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[Stempel: Prag, 5. 1. 10]

[An:] Herrn Dr. Max Brod Prag Schalengasse Nr.


Mein lieber Max, (im Bureau, wo man mich bei den zehn Zeilen zehnmal erschrecken wird, macht nichts.) ich habe es damals so gemeint: Wer Deinen Roman billigt - wie er in seiner Größe so neu heraufkommt wird er viele Menschen blenden, also betrüben müssen - wer Deinen Roman billigt - billigen heißt hier mit aller Liebe, deren man fähig ist, ihn erfassen - wer Deinen Roman billigt, muß während der ganzen Zeit das wachsende Verlangen nach einer Lösung haben, wie Du sie in dem vorgelesenen halben Kapitel vorgenommen hast. Nur mußte ihm diese Lösung in der gefährlichsten Richtung des Romans gelegen scheinen - nicht gefährlich für den Roman, nur gefährlich für seinen seligen Zusammenhang mit ihm - und dass nun diese Lösung, wie er überzeugt fühlt, gerade in jener äußersten Grenze erfolgt ist, wo der Roman noch erhält, was er verlangen muß, aber auch der Leser das erhält, was zu vermissen er sich noch nicht bezwingen kann. Und nur die Vorstellungen der möglichen Lösungen, zu denen Du allerdings, der Du das Innerste des Romans so durchdringst, berechtigt gewesen wärest, scheinen ihn noch immer von der Ferne zu erschrecken. Es wird kein schlechter Vergleich sein, wenn man später den Roman mit einem gotischen Dom vergleichen wird, kein schlechter Vergleich unter der Voraussetzung natürlich, dass für jede Stelle der dialektischen Kapitel die Stelle in den übrigen nachgewiesen wird, die jene erste trägt, und wie sie für sich gerade jene Belastung fordert, welche die erstere ausübt. Mein liebster Max, wie glücklich bist Du und wie wirst Du es am Schlusse erst sein und wir durch Dich.

Dein Franz        
 


Ich wollte noch von Milada schreiben, aber ich fürchte mich.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Deinen Roman: Es geht hier nochmals um den unvollendet gehliebenen Roman "Die Glücklichen" oder "Die tausend Vergnügungen" (siehe 1906, Anm. 9). Am 26. Dezember 1909 hatte Brod in seinem Tagebuch notiert: "31. Cap. beendet, Kafka vorgelesen, der sehr entzückt ist."


Milada: Die Heldin des oben erwähnten Romans. Vgl. Brods Gedicht "An Milada", das seinen Band Tagebuch in Versen (1910) einleitet.