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An Hedwig W.

[Prag, 15. Sept. [1907]
 

Du, Liebe, man lebt merkwürdig in Triesch und darum muß man sich darüber nicht wundem, dass ich heute auf meinem Globus auf dem beiläufigen Platz von Triesch einen roten Punkt gemacht habe. Es war ja heute regnerisch, ich nahm den Globus herunter und schmückte ihn so.

In Triesch ist man verweint, ohne früher geweint zu haben, man geht in ein Kränzchen und will dort nicht gesehen werden, man hat einen mir ganz unbekannten Seidengürtel angezogen, man schreibt einen Brief dort und schickt ihn nicht weg. Wo schreibt man diesen Brief? Mit Bleistift wohl, aber im Schoß oder an der Mauer, an der Kulisse? Und war die Beleuchtung im Vorzimmer genügend, um darin einen Brief zu schreiben? Neugierig aber bin ich nicht, neugierig wäre es, um ein Beispiel zu geben, wenn ich dringlich wissen wollte, mit wem Fräulein Agathe getanzt hat. Das wäre unpassend und Du würdest recht tun, mir nicht zu antworten.

Aber so geschieht es, dass Du - sei es auf dem Umweg über andere Personen - mit allen Leuten in Triesch in irgend einer unmittelbaren Beziehung stehst, selbst mit dem Diener im Hotel oder irgend einem Feldhüter, auf dessen Feld Du Rüben stiehlst. Du gibst ihnen Befehle oder läßt Dich von ihnen zum Weinen bringen, ich aber habe das zu lesen, so wie man in der Verbannung - eine andere kenne ich noch nicht -Nachrichten über wichtige Veränderungen in der Heimat lesen will und doch kaum lesen kann, weil man unglücklich ist, dort nichts tun zu können, und so glücklich, jetzt etwas zu erfahren. Hier darf ich es sagen, dass ich mit Kranken, die Du pflegst, kein Mitleid habe.

Die Entscheidung über mich, die letzte, kommt morgen, aber dieser Brief ist ungeduldig, sobald ich "Liebe" darauf schreibe, wird er lebendig und will nicht mehr warten. Du verkennst mich hübsch, wenn Du glaubst, dass Streben nach idealem Nutzen meiner Natur angemessen ist, denn es genügt zu sagen: Nachlässigkeit gegen praktischen Nutzen.

Ich weiß es, Du mußt von Wien weg, aber ganz so ich von Prag, wobei wir allerdings gut dieses Jahr in Paris zum Beispiel verbringen könnten. Aber folgendes ist richtig: Wir fangen damit an, das zu tun, was wir brauchen, und werden wir, wenn wir das fortsetzen, nicht notwendig zu einander kommen müssen?

Ich bitte, schreibe mir genau über Deine Prager Zukunft, ich werde vielleicht etwas noch vorbereiten können, ich tue es gern.

Dein Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at