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An Hedwig W.

[Prag, 29. August [1907]
 

Du, Liebe, ich bin müde und vielleicht bin ich ein wenig krank.

Jetzt habe ich das Geschäft aufgemacht und versuche dadurch, dass ich im Bureau Dir schreibe, dieses Bureau ein bischen freundlicher zu machen. Und alles, was um mich ist, unterliegt Dir. Der Tisch preßt sich fast verliebt an das Papier, die Feder liegt in der Senkung zwischen Daumen und Zeigefinger, wie ein bereitwilliges Kind, und die Uhr schlägt wie ein Vogel.

Ich aber glaube, ich schreibe Dir aus einem Krieg oder sonst woher aus Ereignissen, die man sich nicht gut vorstellen kann, weil ihre Zusammensetzung zu ungewöhnlich und ihr Tempo das unbeständigste ist. Verwickelt in die peinlichsten Arbeiten trage ich so abend

11 Uhr

jetzt ist der lange Tag vergangen und er hat, trotzdem er dessen nicht würdig ist, diesen Anfang und dieses Ende. Aber im Grunde hat sich, seitdem man mich unterbrochen hat, nichts geändert, und trotzdem jetzt links von mir die Sterne des offenen Fensters sind, läßt sich der beabsichtigte Satz vollenden.

- - trage ich so von dem einen festen Entschluß meine Kopfschmerzen zum andern, ebenso festen, aber entgegengesetzten. Und alle diese Entschlüsse beleben sich, bekommen Ausbrüche der Hoffnung und eines zufriedenen Lebens, diese Verwirrung der Folgen ist noch ärger, als die Verwirrung der Entschlüsse. Wie Flintenkugeln fliege ich aus einem ins andere und die versammelte Aufregung, die in meinem Kampf Soldaten, Zuschauer, Flintenkugeln und Generäle unter einander verteilen, bringt mich allein ins Zittern.

Du aber willst, ich soll Dich gar nicht entbehren, ich soll durch einen großen Spaziergang meiner Gefühle sie ermüden und zufrieden machen, während Du Dich fortwährend aufstörst und im Sommer Dir den Pelz anziehst nur deshalb, weil im Winter Kälte möglich ist.

Übrigens habe ich keine Geselligkeit, keine Zerstreuung; die Abende über bin ich im kleinen Balkon über dem Fluß, ich lese nicht einmal die Arbeiterzeitung und ich bin kein guter Mensch. Vorjahren habe ich einmal dieses Gedicht geschrieben.

In der abendlichen Sonne
sitzen wir gebeugten Rückens
auf den Bänken in dem Grünen.
Unsere Arme hängen nieder,
unsere Augen blinzeln traurig.


Und die Menschen gehn in Kleidern
schwankend auf dem Kies spazieren
unter diesem großen Himmel,
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet.

Und so habe ich nicht einmal jenes Interesse an den Menschen, welches Du verlangst.

Du siehst, ich bin ein lächerlicher Mensch; wenn Du mich ein wenig lieb hast, so ist es Erbarmen, mein Anteil ist die Furcht. Wie wenig nützt die Begegnung im Brief, es ist wie ein Plätschern am Ufer, zweier durch eine See Getrennter. Über die vielen Abhänge aller Buchstaben ist die Feder geglitten und es ist zu Ende, es ist kühl und ich muß in mein leeres Bett.

Dein Franz




Hedwig(Br) Kafka lernte das Mädchen, Hedwig Weiler, in Triesch (tschechisch: Trešt), einem kleinen Landstädtchen bei Iglau (Jihlava) im Mähren kennen, wo er bei seinem Onkel Dr. Siegfried Löwy, dem "Landarzt", zur Sommerfrische weilte.

(BKB) Die damals 19jährige Hedwig Weiler (1887-1953), die in Wien studierte, hielt sich in Triesch bei Verwandten auf. Über die Beziehung, die sich zwischen den beiden entspann und bis Ende 1908 dauerte, geben Kafkas Briefe an sie Auskunft (Br 39-65). Sie hat sich später - als Dr. Hedwig Herzka - vor allem der Förderung der zionistischen Jugend in Österreich gewidmet.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at