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[Stempel: Prag, 17. 12. 10]

[An:] Herrn Dr. Max Brod Schalengasse 1


Mein lieber Max, um über diese Woche nicht mehr reden zu müssen:

    Ich wiederhole zuerst noch, was Du schon weißt, damit Dir alles gleichzeitig bewußt ist. - Alles in dieser Woche war so gut für mich eingerichtet, wie es meine Verhältnisse nur jemals ermöglicht haben und wie sie es allem Anschein nach kaum mehr ermöglichen werden. - Ich war in Berlin gewesen und stand jetzt nach meiner Rückkehr in meiner gewöhnlichen Umgebung so locker drin, dass ich mich, wenn es in meiner Anlage wäre, ohne Hindernis selbst wie ein Tier hätte aufführen können. - Ich hatte acht vollkommen freie Tage. Vor dem Bureau habe ich mich erst gestern abend zu fürchten angefangen, so zu fürchten angefangen allerdings, dass ich gern mich unter dem Tisch versteckt hätte. Aber das nehme ich selbst nicht ernst, denn es ist keine selbständige Furcht. - Mit meinen Eltern, die jetzt gesund und zufrieden sind, habe ich fast niemals Streit. Nur wenn der Vater mich spät abend noch beim Schreibtisch sieht, ärgert er sich, weil er mich für zu fleißig hält. - Ich war gesünder als Monate vorher, wenigstens am Anfang der Woche. Das Grünzeug ist so gut und still in mich hineingegangen, dass es aussah, als füttere mich ein glücklicher Zufall eigens für diese Woche. - Bei uns zuhause war es fast ganz ruhig. Die Hochzeit ist vorüber, man verdaut die neue Verwandtschaft. Ein Fräulein unter uns, das mit ihrem Klavierspiel hie und da zu hören war, soll auf einige Wochen verreist sein. - Und alle diese Vorteile waren mir jetzt gegen Ende des Herbstes gegeben, also zu einer Zeit, in der ich mich seit jeher am kräftigsten gefühlt habe.

17 XII.

    Diese Leichenrede von vorgestern kommt nicht zu Ende. Von ihr aus gesehen kommt jetzt allerdings zu allem Unglück noch die Jämmerlichkeit hinzu, dass ich offenbar nicht imstande bin, ein trauriges vollkommen beweisbares Gefühl ein paar Tage lang festzuhalten. Nein, das bin ich nicht imstande. Jetzt, wo ich schon 8 Tage über mir sitze, bin ich in einer Eile des Gefühls, dass ich fliege. Ich bin einfach von mir betrunken, was in dieser Zeit auch beim dünnsten Wein kein Wunder ist. Dabei hat sich wenig seit 2 Tagen geändert und was sich geändert hat, ist schlechter geworden. Meinem Vater ist nicht ganz gut, er ist zu Hause. Wenn links der Frühstückslärm aufhört, fängt rechts der Mittagslärm an, Türen werden jetzt überall aufgemacht, wie wenn die Wände aufgebrochen würden. Vor allem aber die Mitte alles Unglücks bleibt. Ich kann nicht schreiben; ich habe keine Zeile gemacht, die ich anerkenne, dagegen habe ich alles weggestrichen, was ich nach Paris - es war nicht viel - geschrieben habe. Mein ganzer Körper warnt mich vor jedem Wort, jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben läßt, schaut sich zuerst nach allen Seiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muß dann aber rasch aufhören.

    Das Stückchen der Novelle, das beiliegt, habe ich vorgestern abgeschrieben und lasse es jetzt schon dabei. Es ist schon alt und sicher nicht fehlerlos, aber es erfüllt sehr gut die nächste Absicht der Geschichte.

    Heute abend komme ich noch nicht, ich will bis Montag früh bis zum letzten Augenblick noch allein bleiben. Dieses mir auf den Fersen sein, das ist noch eine Freude, die mich heiß macht, und eine gesunde Freude trotz allem, denn sie macht in mir jene allgemeine Unruhe, aus der das einzig mögliche Gleichgewicht entsteht. Wenn es weiter so gienge, ich könnte dann jedem ins Auge schauen, was ich z. B. Dir gegenüber vor der Berliner Reise, ja selbst in Paris nicht konnte. Du hast es bemerkt. Ich habe Dich so lieb und habe Dir nicht ins Auge schauen können. - Ich komme mit meinen Geschichten und Du hast vielleicht Deine Sorgen, könnte ich Montag im Bureau eine Karte von Dir über Deine Sache haben? Auch Deiner Schwester habe ich noch nicht gratuliert. Das mach ich Montag.

Dein Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


acht . . . Tage: Vom 10. Dezember, als er von Berlin zurückkehrte, bis zum Wiederaufnehmen der Bureauarbeit am 19. Dezember.


Hochzeit: Am 27. November hatte seine älteste Schwester Elli (Gabriele) (1889-1941) den Geschäftsmann Karl Hermann (1890-1942) aus Zürau geheiratet. Ein Jahr später gründete dieser die "Prager Asbestwerke Hermann & Co", an denen auch Kafka - "allerdings nur mit einer Geldeinlage meines Vaters" (F 68) -beteiligt war. Vgl. den Brief vom 7./ 8.10.1912.


Das Stückchen der Novelle: Möglicherweise das später unter dem Titel "Kinder auf der Landstraße" veröffentlichte Stück aus der Novelle "Beschreibung eines Kampfes".


gratuliert: Sophie Brod hatte sich am 4. Dezember mit dem Geschäftsmann Max Friedmann verlobt.