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Brief an Max Brod
[Prag, ca. 27.5.1910] Im Br. Wahrscheinlich Mai 1908


Da hast Du lieber Max zwei Bücher und ein Steinchen. Ich habe mich immer angestrengt, für Deinen Geburtstag etwas zu finden, das infolge seiner Gleichgültigkeit sich nicht ändern, nicht verloren gehn, nicht verderben und nicht vergessen werden kann. Und nachdem ich dann monatelang nachgedacht habe, wußte ich mir wieder nicht anders zu helfen, als ein Buch zu schicken. Aber mit den Büchern ist es eine Plage, sind sie von der einen Seite gleichgültig, dann sind sie von der andern um dieses wieder interessanter und dann zog mich zu den gleichgültigen nur meine Überzeugung hin, die bei mir beiweitem nicht den Ausschlag gibt und ich hielt am Ende, noch immer anders überzeugt, ein Buch in der Hand, das vor Interessantheit nur so brannte. Einmal habe ich auch absichtlich an Deinen Geburtstag vergessen, das war ja besser als ein Buch zu schicken, aber gut war es nicht. Darum schicke ich jetzt das Steinchen und werde es Dir schicken solange wir leben. Behältst Du es in der Tasche wird es Dich beschützen, läßt Du es in einem Schubfach wird es auch nicht untätig sein, wirfst Du es aber weg, dann ist es am besten. Denn weißt Du Max meine Liebe zu Dir ist größer als ich und mehr von mir bewohnt als dass sie in mir wohnte und hat auch einen schlechten Halt an meinem unsichern Wesen, so aber bekommt sie in dem Steinchen eine Felsenwohnung und sei es nur in einer Ritze der Pflastersteine in der Schalengasse. Sie hat mich schon seit langem öfter gerettet, als Du weißt und gerade jetzt, wo ich mich weniger auskenne als jemals und mich bei ganzem Bewußtsein nur im Halbschlaf fühle, nur so äußerst leicht, nur gerade noch - ich gehe ja herum wie mit schwarzen Eingeweiden - da tut es gut, einen solchen Stein in die Welt zu werfen und so das Sichere vom Unsichern zu trennen. Was sind Bücher dagegen! Ein Buch fängt an Dich zu langweilen und hört damit nicht mehr auf, oder Dein Kind zerreißt das Buch oder, wie das Buch von Walser, es ist schon zerfallen, wenn Du es bekommst. An dem Stein dagegen kann Dich nichts langweilen, so ein Stein kann auch nicht zugrundegehn und wenn, so erst in späten Zeiten, auch vergessen kannst Du ihn nicht - weil Du nicht verpflichtet bist, Dich an ihn zu erinnern, endlich kannst Du ihn auch niemals endgiltig verlieren, - denn auf dem ersten besten Kiesweg findest Du ihn wieder, weil es eben der erste beste Stein ist. Und noch durch ein größeres Lob konnte ich ihm nicht schaden, denn Schaden aus Lob entsteht nur daraus, dass das Gelobte beim Lob zerdrückt, beschädigt oder verlegen wird. Aber das Steinchen? Kurz ich habe Dir das schönste Geburtstagsgeschenk ausgesucht und überreiche es Dir mit einem Kuß, der den unfähigen Dank dafür ausdrücken soll, dass Du da bist.


Dein Franz        
 


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


zwei Bücher . . . Steinchen: Brod schreibt am 27. Mai 1910 in seinem Tagebuch: "Von Kafka schöner Brief: Kieselstein, Walser, George." Bei dem Band Stefan George handelt es sich möglicherweise um Das Jahr der Seele oder Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (siehe WB 219, Anm. 457); zu Walser siehe nächste Anm.; der Kieselstein hat sich bis heute erhalten.


Buch von Walser: Robert Walsers Roman Jakob von Gunten (1909). Vgl. Br 75. Das "zerfallene" Exemplar hat sich erhalten.