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[An Oskar Pollak]
[Liboch, Ende August/Anfang September 1902]

Es ist eine wunderliche Zeit, die ich hier verbringe, das wirst du schon bemerkt haben und ich habe so eine wunderliche Zeit gebraucht, eine Zeit, in der ich stundenlang auf einer Weinbergmauer liege und in die Regenwolken starre, die nicht weg wollen von hier oder in die weiten Felder, die noch weiter werden, wenn man einen Regenbogen in den Augen hat oder wo ich im Garten sitze und den Kindern (besonders eine kleine blonde sechsjährige, die Frauen sagen, sie sei herzig) Märlein erzähle oder Sandburgen baue oder Verstecken spiele oder Tische schnitze, die - Gott sei mein Zeuge - niemals gut geraten. Wunderliche Zeit, nicht?
Oder wo ich durch die Felder gehe, die jetzt ganz braun und wehmütig dastehen mit den verlassenen Pflügen und die doch ganz silbrig aufleuchten, wenn dann trotz allem die späte Sonne kommt und meinen langen Schatten (ja meinen langen Schatten, vielleicht komm ich noch durch ihn ins Himmelreich) auf die Furchen wirft. Hast Du schon gemerkt, wie Spätsommerschatten auf durchwühlter dunkler Erde tanzen, wie körperhaft sie tanzen. Hast Du schon gemerkt, wie sich die Erde entgegenhebt der fressenden Kuh, wie zutraulich sie sich entgegenhebt? Hast Du schon gemerkt, wie schwere fette Ackererde unter den allzu feinen Fingern zerbröckelt, wie feierlich sie zerbröckelt?

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at