Gerhard AINZ,
1995, Raumbezogene Identität. Mit einem Ausblick auf neuere Entwicklungen in der Sozialgeographie am Beispiel neuerer Arbeiten von Benno Werlen und Jürgen Pohl. Eine identitätstheoretische Kritik. - Salzburg, Geogr. Diplomarbeit, NW-Fakultät der Universität, 165 S.

Raumbezogene
Identität

24 Juni 2002


Ein Besprechung der Diplomarbeit

© Peter Weichhart, 1999


In einem sehr klar und eingängig formulierten Einleitungskapitel stellt der Autor die Zielsetzung seiner Literaturanalyse vor. Es geht ihm darum, die aktuelle innergeographische Auseinandersetzung zum Thema "raumbezogene Identität" auf den im Fach Geographie erstaunlich unterbelichteten Hintergrund der persönlichkeitspsychologischen Identitätstheorien zu beziehen.

Im ersten Hauptteil stellt der Autor (unter Bezug auf seine einschlägige Diplomarbeit im Fach Psychologie) zunächst Überlegungen zum Identitätsbegriff an. Er zeigt die verwirrende Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit dieses "schillernden" Begriffs auf und versucht dann, durch eine analytische Differenzierung der verschiedenen Dimensionen und Bedeutungsaspekte zu einer vorläufigen Abgrenzung des Konzepts zu gelangen. Darauf wird eine genauere Analyse von vier prominenten Identitätstheorien vorgenommen, wobei vor allem auch der Frage nachgegangen werden sollte, welche Ansatzpunkte diese Theorien für eine Einbeziehung der raumbezogenen Identitätsdimension bieten können. Diskutiert werden die Identitätstheorien von W. JAMES, G. H. MEAD, E. GOFFMAN und E. H. ERIKSON. Der relativ ausführlichen zusammenfassenden Darstellung der Einzeltheorien folgt jeweils ein eigener Abschnitt, in dem eine kritische Wertung vor dem Hintergrund der eigenen Problemstellung vorgenommen wird. Dabei geht es unter anderem auch um den Stellenwert, welcher der physisch-materiellen Dingwelt in den besprochenen Theorien für die Entstehung und Ausdifferenzierung von Identität zugeschrieben wird.

Dieser erste Hauptteil ist dicht und prägnant formuliert, bezieht sehr geschickt wichtige Sekundärliteratur in die eigenen Überlegungen und Wertungen ein und vermittelt insgesamt eine pointierte und gut nachvollziehbare Darstellung der behandelten Theorien. In einem ausführlichen Resümee (Kapitel 3) werden die wichtigsten Ergebnisse der Analyse vor dem Hintergrund der Fragestellung der möglichen "raumbezogenen" Aspekte von Identität formuliert. Als Gemeinsamkeit der diskutierten Theorien wird der zentrale Stellenwert der Identität für die Herstellung einer Relation zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Psychischen herausgestellt. Eine weitere Leistung von Identität sieht der Autor in ihrer Funktionalität für die Integration verschiedener Rollen- und Selbstbilder. Als generelles Defizit der psychologischen Identitätstheorien moniert er die nur unzureichende Thematisierung der identitätsstiftenden Wirkung räumlich-gegenständlicher Umwelten. Die zentralen Bestimmungsmomente von Identität stellen nach seiner Auffassung die Dimensionen Bindung/Autonomie, Konsistenz/Kohärenz und Kontinuität dar.

Im zweiten Hauptteil setzt sich der Autor mit zwei bedeutenden Vertretern der neueren Sozialgeographie (B. WERLEN und J. POHL) auseinander und versucht, deren Zugang zum Thema der "raumbezogenen Identät" zu rekonstruieren. Die inhaltliche Argumentation ist dabei formal sehr geschickt aufgebaut. In kürzeren Abschnitten werden wichtige Themenkomplexe aus dem Werk von WERLEN und POHL in objektivierender Weise dargestellt. Auf diese Rekonstruktion von Teilbereichen der referierten Konzeptionen folgen "kritische Zwischenbemerkungen" des Autors, in denen einzelne Kritikpunkte herausgearbeitet und ausführlich begründet werden.

An der Grundkonzption der handlungstheoretischen Sozialgeographie WERLENs, deren Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faches ausdrücklich hervorgehoben wird, kritisiert der Autor die seiner Auffassung nach unzureichende Berücksichtigung des Individuums und seiner emotionalen wie unbewußten Motivlagen. Damit würde gleichsam das handelnde Subjekt abhanden kommen. Zur Begründung seiner Kritik verweist der Autor auf Thesen der Symbolischen Handlungstheorie von E. E. BOESCH. Bei der Besprechung der WERLENschen Raumkonzeption (Abschnitt III.1.2.1) kann die Argumentation des Autors nicht voll überzeugen. Hier sind Widersprüche in der Beurteilung festzustellen: Einerseits wird die (unangemessene) Kritik von G. HARD und G. BAHRENBERG anscheinend geteilt, andererseits beklagt der Verfasser die ungenügende Thematisierung des "gelebten Raumes". Der zentrale Punkt der Kritik an den Konzepten WERLENs liegt für den Autor im zu unspezifischen Verständnis von Identität, deren persönlichkeitspsychologisch beschreibbare Funktionalität nicht ausreichend erfaßt und berücksichtigt werde. Es wird aufgezeigt, daß das WERLENsche Konzept von sozialer und kultureller Identität von der individuellen Erfahrungsbasis dieses Phänomens allzu stark abstrahiert und damit auch die zentrale "Leistung" von Identität verfehlt, nämlich die Verkoppelung von sozialer und subjektiver Welt.

Auch an den Konzepten von J. POHL kritisiert der Autor die unzureichende Thematisierung der personalen Identität, die schon in der Präferenz für den Terminus "Regionalbewußtsein" zum Ausdruck kommt. Damit sei auch eine unzulässige Reduktion auf einen bestimmten, nämlich den regionalen Maßstabsbereich von Identifikationsprozessen verbunden. Durch die damit vorgenommene Entkoppelung der verschiedenen Maßstabsebenen raumbezogener Identität würde dieser Ansatz wesentliche Erklärungsmomente des Phänomens in reduktionistischer Weise unberücksichtigt lassen.

In einer "abschließenden Bewertung" nimmt der Psychologe AINZ gegen die generelle "Psychophobie" neuerer sozialgeographischer Theorieansätze Stellung. Durch diese Grundhaltung, bei der psychische Prozesse geradezu tabuisiert werden, blieben wesentliche Bereiche der Mensch-Umwelt-Beziehungen ausgeblendet. Vor allem aber würde damit die zentrale Bedeutung von Identität für die Klärung des Verhältnisses von Individuum und Sozialsystem übersehen. Als Hinweis auf die Möglichkeit einer sinnvollen Weiterentwicklung sozialgeographischer Theoriebildung skizziert der Autor im letzten Abschnitt in sehr knapper, aber inhaltlich adäquater Form einige Aspekte der "symbolischen Handlungstheorie" von E. E. BOESCH.

Insgesamt muß aber festgehalten werden, daß es dem Autor in dieser Arbeit gelungen ist, sehr komplexe Theorieansätze sowohl im Fach Psychologie als auch im Fach Geographie angemessen darzustellen, analytisch zu durchdringen, kritisch zu bewerten und miteinander in Beziehung zu setzen. Auch wenn ihm - vor allem bei der Besprechung der Thesen B. WERLENs - einige Fehleinschätzungen unterlaufen sind und seine Kritik in Einzelaspekten etwas überpointiert erscheint, kann dem Autor eine beeindruckend tiefgehende und kompetent formulierte Problemdarstellung bescheinigt werden.

 

 

Zurück zu Diplomarbeiten Raumbezogene Identität