämend ein großes Trinkgeld gab. Gar als alle andern ohne Trinkgeld hineinkamen. Ich brachte in der Comödie auch meinen Satz heraus, in dem ich das Trinkgeld etwas meiner Meinung nach "nicht unumgängliches" nannte, mußte aber wieder zahlen als die diesmal magere Placeuse klagte, sie sei von der Verwaltung nicht entlohnt und das Gesicht zur Schulter neigte

Stiefelputzscene am Anfang. Wie die Kinder, die die Wache begleiten, im gleichen Schritt, die Treppe hinuntergehn. Eindruck der obenhin gespielten Ouverture, so dass die zuspät Kommenden einen leichten Eintritt haben, so pflegt man sonst nur Operetten herzunehmen. Richtige Einfalt der Inscenierung. Schläfrige Statisten, wie bei allen Vorstellungen die ich in Paris gesehen während sie bei uns oft schlecht zurückgehaltene Lebendigkeit haben. Der Esel für den ersten Akt Carmen vor dem Teatereingang in der engen Gasse von Teaterleuten und etwas Straßenpublikum umgeben, wartet im Halbdunkel, bis die kleine Eingangstür frei wird. Ich kaufe auf der Freitreppe fast mit Bewußtsein eines jener falschen Programme, wie sie vor allen Teatern verkauft werden. Eine Ballerine tanzt für Carmen in der Schmugglerkneipe. Wie ihr stummer Körper beim Gesang Carmens arbeitet. Später aus Einzelheiten zusammengesetzter Tanz Carmens, der aber doch wegen ihrer Verdienste in der bisherigen Vorstellung eigentlich viel schöner ist. Es sieht aus als hätte sie vor der Vorstellung einige eilige Lektionen bei der Hauptballerine genommen. Das Rampenlicht macht ihre Sohlen weiß, wenn sie am Tisch lehnt, jemandem zuhört und die Füße unter dem grünen Rock gegeneinander spielen läßt.

Ein Mensch der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn dieser z. B. in Goethes Tagebuch liest, dass dieser am 11. Januar 1797 den ganzen Tag zuhause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt, so scheint es diesem Menschen, dass er selbst noch niemals so wenig gemacht hat.

Für den letzten Akt sind wir schon zu müde (ich war es schon für den vorletzten) gehn weg und setzen uns in eine Bar gegenüber der Opera comique wo Max in seiner Müdigkeit mich mit Sodawasser ganz bespritzt und ich in meiner Müdigkeit vor Lachen mich nicht halten kann und mir die Grenadine durch die Nase jage. Inzwischen fängt wohl der letzte Akt an, wir wandern nach Hause

Auf diesem Platz wurde mir nach der Hitze im Teater, wo ich die heiße Luft durch das offene Hemd an meine Brust gefächelt hatte, die Nachtluft, das Sitzen im Freien, das Ausstrecken der Beine auf einen städtischen Platz hinaus besonders bewußt, trotzdem die erleuchtete große Teaterfacade mit den Seitenlichtern der Kaffeehäuser des Teaters ausreichte, den kleinen Platz, besonders seinen Boden bis unter die Tischchen hin wie ein Zimmer zu beleuchten.

Herr im Foyer, der zwei Damen unterhält, in einem Frackanzug, der etwas lose hängt und der wenn er nicht neu wäre nicht hier getragen würde und besser paßte historisch sein könnte. Monokel fallen gelassen und wieder aufgenommen. Klopft wenn das Gespräch stockt, unsicher mit seinem Stock auf. Steht immer mit Armzuckungen, wie wenn er jeden Augenblick die Absicht hätte mit ausgestrecktem Arm seinen Damen mitten durch die Menge Platz zu machen. Ausgezogene, abgenützte Gesichtshaut.

Eigenschaft der deutschen Sprache im Munde von Ausländern, die sie nicht beherrschen und meist auch nicht beherrschen wollen, schön zu werden. Soweit wir Franzosen beobachtet haben, konnten wir niemals sehn, dass sie sich über unsere Fehler im französischen freuten oder auch nur diese Fehler hörenswert fanden und selbst wir deren Französisch nur wenig französisches Sprachgefühl hervorbringen kann, fortzusetzen!

Die von mir aus glücklichen Köche und Kellner die nach dem allgemeinen Essen Salat Bohnen und Erdäpfel essen, Mischungen davon in großen Schüsseln machen, von jeder Speise nur wenig nehmen, trotzdem ihnen viel gereicht wird und von der Ferne so aussehn wie Köche und Kellner bei uns. - Kellner dessen Mund und Bärtchen elegant zusammengezogen ist und der mich an einem Tag meiner Meinung nach nur deshalb bedient, weil ich müde, ungeschickt, gedankenlos und unsympatisch bin und daher selbst mir kein Essen verschaffen könnte, während er es mir bringt fast ohne es zu merken.

Bei Düval am Boulevard Sebastopol in der Abenddämmerung. Drei Gäste im Lokal verstreut. Die Kellnerinnen leise miteinander redend. Die Kassa noch leer. Ich bestelle einen Jogurth dann noch einen. Die Kellnerin bringt es still, das Halbdunkel des Lokals trägt zu der Stille auch bei, sie nimmt auch still die Bestecke weg, die für das Abendessen auf meinem Platz vorbereitet waren und mich beim Trinken hindern könnten. Es war mir sehr angenehm, Duldung und Verständnis für meine Leiden bei einer Frau ahnen zu können, die so still war.

Lächerliches Restaurant in der Rue Richelieu. Gedrängt voll. Häßlicher Anblick des Rauches vor Spiegelscheiben. Regelmäßig verteilte mit Hüten vollgehängte Kleiderrechen wie Bäume. Sitte der Geländer zwischen Tischen. Gleich nachdem die Täuschung des ungeschickten Ausländers, wo ein geländerartiger Rahmen sei müsse auch eine Glasscheibe stecken, dadurch aufgeklärt wird, dass man frech in die Scheibe schaut in der man das Spiegelbild entfernter Gäste zu sehen meint und durch den Gegenblick einsieht, dass man es mit wirklichen Gesichtern zu tun hat - fühlt man wie solche Geländer zwischen aneinander gestellten Tischen gerade viel für die Annäherung tun.

Im Louvre von einer Bank zur andern. Schmerz, wenn eine ausgelassen wird.

Gedränge im Salon Carre, erregte Stimmung, gruppenweises Stehn wie wenn die Mona Lisa gerade gestohlen worden wäre.

Annehmlichkeit der Querstangen vor den Bildern, an denen man lehnen kann, besonders im Saal der Primitiven.

Dieser Zwang mit Max seine Lieblingsbilder anzusehn, da ich zu müde bin, selbst herumzuschauen. Bewundernder Aufblick

Die Kraft einer großen jungen Engländerin, die mit ihrem Begleiter im längsten Saal von einem Ende aus zum andern geht.

Anblick Maxens, wie er vor Aristide unter einer Straßenlaterne Phädra liest und sich bei dem kleinen Druck die Augen verdirbt. Warum folgt er mir niemals. Ich profitiere leider noch davon, da er mir auf dem Weg zum Teater alles erzählt, was er auf der Gasse, während ich genachtmahlt habe aus seiner Phädra herausgelesen hat. Kurzer Weg, Anstrengung Maxens mir alles, alles zu erzählen, auch Anstrengung meinerseits.

Militärisches Schauspiel im Foyer. Soldaten regeln nach militärischen Grundsätzen das Vortreten des einige Meter von der Kassa zurückgedrängten Publikums.

Vermeintliche Claqueurin in unserer Reihe. Ihr Applaus scheint dem Stockaufschlagen des über uns im letzten Rang beschäftigten Oberclaqueurs zu folgen. Sie klatscht mit so weit vorgebeugtem abwesendem Gesicht, dass sie, wenn der Applaus zu Ende ist, erstaunt besorgt die Innenfläche ihrer durchbrochenen Handschuhe anschaut. Fängt aber gleich wieder an wenn es nötig wird. Klatscht aber schließlich auch selbständig und ist gar keine Claqueurin.

Das Gefühl der Ebenbürtigkeit gegenüber dem Stück, das die Teaterbesucher haben müssen, um gegen Ende des ersten Aktes anzukommen und reihenlang Leute zum Aufstehen zu bringen. Eine Dekoration die 5 Akte durch stehen bleibt, trägt viel zum Ernst bei und ist, selbst wenn sie nur aus Papier besteht, solider als eine wechselnde aus Holz und Stein.

Eine gegen das Meer und die blaue Luft gehaltene Säulengruppe in der Höhe von Schlingpflanzen überwachsen. Unmittelbarer Einfluß des Gastmahles von Veronese, auch Claude Lorrains.

Der ob geschlossen, sich öffnend oder offen gleich ruhig geschwungene Mund Hypolits.

Oenone, leicht in dauernde Stellungen geratend, einmal aufgerichtet, die Beine eng vom Tuch umbunden, den Arm gehoben, mit ruhiger Faust, trägt sie einen Vers vor. Viele langsame Verhüllungen der Gesichter mit den Händen. Graue Farbe der Berater der Hauptpersonen.

ir

Unzufriedenheit mit der Darstellerin der Phädra in der Erinnerung an die Befriedigung die ich über die Rachel als Mitgl. der Comedie Francais hatte, wann immer ich von ihr gelesen habe.

Bei so überraschendem Anblick wie es die erste Szene ist, wo Hypolite den unbewegten manneslangen Bogen neben sich hält, mit der Absicht dem Pädagogen sich anzuvertrauen, und den ruhigen stolzen Blick ins Publikum gerichtet seine Verse wie ein Festgedicht aufsagt, hatte ich wie oft schon früher den allerdings sehr schwachen Eindruck dass es zum erstenmal geschieht und in meine übrige Bewunderung mischte sich die Bewunderung des gleich erstmaligen Gelingens.

Erinnerung an die Aufführung von "Des M. u. d. L. Wellen" in Reichenberg. Es waren dort zartere, schwächere Schauspieler,

wird fortgesetzt

Rationell eingerichtete Bordelle. Die reinen Jalousien der großen Fenster des ganzen Hauses herabgelassen. In der Portierloge statt eines Mannes ehrbar angezogene Frau, die überall zu Hause sein könnte. Schon in Prag habe ich immer den amazonenmäßigen Charakter der Bordelle flüchtig bemerkt. Hier ist es noch deutlicher. Der weibliche Portier der sein elektr. Läutewerk in Bewegung setzt, der uns in seiner Loge zurückhält, weil ihm gemeldet wird, dass gerade Gäste die Treppe herabkommen, die zwei ehrbaren Frauen oben (warum zwei?) die uns empfangen, das Aufdrehen des elektr. Lichtes im Nebenzimmer in dem die unbeschäftigten Mädchen im Dunkel oder Halbdunkel saßen, der 3/4Kreis (wir ergänzen ihn zum Kreis) in dem sie um uns in aufrechten auf ihren Vorteil bedachten Stellungen stehn, der große Schritt, mit dem die Erwählte vortritt, der Griff der Madame mit dem sie mich auffordert... ich mich zum Ausgang gezogen fühle. Unmöglich mir vorzustellen wie ich auf die Gasse kam, so rasch war es. Schwer ist die Mädchen dort genauer anzusehn, weil sie zu viele sind, mit den Augen blinzeln, vor allem zu nahe stehn. Man müßte die Augen aufreißen und dazu gehört Übung. In der Erinnerung habe ich eigentlich nur die, welche gerade vor mir stand. Sie hatte lückenhafte Zähne, streckte sich in die Höhe, hielt mit der über der Scham geballten Faust ihr Kleid zusammen und öffnete und schloß gleich und schnell die großen Augen und den großen Mund. Ihr blondes Haar schien zerrauft. Sie war mager. Angst davor nicht zu vergessen den Hut nicht abzunehmen. Man muß sich die Hand von der Krempe reißen. Einsamer, langer sinnloser Nachhauseweg.

Ansammlung der Besucher vor dem Öffnen des Louvre. Die Mädchen sitzen zwischen den hohen Säulen, lesen im Bädeker, schreiben Ansichtskarten.

Venus von Milo, deren Anblick bei dem langsamsten Umgehn schnell und überraschend wechselt. Leider eine erzwungene (über Taille und Hülle) aber einige wahre Bemerkungen gemacht, zu deren Erinnerung ich eine plastische Reproduktion nötig hätte, besonders darüber wie das gebogene linke Knie den Anblick von allen Seiten mitbestimmt, manchmal aber nur sehr schwach. Die erzwungene Bemerkung: Man erwartet, dass über der aufhörenden Hülle der Leib sich gleich verjüngt, er wird aber zunächst sogar noch breiter. Das fallende vom Knie gehaltene Kleid.

Der Borghesische Fechter, dessen Vorderblick nicht der Hauptanblick ist, denn er bringt den Beschauer zum Zurückweichen und ist zerstreuter. Von hinten aber gesehen, dort wo der Fuß zuerst auf dem Boden ansetzt, wird der überraschte Blick das fest gezogene Bein entlang gelockt und fliegt geschützt über den unaufhaltsamen Rücken zu dem nach vorn gehobenen Arm und Schwert.

Die Metro schien mir damals sehr leer, besonders wenn ich es mit jener Fahrt vergleiche, als ich krank und allein zum Rennen gefahren bin. Das Aussehn der Metro unterliegt auch abgesehn vom Besuch dem Einfluß des Sonntags. Die dunkle Stahlfarbe der Wände überwog. Die Arbeit der die Waggontüren auf- und zuschiebenden und dazwischen sich hinein ' und herausschwingenden Schaffner stellte sich als eine Sonntagnachmittagsarbeit heraus. Die langen Wege zur Correspondence wurden langsam gegangen. Die unnatürliche Gleichgültigkeit der Passagiere mit der sie die Fahrt in der Metro hinnehmen wurde deutlicher. Das sich gegen die Glastüre wenden, das Aussteigen einzelner an unbekannten Stationen weit von der Oper wird als launenhaft empfunden. Sicher ist in den Stationen trotz der elektr. Beleuchtung das wechselnde Tageslicht zu bemerken, besonders wenn man gerade heruntergestiegen ist, merkt man es, besonders dieses Nachmittagslicht, knapp vor der Verdunkelung. Die Einfahrt in die leere Endstation der porte Dauphine, Menge von sichtbar werdenden Röhren, Einblick in die Schleife, wo die Züge die einzige Kurve machen dürfen nach so langer geradlinieger Fahrt. Tunnelfahrten in der Eisenbahn sind viel ärger, keine Spur von der Bedrückung, die der Passagier unter dem wenn auch zurückgehaltenen Druck der Bergmassen fühlt. Man ist auch nicht weit von den Menschen sondern eine städtische Einrichtung, wie z. B. das Wasser in den Leitungen. Das Zurückspringen beim Aussteigen, mit dem dann folgenden verstärkten Vorgehn. Dieses Aussteigen auf ein gleiches Niveau. Meist verlassene kleine Schreibzimmer mit Telephon und Läutewerk dirigieren den Betrieb. Max schaut gern hinein. Schrecklich war der Lärm der Metro, als ich mit ihr zum erstenmal im Leben vom Montmartre auf die großen Boulevards gefahren bin. Sonst ist er nicht arg, verstärkt sogar das angenehme ruhige Gefühl der Schnelligkeit. Die Reklame von Dubonnet ist sehr geeignet von traurigen und unbeschäftigten Passagieren gelesen, erwartet und beobachtet zu werden. Ausschaltung der Sprache aus dem Verkehr, da man weder beim Zahlen, noch beim Ein- u. Aussteigen zu reden hat. Die Metro ist wegen ihrer leichten Verständlichkeit für einen erwartungsvollen und schwächlichen Fremden, die beste Gelegenheit, sich den Glauben zu verschaffen, richtig und rasch im ersten Anlauf in das Wesen von Paris eingedrungen zu sein.

Die Fremden erkennt man daran, dass sie oben schon auf dem letzten Absatz der Metrotreppe sich nicht mehr auskennen, sie verlieren sich nicht, wie die Pariser, aus der Metro übergangslos in das Straßenleben. Auch stimmt beim Herauskommen die Wirklichkeit erst langsam mit der Karte überein, da wir auf diesen Platz, wo wir jetzt nach dem Heraufkommen hingestellt sind, niemals zu Fuß oder zu Wagen gekommen wären, ohne Führung der Karte. Die Erinnerung an Spaziergänge in Anlagen ist immer schön. Freude daran, dass es noch so hell ist, aufpassen, dass es nicht rasch dunkel wird, davon und von der Müdigkeit ist Gangart und Herumschauen beherrscht. Die straffe Fahrt der Automobile auf der großen glatten Straße. Das rotgekleidete Orchester das im Lärm der Automobile im kleinen Gartenrestaurant unhörbar nur zum Genuß der nächsten Umgebung auf den Instrumenten arbeitet. Nie gesehene Pariser führen einander an der Hand. Verbranntes erdfarbenes Gras. Männer in Hemdärmeln mit ihren Familien im Halbdunkel der Bäume in Beeten zu denen der Zutritt schon vorher verboten war. Hier war das Fehlen der Juden am auffallendsten. Der Rückblick zur kleinen Dampfbahn, die sich aus einem Karoussel abgewickelt und weggefahren zu sein scheint. Der Weg zum See. Meine stärkste Erinnerung vom ersten Anblick dieses Sees ist der gebeugte Rücken des Mannes, der zu uns ins Boot unter das gespannte Tuchdach geneigt, uns die Fahrkarten reichte. Wahrscheinlich infolge meiner Sorge um die Karte und meiner Unfähigkeit, den Mann zu einer Erklärung zu zwingen, ob das Boot den See umfahre oder zur Insel übersetze und ob es Haltestellen habe. Deshalb habe ich mich so in ihn verschaut, dass ich ihn manchmal allein über den See gerade so stark aber ohne Boot gebeugt sehe. Viele Leute in Sommerkleidern auf der Landungsstelle. Boote mit ungeschickten Ruderern. Niedriges Seeufer ohne Geländer. Langsame Fahrt, erinnert mich an Spaziergänge, die ich vor einigen Jahren jeden Sonntag allein gemacht habe. Herausziehn der Füße aus dem Wasser auf dem Bootsgrund. Beim Anhören unseres Tschechisch Erstaunen der Passagiere, sich mit derartig Fremden in ein Boot gesetzt zu haben. Viele Menschen auf den Abhängen des Westufers, eingepflanzte Stöcke, ausgebreitete Zeitungen, Mann mit seinen Töchtern flach im Gras, wenig Lachen, niedriges Ostufer, bei uns schon seit langem abgeschaffte Wegbegrenzung aus kleinen, aneinandergefügten gebogenen Hölzchen, geeignet Schooßhündchen vom Rasen abzuhalten, ein wilder Hund lauft über die Wiesen, ernst arbeitende Ruderer mit einem Mädchen in ihrem schweren Boot. Ich lasse Max besonders einsam bei einer Grenadine im Dunkel am Rande eines halb leeren Kaffeegartens, wo nahe eine Straße vorübergeht, die wieder von einer andern unbekannten förmlich flüchtig gekreuzt wird. Automobile und Wagen fahren von dieser dunklen Kreuzungstelle in noch wüstere Gegenden. Ein großes eisernes Gitter gehört vielleicht zum Verzehrungssteueramt, ist aber geöffnet und läßt jeden durch. In der Nähe sieht man das grelle Licht des Lunaparks das die Unordnung dieses Halbdunkels vergrößert. So viel Licht und so leer. Auf dem Weg zum Lunapark und zu Max zurück stolpere ich vielleicht 5 mal.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at