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[Tagebuch, 6. November 1910; Sonntag]

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Conference einer Madame Chenu über Musset. Jüdische Frauengewohnheit des Schmatzens, Verstehn des Französisch durch alle Vorbereitungen und Schwierigkeiten der Anekdote, bis knapp vor dem Schlußwort, das auf den Trümmern der ganzen Anekdote im Herzen weiterleben soll, das Französisch uns vor den Augen verlöscht, vielleicht haben wir uns bis dahin zu sehr angestrengt, die Leute, welche Französisch verstehn gehn vor dem Schluß weg, da sie schon genug gehört, die andern haben noch lange nicht genug gehört, Akustik des Saales, die das Husten in den Logen mehr begünstigt, als das vorgetragene Wort; Nachtmahl bei der Rachel sie liest Racine: Phädra mit Musset, das Buch liegt zwischen ihnen auf dem Tisch, auf dem übrigens alles mögliche liegt. Consul Claudel, Glanz in den Augen, den das breite Gesicht aufnimmt und widerstrahlt, er will sich immerfort verabschieden, es gelingt ihm auch im einzelnen, im allgemeinen aber nicht, denn wenn er einen verabschiedet, steht ein neuer da, an den sich der schon verabschiedete wieder anreiht. Über der Vortragsbühne ist eine Gallerie für das Orchester. Aller mögliche Lärm stört. Kellner aus dem Flur, Gäste in ihren Zimmern, ein Klavier, ein fernes Streichorchester, ein Hämmern endlich eine Zänkerei, deren Lokalisierung große Schwierigkeiten macht und deshalb reizt. In einer Loge eine Dame mit Diamanten in den Ohrringen, deren Licht fast ununterbrochen wechselt. An der Kassa junge schwarzgekleidete Leute eines französischen Cirkels. Einer grüßt mit einer scharfen Verbeugung, die seine Augen über den Boden hinfahren läßt. Dabei lächelt er stark. Das macht er aber nur vor Mädchen, Männern schaut er gleich darauf offen ins Gesicht mit ernst gehaltenem Mund, womit er gleichzeitig die vorige Begrüßung als eine vielleicht lächerliche aber jedenfalls unumgängliche Ceremonie erklärt.