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[An Hedwig Weiler]
[Prag, wahrscheinlich November 1907]

Liebes Mädchen, verzeihe mir, wenn ich nicht gleich geantwortet habe, aber ich verstehe es noch nicht, die paar Stunden gut auszunützen, denn gleich ist Mitternacht wie jetzt. Glaube nicht, dass das schöne Wetter Dich bei mir verdrängt, nur die Feder verdrängt es, Liebe. Aber Deine Fragen werde ich alle beantworten.
Ob ich bald und weit versetzt werde, weiß ich nicht, vor einem Jahr wohl kaum, am hübschesten wäre es, wenn ich von der Gesellschaft wegversetzt würde, das ist nicht ganz unmöglich.
Über die Arbeit klage ich nicht so, wie über die Faulheit der sumpfigen Zeit. Die Bureauzeit nämlich läßt sich nicht zerteilen, noch in der letzten halben Stunde spürt man den Druck der 8 Stunden wie in der ersten. Es ist oft wie bei einer Eisenbahnfahrt durch Nacht und Tag, wenn man schließlich, ganz furchtsam geworden, weder an die Arbeit der Maschine des Zugführers, noch an das hügelige oder flache Land mehr denkt, sondern alle Wirkung nur der Uhr zuschreibt, die man immer vor sich in der Handfläche hält.
Ich lerne Italienisch, denn zuerst komme ich wohl nach Triest.
In den ersten Tagen muß ich für den, der dafür empfindlich ist, sehr rührend ausgesehn haben. Wie es auch wirklich gewesen ist, ich kam mir deklassiert vor; Leute, die nicht bis zum 25ten Jahr wenigstens zeitweise gefaulenzt haben, sind sehr zu bedauern, denn davon bin ich überzeugt, das verdiente Geld nimmt man nicht ins Grab mit, aber die verfaulenzte Zeit ja.
Ich bin um 8 Uhr im Bureau, um ½7 geh ich weg.
Voraussetzungslos lustige Menschen? Alle Menschen, die einen ähnlichen Beruf haben, sind so. Das Sprungbrett ihrer Lustigkeit ist die letzte Arbeitsminute; leider verkehre ich gerade nicht mit solchen Menschen.
"Erotes" werden bald unter dem Titel "Weg eines Verliebten" erscheinen, aber ohne mein Titelblatt, das sich als nicht reproduzierbar erwiesen hat.
Was Du von dem jungen Schriftsteller schreibst, ist interessant, nur übertreibst Du die Ähnlichkeiten. Ich versuche bloß mich beiläufig und vorläufig gut anzuziehn, aber vielen Menschen in vielen Ländern aller Erdteile ist es schon gelungen; eben diese pflegen ihre Nägel, manche schminken sie. Spricht er wunderschön französisch, so ist das schon ein bedeutender Unterschied zwischen uns, und dass er mit Dir verkehren kann, ist ein verdammter Unterschied.
Das Gedicht habe ich gelesen, und da Du mir das Recht gibst es zu beurteilen, so kann ich sagen, dass viel Stolz darin ist, der aber, wie ich glaube, leider sehr allein spazieren geht. Im ganzen scheint es mir eine kindliche und deshalb sympathische Bewunderung bewunderungswürdiger Zeitgenossen zu sein. Voilà. Aber aus übertriebener Empfindlichkeit für das äußere Gleichgewicht einer Wage, die Du in Deinen lieben Händen hältst, schicke ich eine schlechte, vielleicht ein Jahr alte Kleinigkeit mit, die er unter denselben Umständen (Du nennst keinen Namen und auch sonst nichts, nicht wahr?) beurteilen soll. Ich werde große Freude haben, wenn er mich ordentlich auslacht. Du schickst mir dann das Blatt wieder zurück, wie ich es auch tue.
Jetzt habe ich alles beantwortet und mehr, jetzt kämen meine Rechte. Was Du mir über Dich schreibst, ist so unklar, wie es Dir auch sein muß. Bin ich schuld daran, dass man Dich quält, oder quälst Du Dich und man hilft Dir bloß nicht? "Ein mir sehr sympathischer Mann" "beide hätten Conzessionen machen müssen." In dieser großen mir ganz undeutlichen Stadt Wien bist nur Du mir sichtbar und ich kann Dir jetzt gar nicht helfen, wie es scheint.
Darf ich da den Brief nicht schließen, während es traurig eins schlägt?

Dein Franz


Kleinigkeit: Beigelegt war eine kleine Prosadichtung, "Begegnung", die Kafka später unter dem Namen "Die Abweisung" in sein erstes Buch aufnahm.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at