Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Oskar Pollak]
[Prag, 10. Januar 1904; Sonntag]

Abends, halb elf.
Ich schiebe den Marc Aurel zur Seite, ich schiebe ihn schwer zur Seite. Ich glaube, ich könnte jetzt ohne ihn nicht leben, denn schon zwei, drei Sprüche, im Marc Aurel gelesen, machen gefaßter und straffer, wenn auch das ganze Buch nur von einem erzählt, der mit klugem Wort und hartem Hammer und weitem Ausblick sich zu einem beherrschten, ehernen, aufrechten Menschen machen möchte. Aber man muß gegen einen Menschen ungläubig werden, wenn man immerfort hört, wie er zu sich redet: "Sei doch ruhig, sei doch gleichgültig, gib die Leidenschaften dem Wind, sei doch standfest, sei doch ein guter Kaiser!" Gut ist es, wenn man sich vor sich selbst mit Worten zuschütten kann, aber noch besser ist es, wenn man sich mit Worten ausschmücken und behängen kann, bis man ein Mensch wird, wie man es im Herzen wünscht.
Du machst Dir in Deinem letzten Brief ungerechte Vorwürfe. Mir tut es gut, wenn mir einer eine kühle Hand reicht, aber wenn er sich einhängt, ist es mir schon peinlich und unverständlich. Du meinst, weil es zu selten geschehen ist? Nein, nein, das ist nicht wahr. Weißt Du, was an manchen Leuten Besonderes ist? Sie sind nichts, aber sie können es nicht zeigen, nicht einmal ihren Augen können sie es zeigen, das ist das Besondere an ihnen. Alle diese Menschen sind Brüder jenes Mannes, der in der Stadt herumging, sich auf nichts verstand, kein vernünftiges Wort herausbrachte, nicht tanzen konnte, nicht lachen konnte, aber immer krampfhaft mit beiden Händen eine verschlossene Schachtel trug. Fragte ihn nun ein Teilnehmender: "Was tragen Sie so vorsichtig in der Schachtel?", da senkte dann der Mann den Kopf und sagte unsicher: "Ich verstehe mich zwar auf nichts, das ist wahr, ich kann zwar auch kein vernünftiges Wort herausbringen, ich kann auch nicht tanzen, auch lachen kann ich nicht, aber was in dieser, wohlgemerkt verschlossenen Schachtel ist, das kann ich nicht sagen, nein, nein, das sage ich nicht." Wie natürlich, verliefen sich nach diesen Antworten alle Teilnehmenden, aber doch blieb in manchen von ihnen eine gewisse Neugier, eine gewisse Spannung, die immer fragte: "Was ist denn in der verschlossenen Schachtel?", und um der Schachtel willen kamen sie hin und wieder zu dem Mann zurück, der aber nichts verriet. Nun, Neugierde, derartige Neugierde wird nicht alt und Spannung lockert sich, niemand hält es aus, nicht endlich zu lächeln, wenn eine unscheinbare, verschlossene Schachtel mit ewiger unverständlicher Ängstlichkeit gehütet wird. Und dann, einen halbwegs gutartigen Geschmack haben wir ja dem armen Mann gelassen, vielleicht lächelt er selbst endlich, wenn auch ein wenig verzerrt. - Was an Stelle der Neugier jetzt kommt, ist gleichgültiges fernstehendes Mitleid, ärger als Gleichgültigkeit und Fernstehn. Die Teilnehmenden, die kleiner an Zahl sind als früher, fragen jetzt: "Was tragen Sie denn so vorsichtig in der Schachtel? Einen Schatz vielleicht, he, oder eine Verkündigung, nicht? Na, machen Sie nur auf, wir brauchen beides, übrigens lassen Sie es nur zu, wir glauben es Ihnen auch ohnedem." Da schreit es plötzlich einer besonders grell, der Mann schaut erschrocken, er war es selbst. Nach seinem Tode fand man in der Schachtel zwei Milchzähne.

Franz


Marc Aurel: Marcus Aurelius Antoninus, römischer Kaiser (26. April 121 bis 17. März 180); Regierungszeit: 161 - 180 n. Chr. Von 168 an bis zu seinem Tod schrieb er die "Selbstbetrachtungen" ("Commentarii"). Kafka könnte die Ausgabe "Selbstbetrachtungen / neu verdeutscht u. eingel. von Otto Kiefer" (Leipzig: Diederich, 1903. - XXXI, 175 S.) besessen haben.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at