Jede soziale oder professionelle Gruppe hat Normen und Vorstellungen darüber, wie man in richtiger Weise Bäcker (oder Verkäuferin oder Fußballtrainer etc.) sein soll. Bei den Beamten gibt es aber einen spezifischen Unterschied: für sie war die Verpflichtung, sich so zu verhalten, dass das Ansehen des Staates und des Amtes nicht geschädigt wird, auch im Dienstrecht enthalten. Ein Beamter, der ein unehrenhaftes Leben führte, war nicht in der Lage, den Staat zu repräsentieren. Wenn also die Grenzen der standesgemäßen Lebensführung überschritten wurden, konnte das zu Disziplinarverfahren und Disziplinarstrafen führen. Das betraf Übertretungen im Dienst (z.B. unentschuldigtes Fernbleiben, Unterschlagung, Trunkenheit, Gewalt gegenüber Parteien, Mittragen politischer Schriften…) oder im Privatleben (z.B. exzessives Schuldenmachen, Teilnahme an politischen Demonstrationen, sexuelle Übergriffe …). Beamte, die strafrechtlich verurteilt wurden, erhielten zusätzlich Disziplinarstrafen, die von bloßen Verweisen bis zu fristlosen Entlassungen reichen konnten.

Die betreffenden Absätze in der Dienstpragmatik sind relativ vage wenn es darum geht, festzulegen, was ein Disziplinarvergehen ist. § 24 besagt, dass Staatsbedienstete das Standesansehen in und außer Dienst wahren müssen. Er muss sich stets im Einklang mit den Anforderungen der Disziplin verhalten und alles vermeiden, was die Achtung und das Vertrauen, die seine Stellung erfordern, schmälern könnte. Weitere Paragraphen betreffen den Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen und andere Personen, die mit Beamten zu tun haben. Beamte sollen sich gegenüber Vorgesetzten respektvoll und gegenüber Kollegen und Dritten anständig verhalten. Dann gibt es noch einige Anmerkungen zur Mitgliedschaft in politischen Organisationen, Nebenbeschäftigungen sowie An- und Abwesenheiten im Dienst. War eine mutmaßliche Disziplinarverfehlung vorgefallen, so bildeten Vorgesetzte innerhalb der Organisation, in der die beschuldigte Person arbeitete, eine Kommission. In komplizierten oder kontroversiellen Fällen wurde eine zweite Instanz angerufen (für die meiste Zeit, die in meinem Projekt untersucht wird, lag die Zuständigkeit dafür beim Bundeskanzleramt).

Diese Vagheit der Dienstpragmatik ist für meine Forschungszwecke sehr günstig: Die Grenzen von Anständigkeit und Standesgemäßheit mussten in den Disziplinarkommissionen ausverhandelt werden. Die Kommissionsmitglieder erörterten, ob es sich um ein Disziplinarvergehen oder bloß eine Ordnungswidrigkeit handelte, wie schlimm das Vergehen gegebenenfalls war und ob bzw. welche Strafen daher verhängt werden sollten. In manchen Fällen beeinspruchte die beschuldigte Person die Anschuldigungen. Manche Akten enthalten auch Eingaben von Zeugen (Kollegen, Verwandten, Geliebten etc.). So ergeben sich Einblicke in Leben und Lebensführung von Beamten im Rahmen des beruflichen, aber oft auch des privaten Umfelds.

Im Österreichischen Staatsarchiv (Archiv der Republik) gibt es einen Bestand von ca. 1000 zweitinstanzlichen Disziplinarakten, die von der Disziplinaroberkommission beim Bundeskanzleramt bearbeitet worden waren. Aus diesen Fällen, welche die Jahre 1916 – 1938 abdecken, werde ich in folgenden Blogposts Beispiele bringen.