mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.4/Dezember

Miszelle

8. Zu einer neuerdings sich zutragenden Verdopplung der Musikwelt, wie sie im österreichischen Rundfunk sich darstellt. 3831 Zeichen.

Nein, nicht um die immer auch verdoppelnde Repräsentation von Repräsentationssystemen geht es. Daß die Künste in Art, Umfang und Kritik eine Abbildung durch die "natürliche" Klassifikation der räumlichen (Papier) und zeitlichen (e-Medien) Darstellungsmedien erfahren, ist eine kunsttheoretisch kaum reflektierte, kunstpolitisch jedoch zuweilen genutzte Tatsache. Daß im Radio die akustischen Künste der Musik, des Musik- bzw. Hör-Theaters und der Literatur gegenüber den visuellen Künsten vorherrschen, stellt eine medial notwendige Verzerrung der klassischen, sachgerecht balancierten Philosophie der Künste dar, die bestenfalls durch achtsame Intendanten ausgeglichen werden kann. Doch auch die kommerziell wie institutionell ausdifferenzierte (Ein-)Teilung in E und U, wie sie seit einigen Jahrzehnten in Radio- und dann indirekt auch in TV-Kanälen festgelegt wird, hat sich erst zu einer Dopplung in den 50er/60er Jahren ausgestaltet, als der Ernst der klassischen Musik in die Avantgarde der neuen abwanderte und die populäre ihren Kunststatus durch einen partiellen Rückgriff auf das Archiv alter und neuer E-Musik repräsentativ formierte (Baroque Rock, Art Rock). Doch damit nicht genug, verschoben sich die Fronten erneut. War im österreichischen Radio 1967 neben dem staatlich gravitätischen Kanal Ö1 und den 9 volkstümlich orientierten Bundesländersendern der Popsender Ö3 installiert worden - dessen rockavantgardistische Sendung Music-Box von André Heller oder dem heutigen Ö1-Chef Alfred Treiber auf den Weg gebracht wurde - , so gab es seit den 80er Jahren den politisch akzentuierteren Music-Box-Ableger Zick-Zack, welch beide Sendungen 1995 zum glücklicherweise immer noch staatlichen Halbtageskanal FM4 ausgelagert wurden. Der Effekt ist, wie er aus den technologischen und kommerziellen Entwicklungen von Radio und Fernsehen ebenso hervorgeht wie aus den parallel verlaufenden Entwicklungen in der 90er-Jahre-Popbranche (Internet und massenproduzierte CD-Brenner, independent labels und multikulturell informierte neue Gattungen) - eine Verdopplung der Popmusik von FM4 gegenüber Ö3. Wo immer auch die Ecke der progressiven Musik in Ö3 geblieben sein mag (unprogrammierte Einsprengsel wie das Porträt von Kurt Cobain zu dessen Tod 1994), ihr gegenüber stehen die auf FM4 strukturell dem mainstream entgegengesetzten fünf "Jugend-Avantgarde"-Genres. Als reine Musikprogramme ebenso wie Identifikationskulturen sind hier Independent und Alternative Rock, House, Heavy Metal, Hip Hop und Techno zur Mormalität je gleicher Dauer geworden. Vor diesem Hintergrund und demjenigen des traditionellen Mainstream von Ö3 (sogar gegen Hits wie Cheryl Crow's All I Wanna Do Is Have Some Fun, Youssoun'd'Our/Neneh Cherry's 7 Seconds of Waiting oder Lenny Kravitz, I Wanna Fly Away) spiegeln FM4s 40 Nummern der 90er Jahre (siehe http://fm4.orf.at) eine bemerkenswerte Entwicklung: Auch in der traditionell als nicht-seriös angesehenen Jugendmusik kehrt die Trennung von E und U wieder; auch in der Popwelt und ihren Sendern, Magazinen, Contests, Shows macht sich eine Teilung bemerkbar. Abgesehen davon nämlich, daß im traditionellen E-Bereich international eine Spaltung in weitgehend kommerzielle Klassiksender und marginalisierten Sendungen von neuer, romantisch-klassischer, klassisch-barocker, mittelalterlicher und traditionell ethnischer bzw. Volksmusik abzusehen ist, stehen wir vor der Strukturierung von nur auf den ersten Blick existierenden Paralleluniversen der Popmusik. Von voreiligen ästhetischen Wertungen und Präferenzen einmal abgesehen, wird es immer schwieriger werden, über die Musikwelt einen Überblick zu wahren. Und wie ist das erst in denanderen Kunstwelten? Und wie gar mit der Kunstwelt, sofern es überhaupt möglich ist, von einer einzigen oder einer auf Kunstgattungen und damit gesellschaftlich-kulturellen Bereichen bezogenen Welt der Kunst zu sprechen? Doch damit beginnt erst die Arbeit der Ästhetik als einer allgemeinen Kunsttheorie. Daß die Musikwelt eine pluralistisch vielfältige ist, wird seit den 80er Jahren allgemein zugegeben. Daß aber diese Vielfalt nun strukturell, kommerziell und institutionell jeweils komplexe Eigenleben zu leben beginnt - , dies wird in groben Umrissen nun langsam sichtbar. Kann sie noch auf den Begriff gebracht werden?

(c) Peter Mahr 1999

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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