mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999, Nr.3/September

Aesthetica

2. Beredtes Schweigen. Vortrag für die 20-minütige Präsentation innerhalb der Einführungswoche zum Lehrangebot des Studienjahrs 1995/96 am Institut für Philosophie der Universität Wien im Oktober 1995. Mit einem Zusatz zum Schweigen in der Musik von Haydn, Schulhoff und Cage. Dank an Gunther Schneider. Radu Malfatti gewidmet . Zeichen.

"Si tacuisses philosophus mansisses." "Wenn du geschwiegen hättest, wärst du Philosoph geblieben." <Boethius (~480-524), ~524>

Würde ich jetzt sprechen, dann befolgte ich die im Satz enthaltene Regel nicht - und wäre kein Philosoph. Aber halt! Das bezieht sich ja auf die Vergangenheit, die es nun, zu Beginn, noch gar nicht gibt.

Die Frage ist zu stellen: Habe ich bereits gesprochen? Nein, ich habe nicht gesprochen. Die Einführungszeit stellt jedenfalls den Sprechenden auch als mich selbst fest, ich, der sich jetzt (zu Beginn des Semesters) hier (vor der Tafel im Hörsaal) befindet. - Wie aber kann ich als Feststellung über mich und von mir ein Ereignis ansprechen, das gar nicht stattgefunden hat, zumindest noch nicht? Ich spreche also nicht und bleibe Philosoph. Zweifelsohne bin ich als der, der sich jetzt hier in der Philosophie befindet, noch ohne daß er gesprochen hat, ein Philosoph. Und doch weiß jeder, daß ich erst den mir zugeschriebenen Status eines Philosophen einnehme, indem ich durch einen sprachlichen Akt mich selbst als Philosoph in diesen Raum einbringe, indem ich diesen Status spreche, anspreche und von der Institution als eben dieser gesprochen, angesprochen und versprochen werde.

Die Frage ist noch einmal zu stellen: Habe ich bereits gesprochen? Nein, denn nicht ich habe gesprochen, sondern der, den zu zitieren mir als der Andere die philosophische Autorität verleiht, indem er mir zu schweigen erlaubt. Genauer - von nun an, so lerne ich, schweige ich. Noch habe ich nichts gesagt - und dabei soll es auch bleiben.

- - - <Im folgenden schwieg ich rund zwei Minuten. Auf bald geäußerte, zum Teil unwirsche Fragen reagierte ich kaum und ohne zu sprechen.>

Trotzdem ist die Frage noch einmal zu stellen, denn habe ich nicht bereits gesprochen? Ja, ich habe gesprochen. Wenn ich auch nicht geredet habe, dann habe ich zumindest jenen Satz eben angeschrieben, der mir als Referent die Identität des Philosophen verleiht - wenn auch im nachhinein - beziehungsweise bestätigt. Die Sprache hat nicht geschwiegen, wenn davon auszugehen ist, daß unserer Tradition gemäß das Schreiben zur geredeten Sprache, zum Sprechen gehört, die Rede ersetzt und wiederholt.

Ob ich nun rede oder schreibe, in welcher Form auch immer spreche, und ob ich diesen Akt verweigere - , indem ich hier etwas unbeholfen einen philosophischen Truismus bemühe, dem Boethius in seiner Wahrheit teilhaftig geworden zu sein glaubte, - so gilt, daß die traditionell begehrte Souveränität des Philosophen so nicht zu bekommen ist. Denn gerade das Wort ist es, das auszusprechen ihm erst zur Anerkennung seines philosophischen Status verhalf.

Ob das Schweigen jedoch im Sprechen selbst - also in paradoxer Intention - zuverwirklichen sei, ist das Problem und die Aufgabe, um die es der Philosophie quer zu traditioneller Wissenschaft und Politik, zu Gemeinplatz und Diskurs gehen sollte. Wir wissen: der Wunsch, dem Irrtum nicht anheimzufallen (nicht zu sprechen), dem Schlechten uns nicht auszuliefern (nicht zu handeln), dem Bild des Unvollkommenen zu entfliehen (nicht anzuschauen) ist seit langen das Anliegen der Philosophie. Sollen wir die Enthaltung also feiern, um der Frage des Themas, des philosophischen Gegenstandes enthoben zu sein? Eben nicht darüber sprechen? Nicht sprechen überhaupt? - oder nur darüber schweigen, wovon man nicht sprechen kann?

Ich schweige also, noch bevor ich überhaupt über irgend etwas zu sprechen begonnen habe, ziehe mich in das Andere der Philosophie zurück, denn schließlich stand Boethius dort: Aus dem Anderen der Philosophie schien es ihm möglich, den Philosophen außer und wohl auch in ihm zu adressieren. Er selbst schweigt nun, hätte am liebsten gar nicht getan, was ihn selbst der Unmöglichkeit des Philosophierens überführt - zu sprechen! Boethius! Wenn du geschwiegen hättest, wärst du Philosoph geblieben.

Zusatz, Herbst 1999.

"Der schweigende Bürger ist ein schlechter Bürger", sagt Perikles. Will man jedoch Beoethius' Einsicht nicht preisgeben und verallgemeinern, dann heißt das für den redenden, Reden haltenden Bürger, insbesondere für den Intellektuellen, daß er in der Rede das Schweigen bewahren muß. Andererseits bedeutet das auch, daß die Philosophin/der Philosoph unter bürgerlichen Bedingungen so sprechen muß, daß er schweigt, daß er ein Schweigen im Raume des Sprechens vollzieht, daß er dieses Schweigen redend umkreist, daß er davon spricht, worüber zu schweigen ist. Wie dieser Zusammenhang zu begründen ist, gar in konkreten politischen Situationen mit einer Beförderung zum Besseren, zum Gerechten, zur Freiheit, zur Gleichheit angewendet werden kann, bleibt vorderhand unklar. Beispiele eines solchen beredten Schweigens gibt es in den Künsten. Die Frage ist und wird bleiben, was in dieser Hinsicht die Künste für die Politik bedeuten.

Es gibt eine Entsprechung: Was in Malerei und Skulptur die Monochromie, ist in der Musik die Stille. Seit langem sind sich Musizierende wie HörerInnen bewußt, daß es von der Stille drei Arten gibt. Am Beginn ist es der Akt der Konzentration, das Einatmen und Atemanhalten in derjenigen Sekunde, gleich nachdem der Begrüßungsapplaus verhallt ist. Dann handelt es sich traditionellerweise vor allem um die Pause der Musik, in ihr selbst. Schließlich ist es die Stille nach dem Schluß eines Stücks, und zwar unmittelbar bevor das Klatschen den musikalisch gestalteten Zeitraum in der Sinnlosigkeit des Lärms zerstäubt.

Joseph Haydn befaßte sich mehrfach mit Stille, wenn auch in sehr verschiedenen Formen. Innerhalb der musikalischen Rede bedeutet auch für diesen Komponisten des 18. Jahrhunderts die Stille ein Schweigen, weil sie nicht anders als beabsichtigt, veranstaltet und organisiert aufgefaßt werden kann. Dabei geht es ihm weniger um die Stille an sich - Haydn ist kein Moderner - , sondern um Bezeichnungen des Fernbleibens von Musik. Drei Beispiele zeigen, daß die vorgeführten oder ex negativo gezeigten Stillen konkret auf das Publikum zielen. Das Publikum ist das Objekt der Stille.

Bei der Aufführung der Symphonie Nr.45 in fis-moll für Streicher, zwei Oboenund zwei Hörner von 1772 gehen die Musiker in der letzten Passage des vierten Satzes einer nach dem anderen aus dem Konzertraum (damals löschten sie, wohl seit der Uraufführung, jeweils zuvor die fürs Notenlesen unabdingbaren Kerzen). Zwei Geiger blieben übrig, spielten den Satz zu Ende. Daß der Musik immer weniger wird, ist damit nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar. Wenn ein Musikstück ein mehr oder weniger absehbares Ende hat, so verstärkt doch in diesem Fall der Abtritt der Performer das vorweggenommene Ende. Es wird still und dunkel werden. Zudem weiß im Herbst 1772, daß die Musiker nicht mehr spielen wollen, nicht mehr in diesem Jahr. Die Stille kommt auf Schloß Esterhazy um so deutlicher auf das Publikum zu, als mit dem musikalisch vorgetragenen Ersuchen um Stille - das verdoppelte Schweigen des inszenierten Schlusses - der Fürst an das nicht wahrhaben gewollte Ende einer Saison erinnert wird, die ihm zu Beginn schon zu laut war und die er durch das Verbot des Aufenthalts der Frauen und Kinder der Musiker mit einem Schweigen belegte. Mit der Symphonie Nr.45 zahlt Haydn ihm das Schweigen heim. Der Fürst versteht sofort, was als "Abschiedssymphonie" berühmt werden sollte.

Mit einer 4-taktigen Pause täuscht, zumindest irritiert Haydn das Publikum über den Schluß. Es geht um jene Generalpause einige Takte vor der Coda seiner Symphonie Nr.90 in C-Dur für Streicher, Flöte, zwei Oboen, zwei Fagotte und zwei Hörner von 1788. Hier wie in der Symphonie Nr.94 von 1791 geht es wohl darum, ein Publikum "wachzurütteln" - zugleich ein noch ironisch gehaltener Selbstbezug des unaufhörlich Symphonien produzierenden Schöpfers, welcher die genialische Konzentration auf eine einzählige Anzahl der Symphonien ab Beethoven vorwegnimmt - , das sich dem allzu bekannten Ablauf hingibt, ohne noch auf der Höhe das Bewußtseins des musikalischen Augenblicks zu sein. Noch sind das negligeable Löcher, die das heitere Bürgertum als Witz akzeptiert. Nicht anders ist es um das Gegenteil der plötzlichen Stille, dem plötzlich kurzem Lautem bestellt. Die Differenz zwischen dem Stillen zum gewöhnlich Lauten verhält sich gleich zur Differenz des gewöhnlich Lauten zum ganz Lauten: ob der/die Zuhörererin eingeschlafen ist (wie oft boshaft vorgestellt wird) oder nur im süßen Mechanismus der Gleichförmigkeit mitschwingt, ist egal. Wenn in der Symphonie Nr.94 in G-Dur für 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabaß, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Trompeten und Pauken - die Symphonie mit dem Paukenschlag" (die "Surprise") - das Publikum erschrickt, dann hat jedenfalls die Trommel differenziell das Schweigen der tönenden Musik bezeichnet. Die symphonische Arbeit, die als Rede nicht mehr gehört wurde und zur bewußtseinsmäßigen Abwesenheit des Schweigens herabgesunken war, korreliert mit den "Träumenden", die laut oder leise aufgeweckt werden.

Was mit einer Generalpause beginnt, gipfelt in einem merkwürdigen Konglomerat von allgemeinster Pausen. Gemeint sind Erwin Schulhoffs 5 Pittoresken, op.31, 1919, Nr.III "In futurum". Mit der Vorschreibung "Zeitmaß-zeitlos" sind die 29 "leeren" 4/4-Takte der zwei Stimmen (eines Klaviers?) penibel genau in der Bandbreite von ganzen bis 32stel Pausen komplex rhythmisch notiert. Der 3/5- und der 7/10-Takt, die Vortragsbezeichnung "tutto in canzone con espressione e sentimento ad libitum, sin al fine!", die mit Rufzeichen versehenen, gleichzeitig notierten Fermaten und Gegenfermaten sowie ab- und aufsteigende (unkomplette) Fünftolen unterstreichen den Spaß. Der Spaß ist so ernst zu nehmen, daß er aufgeführt werden muß. Die emotiven Gehalte müssen also von den Spielern aufgeführt werden, ohne daß dazu noch auch nur irgend wie musikalischer Platz vorhanden wäre. Bei abwesendem Klanggeschehen bleibt eine Pantomime übrig, deren Ausführenden es die Stimme verschlägt und die zuletzt auf den Referenten Partitur verweist: Dort steht buchstäblich viel, real abernichts, nichts als Pausen - abstrakt gewordene Zeichen, so ornamental wie bedeutungslos.

Den Gestus, aber nicht die Auffassung, wiederholt Cage in seinem Stück 4' 33", tacet for any instrument/instruments. "Silence", wie das Stück nach einer anderen Arbeit von Cage bald genannt werden sollte, könnte die gleiche Performance wie bei Schulhoff sein, nur daß er nicht an einem Lied, sondern an einem Klavierstück der Form A-B-A (Tacet I, Tacet II, Tacet III) orientiert zu sein scheint. Vorgeschrieben, zumindest in der prototypischen Weise der Uraufführung durch David Tudor in Woodstock/N.Y. am 29. August 1952, ist ein Klavier, auf dem die drei "Sätze" (33", 2"40", 1'20") durch Zu- und Aufklappen des Klavierdeckels gespielt werden, ohne daß Vortrag noch irgend eine Rolle spielt. Der Pianist erscheint einem in der Haltung des Wartens. Doch das ist nur das Echo einer langen Aufführungspraxis, geschickt eingesetzt - in Wirklichkeit geht es um das Schweigen, das eine Stille eröffnet, die alles durchdringt. Das Material, das nun in Erscheinung tritt, beginnt zu sprechen: Geräusche im Publikum, außerhalb des Konzertraums, die eigenen Bewegungen, das eigene Atmen, vielleicht das Herz, die Körpergeräusch, auf die Cage mit Versuchspersonen in einem schalldichten Studio einer Radiostation schon in den 40er Jahren gestoßen war. Daß es sich dabei um ready-made akustische Ereignisse handelte, war dem an geräuschprä[parierten Klavieren ohnehin nur recht. Wir als Teilnehmer des Publikums von 4'33" sollten uns als präparierte Instrumente herausstellen, die nun plötzlich in die Stille versetzt wurden, die das eigene Schweigen als das Flüchtigste und am schwersten Festzuhaltende offenlegten. Bloßer Selbstbezug läßt das Schweigen als ein zunächst schier unerträgliches Lautsein empfinden; erst im Lauf der Zeit stellt sich mit dem Schweigen die Stille als etwas ein, als ein mit Anderen vielleicht geteiltes Verweilen, Meditieren. Darauf kam es Cage an: mit und nach dem Schweigen wieder das Hören zu erreichen. Ein Textteil aus "Silence" von 1961 bringt es auf den tranzendentalistischen Punkt: "Our intention is to affirm this life, not to bring order out of chaos or to suggest improvements in creation, but simply to wake up to the very life we're living, which is so excellent once one gets one's mind and one's desires out of the way and lets it act of its own accord."

(c) Peter Mahr 1999

mahr@h2hobel.univie.ac.at

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