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[An Max Brod]
[Triesch, Mitte August 1907]

Mein lieber Max,
als ich gestern abend von dem Ausflug (lustig, lustig) nachhause kam, war Dein Brief da und hat mich verwirrt, trotzdem ich müde war. Denn Unentschlossenheit kenne ich, ich kenne nichts anderes, aber dort wo etwas nach mir verlangt, da falle ich hin, ganz müde der halben Neigung und des halben Zweifels in tausend frühern Kleinigkeiten; der Entschlossenheit der Welt könnte ich nicht widerstehn. Deshalb würde nicht einmal der Versuch Dich umzustimmen für mich passen.
Deine Verhältnisse und meine sind ganz andere und deshalb ist es von keiner Bedeutung, wenn ich bei der Stelle "entschloß ich mich nicht anzunehmen" vor Schrecken wie bei einem Schlachtbericht nicht gleich weiterlesen konnte. Doch hat mich bald wie in allem auch hier die verdammte Unendlichkeit der Nachtheile und Vortheile jeder Sache beruhigt.
Ich sagte mir: Du brauchst viel Thätigkeit, Deine Bedürfnisse in dieser Hinsicht sind mir sicher, wenn auch unbegreiflich; ein Jahr lang würde Dir ein Wald als Ziel eines Spazierganges nicht genügen und ist es am Ende nicht fast gewiß, dass Du Dir während des städtischen Gerichtsjahres eine literarische Stellung verschaffst, die alles andere unnöthig macht.
Ich allerdings wäre wie ein Verrückter nach Komotau gelaufen, allerdings brauche ich keine Thätigkeit besonders da ich ihrer nicht fähig bin, und wenn mir auch ein Wald vielleicht nicht genügen würde, so habe ich doch - das ist klar - während des Gerichtsjahres nichts fertig gebracht.
Und dann ein Beruf ist machtlos, sobald man ihm gewachsen ist, ich würde mich unaufhörlich während der Arbeitsstunden - es sind doch nur 6 - blamieren und ich sehe, dass Du jetzt alles für möglich hältst, wie Du schreibst, wenn Du glaubst, dass ich zu einem ähnlichen Unternehmen fähig wäre!
Dagegen das Geschäft und der Trost am Abend. Ja wenn man durch Trost schon glücklich würde und nicht auch ein wenig Glück zum Glücklichsein nöthig wäre.
Nein, wenn sich bis Oktober in meinen Aussichten nichts bessert, mache ich den Abiturientenkurs an der Handelsakademie und lerne zu Französisch und Englisch noch Spanisch. Wenn Du das mit mir machen wolltest, das wäre schön; was Du beim Lernen mir gegenüber vor hast, würde ich durch Ungeduld ersetzen; mein Onkel müßte uns einen Posten in Spanien verschaffen oder wir würden nach Südamerika fahren oder auf die Azoren, nach Madeira.
Vorläufig darf ich noch bis zum 25. August hier leben. Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich bade viel, ich liege lange nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig verliebten Mädchen im Park, ich habe schon Heu auf der Wiese umgelegt, ein Ringelspiel aufgebaut, nach dem Gewitter Bäumen geholfen, Kühe und Ziegen geweidet und am Abend nachhause getrieben, viel Billard gespielt, große Spaziergänge gemacht, viel Bier getrunken und ich bin auch schon im Tempel gewesen. Am meisten Zeit aber - ich bin sechs Tage hier - habe ich mit zwei kleinen Mädchen verbracht, sehr gescheidten Mädchen, Studentinnen, sehr socialdemokratisch, die ihre Zähne aneinanderhalten müssen, um nicht gezwungen zu sein bei jedem Anlaß eine Überzeugung, ein Princip auszusprechen. Die eine heißt Agathe, die andere Hedwig. Agathe ist sehr häßlich und Hedwig auch. H. ist klein und dick, ihre Wangen sind roth ununterbrochen und grenzenlos, ihre obern Vorderzähne sind groß und erlauben dem Mund nicht, sich zu schließen, und dem Unterkiefer nicht, klein zu sein; sie ist sehr kurzsichtig und das nicht nur der hübschen Bewegung halber, mit der sie den Zwicker auf die Nase - deren Spitze ist wirklich schön aus kleinen Flächen zusammengesetzt - niedersetzt; heute Nacht habe ich von ihren verkürzten dicken Beinen geträumt und auf diesen Umwegen erkenne ich die Schönheit eines Mädchens und verliebe mich. Morgen werde ich ihnen aus den "Experimenten" vorlesen, es ist das einzige Buch, das ich außer Stendhal und den "Opalen" bei mir habe.
Ja, wenn ich auch die "Amethyste" hätte, würde ich Dir die Gedichte abschreiben, aber ich habe sie im Bücherkasten zuhause und den Schlüssel habe ich bei mir, um ein Sparkassabuch nicht entdecken zu lassen, von dem niemand zu Hause weiß und das für mich meinen Rang in der Familie bestimmt. Hast Du also bis zum 25ten August nicht Zeit, dann schicke ich Dir den Schlüssel.
Und jetzt bleibt mir nur übrig, Dir mein armer Junge für die Mühe zu danken, die Du hattest, um Deinen Verleger von der Güte meiner Zeichnung zu überzeugen.
Heiß ist und nachmittag soll ich im Wald tanzen.
Grüße ich bitte Deine Familie von mir

Dein Franz

[Es folgen in Abschrift einige Gedichte von Max Brod.]


Triesch: Eine kleine Stadt bei Iglau in Mähren, wo sich Kafka bei seinem Onkel, dem Arzt Siegfried Löwy (1867 - 1942), aufhielt.
Komotau: In dieser Stadt am Fuße des Erzgebirges hatte Brod vorübergehend einen Posten in der Finanzbezirksdirektion.
Gerichtsjahres: Die einjährige Rechtspraxis, die für alle Juristen, die in den staatlichen Dienst eintreten wollten, vorgeschrieben war. Kafka hat sie ab 1. Oktober 1906, zuerst beim Landesgericht, dann beim Strafgericht in Prag absolviert (WB 136).
Onkel: Kafkas "Madrider Onkel", Alfred Löwy (1852 - 1923), der damals Direktor einer spanischen Eisenbahn war (siehe Anthony Northey, Kafkas Mischpoche, Berlin: Wagenbach 1988, S. 31 - 38).
Hedwig: Die damals 19jährige Hedwig Weiler (1887 - 1953), die in Wien studierte, hielt sich in Triesch bei Verwandten auf. Über die Beziehung, die sich zwischen den beiden entspann und bis Ende 1908 dauerte, geben Kafkas Briefe an sie Auskunft (Br 39 - 65.) Sie hat sich später - als Dr. Hedwig Herzka - vor allem der Förderung der zionistischen Jugend in Österreich gewidmet.
Experimenten: Max Brod: " "Experimente" - eines meiner frühen Novellenbücher (Stuttgart, 1907). Darin stellt eine der Gestalten (Carus in der Novelle "Die Insel Carina") Franz Kafka dar, wie ich ihn damals sah."
Diese, die zweite, Geschichte entstand bereits 1904 und stellte Kafka als "Ästheten" dar. Siehe SL 184.
Stendhal: Möglicherweise das "Journal de Stendhal, 1801 - 1814", Paris: Charpentier 1899, das sich unter Kafkas nachgelassenen Büchern befindet.
Opalen: Die 1907 von Franz Blei als Privatdruck herausgegebene Zeitschrift "Die Opale. Blätter für Kunst und Litteratur." Brod hatte schon im ersten Heft (Erster Halbband, S. 17 - 21) "Launen des Eros. Ein skizzierter Roman" veröffentlicht; hier handelt es sich um das zweite Heft, in dem Brod durch "Vier Gedichte" (S. 182 - 184) vertreten war.
Amethyste: "Der Amethyst" war eine Zeitschrift, die ebenfalls von Franz Blei herausgegeben wurde. Offenbar hatte Brod - im Hinblick auf die Vorbereitung seines ersten Gedichtbandes "Der Weg des Verliebten", Berlin etc.: Juncker 1907 [erschienen 1908] - um eine Abschrift seiner 1906 im "Amethyst" erschienenen Gedichte gebeten: "Von Küssen" (vgl. Der Weg des Verliebten, S. 23), "Von einem Fläschlein" (vgl. ebd. S. 66) und "Die Solitüde oder Von drei Rosenketten". Da Kafka den entsprechenden Band nicht mitgenommen hatte, hat er - als Anhang zu diesem Brief lediglich die vier kurz zuvor in den "Opalen" erschienenen Gedichte, um die Brod wohl ebenfalls gebeten hatte, abgeschrieben: "Das schöne Mädchen spricht" (vgl. Der Weg des Verliebten, S. 5 - 6), "Erinnerung" (vgl. ebd. S. 67), "Sehnsucht" und "Nächtliche Gesellschaft".
Zeichnung: Max Brod: "Kafka hatte eine Zeichnung für den Einband meines Buches "Der Weg des Verliebten" (Stuttgart, 1907) entworfen. Für dieses Buch war vorher der Titel "Erotes" geplant."
Im November 1907 schreibt Kafka an Hedwig Weiler: " "Erotes" werden bald unter dem Titel "Der Weg eines Verliebten" erscheinen, aber ohne mein Titelblatt, das sich als nicht reproduzierbar erwiesen hat." .
Gedichte: Max Brod: "Einige Gedichte, die Kafka in einer anderen Zeitschrift gefunden haben mußte und die er mir, gewissermaßen als "Entschädigung", mitsandte."

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at