mahr´svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.2/Juli

L'art philosophique

3. Wir probieren eine Existenz aus. David Cronenbergs Film eXistenZ (1999). 27289 Zeichen.

Wir gehen ins Kino und erwarten uns 90 Minuten Spannung. Damit ist nicht der spezielle Moment des suspense gemeint, sondern einfach, für diese Zeitspanne so in Bann gezogen zu werden, daß wir alles andere um uns herum einschließlich unserer selbst vergessen. Wie? Soll es darum gehen, uns der Illusion so anheimzugeben, wie wir das im Alltagsleben uns nie erlauben würden? Sogar die Liebe, das Fest, die Kunst und noch die religiösen Praktiken wollen oder müssen wir im festen Griff des Durchschauens haben. So will es der Realitätssinn, mit dem wir die Dechiffrierung von Illusionen oder illusionären Anteilen in unseren Erfahrungen gelernt haben. Sich der Illusion vollständig widmen: dazu, damit wir am Leben nicht zugrunde gehen, scheinen wir nur den Film zu haben.

Ob wir uns fürchten, aufregen, etwas erfüllt sehen, erhoffen, ob wir entzückt sind oder verstört - , immer wissen wir, daß es nur eine Illusion gewesen sein wird. Wenn wir uns auch nicht an diesem Nur selbst erfreuen, so ist es doch die Ausgestaltung dieses Nur, die uns dieses Nur umso mehr wertschätzen läßt, die Mittel des Films, des Plots, der Regie, der Farben, Orte, Einstellungen, Bilder, des Schauspiels und der Stars. Auf diese Art findet das Kino im Medium der Illusion mit all ihren Bestandteilen statt. Was die Kunst in der klassisch-modernen Auffassung ausmacht, ist die Ausgestaltung dieses Mediums in einer so starken Transparenz, daß eine Desillusionierung des Mediums der Illusion möglich wird - nicht diese selbst. Die Desillusionierung im Zuge der filmisch dargestellten Analyse der einzelnen Mittel des Films muß so vor sich gehen, daß sie den Genuß der Illusion nicht mindert, sondern verfeinert, mit einem Wort: daß die Abfolge von automatischen Weltprojektionen (8) nicht zerrissen wird.

Wir gehen ins Kino, neugierig und erwartungsvoll. eXistenZ? Soviel weiß jeder schon im voraus, daß der Titel des Films auch der Name von etwas ist: eXistenZ, ein Computerspiel. Das Ding versetzt mit allen Sinnen in derart lebensnahe Geschehnisse, daß wir nicht mehr von ihm lassen wollen. Soll es also in den Handel kommen? Wir befinden uns in einem Werk des kanadischen Filmemachers David Cronenberg, einem Horror-Science-Fiction-Film. Klar? Nein, nicht klar.

A. Die Ouvertüre zum Probelauf von eXistenZ ist dreifach.

Erstens. Der Film beginnt in einem auf alt gemachten, kleinkinoartigen Seminarraum. Der Star, die Gamedesignerin Allegra Geller, wird der auserwählten Fangemeinde vorgestellt. Aus dem Publikum, einer test marketing group, wird ein Dutzend Auserwählter auf die Bühne gebeten, um im Halbkreis mit Geller Platz zu nehmen. Sie legen die Hände auf einen laptop-großen fleischlichen Klumpen am Schoß und schließen die Augen.

Zweitens. Bevor jedoch mit der Meisterin in die Welt eigener imaginierter und erlebter Erzählungen gedriftet wird, bahnt sich ein Junge den Weg durch den Sicherheitskordon des geheimen Versammlungsorts. Er zielt mit einer pistolenähnlichen Waffe auf Geller. Die Schüsse verletzen Geller, aber ein Guard, Ted Pikul, kann die Frau aus dem Gemetzel retten. Er bringt sie im Autoaus der Stadt hinaus aufs Land. Das erinnert an manche Anfänge bei Hitchcock.

Drittens. Geller ist gegenüber der eigenen Firma mißtrauisch geworden. Sie überredet Pikul zu drei Dingen. Er setzt sich nicht mit der Firmenzentrale in Verbindung. Er entfernt die Kugel aus ihrer Schulter (ein Zahn). Und das wichtigste: Er probiert mit ihr "eXistenZ" aus. Das sei notwendiger denn je, um eventuell schwerwiegende Fehler im Programm zu identifizieren, beschwört Geller Pikul, sondern auch um ein unbedingtes Vertrauen herzustellen. Pikul steht also vor dem Sprung ins kalte Wasser, zugleich wird ihm eine Liebesgeschichte verheißen. Es ist die Initiation, die zur Hochzeit von Fleisch und Metall führt (1).

B. Das Spiel - ernst, aber heiter.

Der ordentliche, brave, leicht verängstigte Pikul. Er wird von einem kindlichen, hell gekleideten Jude Law, geb. 1972, gespielt, nach Cronenberg ein virginaler Schauspieler, der Reinheit verkörpert, mit der sich die Zuschauer identifizieren, und der Glück und Humor auszudrücken in der Lage ist (5). Er ist der Partner der jungen, schlanken, "subkulturellen" Allegra, die anfangs mit einer Reptilfrisur auftritt - es ist die souveräne, coole, verführerische Jennifer Jason Leigh, 37, die die Erfahrung der plugs überzeugend vorgibt und, so Cronenberg, mit schrägen Aufnahmewinkeln und wenig schmeichelhaften Einstellungen die Ambivalenz von Ängstlichkeit und großem Schauspiel verkörpert (5).

Aber wird Pikul sich - für eine Session mit eXistenZ - einen speziellen Gameport (Buchse) namens "bioport" in die Wirbelsäule auf Nabelhöhe plombieren lassen? Noch dazu von einem Tankwart mit schmutziger Spezialflinte - diabolisch gespielt von William Dafoe, dem Jesus in The Last Temptation of Christ - , der das Individuum behandelt, als ob es auf ein Auto reduziert wäre (1)? Es geht darum, sich mit nabelschnurähnlichen Kabeln an den game pod (Spielbauch) anzuschließen, der in die Halluzination einer geträumten Spielwelt führt. Aber diese Droge, ein fleischiges Etwas von einem Rucksack, iMac, Befriedigungsorgan oder Bauch von Schwangeren oder Dicken, das in der Form an eine Zeichnung Freuds des seelischen Apparats erinnert (4), schreckt Pikul ab. Cronenberg spricht seinen eigenen faszinierenden Schrecken vor dem Körpers an (2). Pikul fürchtet sich besonders vor einer Infektion durch diesen unförmigen, tierhaft lebendigen pointing device mit tracking ball (Rindsauge) beträchtlichen Ausmaßes.

Durch einfühlsame Berührungen läßt sich der game pod, Gellers Kind - die Play-Station - , im Zugang zur phantasierten und gleichwohl vorprogrammierten virtuellen Realität steuern, sodaß er uns so gut versorgt, daß die natürliche Realität vergessen wird. Cursor, Mouse und tracking ball des Laptops werden in die direkte Haut-zu-Haut-Berührung "rück"übersetzt, so wie kulturell die Skulptur der Künstlerin entgegen dem Museumstabu längst wieder berührt werden darf. Schon in Cronenbergs "Videodrome" (1982) konnte ein Videotape in den Bauch geschoben und direkt ins Gehirn eingebildet werden. Metaphorisch: Für Geller ist der game pod ihr Kind (das es metaphorisch als zärtlich angenommenes wie auch als ihre eigene Kreation ist), eine Puppe, die ihre Einsamkeit füllt und ein Trugbild sexueller Beziehung anbietet. Ein solcher Rückzug bedeutet keine Verwünschung, sondern ist ein Glücksfall (1). Der game pod läßt sich denn auch als Übergangsobjekt par excellence deuten. Was in der Kindheitsphase zwischen Daumenlutschen und Teddybär, besonders während desEinschlafens, der Polsterzipfel oder Vergleichbares ist, an dem sich anklammern läßt, ist später das Objekt eines neutralen Erfahrungsbereichs und wird zum Objekt der Illusion in der imaginativen Erfahrung der Künste (7).

Der erste Versuch, Pikul an die Maschine anzuschließen, mißlingt. Weil der bioport falsch montiert ist? Nein, sondern weil Pikul zu stark mit Energie aufgeladen ist, sehr zum Ärger von Geller! Spielt Cronenberg hier ironisch auf ejaculatio praecox an? Doch nicht genug, wird dabei auch noch der game pod beschädigt, oder besser: verletzt. Es ist in der Sicherheit einer kleinen, in einem Gebirgswald verstreuten, mehrere Hütten umfassenden Siedlung, im dortigen Laboratorium, daß der game pod auf den Operationstisch gelegt werden kann - womit in Cronenbergs Augen die Kamera für einen Moment mit einem Mikroskop verschmilzt (5). Das führt Gellers alter, osteuropäischer Beschützer und Freund Kiri Vinokur (Ian Holm) mit Operationsinstrumenten durch, die vom einem Gynäkologen aus Cronenbergs "Dead Ringers" stammen könnten und einmal mehr an grausam dalíeske Kleinskulpturen erinneren. Erst dann kann der unschuldige Pikul von Geller und Vinokur überzeugt werden, der auch den bioport erneuert. Eine kleine Holzhütte mit einem großen Bett wird nun zum Ort der Entspannung, in dem die beiden an der Schwelle des Verliebens auf die innere Reise gehen.

Das ist der entscheidende Punkt - der existenzielle Punkt einer Lebensentscheidung, wie Cronenberg sagt. Für seinen Film heißt das: Die von Pikul und Geller erlebte Welt wird von außen dargestellt. So richten sich die Kamera, der Regisseur und die Zuseher auf eine Welt, die Pikul und Geller in gemeinsamen Erlebnisses erfahren und steuern. Der Punkt ist, daß, obwohl beide nicht anders als eine unterschiedliche Wahrnehmung vom selben Raum und seinen Vorgängen haben können, diese Wahrnehmungen ineinander verschmelzen - wie immer ihnen auch das gelingen mag. Es sind wir Regisseur-Zuseher, für die diese Illusion geschaffen wird. Wir beobachten das und sind zugleich vom Schauspiel gebannt. Die Kontrolle der geheimnisvollen Abläufe erweist sich den Akteuren zugeordnet, was für sie selbst manchmal überraschend ist. Wenn es gefährlich wird, dann können Pikul und Geller ein paar Sequenzen zurückgehen. Doch jedes Zurückgehen führt in neue Programmverzweigungen, Verschlingungen, die der Drehbuchautor Cronenberg nur noch erbarmungsloser zuzieht. Es handelt sich um das erste eigene Drehbuch seit "Videodrome", ermöglicht durch einen Schreibvertrag mit MGM, welche die Geschichte für zu linear und langweilig empfanden (5).

Die packendste Szene ist eine leidenschaftliche Umarmung von Geller und Pikul. Zu Beginn verhalten sich beide, besonders Pikul, als ob es nicht mit rechten Dingen zugeht. Umso inniger die Umschlingung, die ein Erkennen wie auch ein Einstimmen für beide zugleich bedeutet. Dieser Liebesakt wird nicht "fleischlich". So wie die Traumzensur den Koitus und Orgasmus gerade noch durchs Aufwachen verhindert, so weicht Geller im letzten Moment zurück mit dem Argument, daß das im Programm so nicht vorgesehen sei, daß das Programm hier einen Defekt habe. Beide müssen, wie bei Games üblich, an den Start oder wenistens einige Schritte zurück. Solche Korrekturen erfolgen am Anfang des Trips in eXistenZ, der Halluzinationsgeschichte öfter. So formulieren es Olivier Joyard und Charles Tesson im Gespräch mit Cronenberg: Es ist, als ob die beiden der Zweifel regiert: Habe ich dich berührt? Habe ich dich geliebt? Bin ich verliebt? (5) eXistenZ ist der romantischste Film von Cronenberg (1). Es ist eine romance, doch viel realer als technisch bescheidene Schundmärchen wie der Gebrüder Wachowski Matrix, mit denen Hollywood ein adoleszentesPublikum abfüttert, wie es dies mit John Lasseters visuell beachtlichem Kinderfilm Das große Krabbeln tut. Dennoch könnte mit diesem Film Cronenberg der Durchbruch zu einem breiteren Publikum gelungen sein. Indem Pikul mit Furcht und Vergnügen entdeckt, daß er auf seine Partnerin Lust hat und nichts dagegen machen kann - bezeichnet das nicht die Kraft des Triebs? Und ist es die Lust, sich in flagranti die Gefühle leben zu sehen? Doch Cronenberg insistiert, daß Pikul hier denkt, es könnte so kommen, geht es denn um die Chance, der Diktatur der logischen Kette und der dramaturgischen Erklärung zu entkommen; paradoxerweise kommen die beiden dazu, auf diese Weise eine Distanz zu ihnen selbst zu schaffen (5).

Eine längere Sequenz führt Geller und Pikul auf voneinander abgelegene Arbeitsplätze in einem ziemlich oppressiven Schlachthaus. So dunkel wie der verfallene Fabriksraum zu Beginn von Tarkowskis Stalker (der noch warnte: Geh' niemals zurück!), ist es eine Produktionshalle, in der knorpel-, abfall-, fleischartige Teile zu Produkten verarbeitet werden. Doch niemand kennt die Identität dieser Produkte. Man weiß aber und sieht auch einmal kurz, daß in dieser Fleischfabrik auch besondere Fabeltiere niederer Ordnung erzeugt werden. Hier einer die wenigen special effects, mit denen der Film auskommt: ein mutierter Fisch in einem Teich, der zu den Tierfabrikexperimenten gehört. Entsprechend sieht Cronenberg (5) seinen Film wie einen Dokumentarfilm über neue Schöpfungen, seien es biologische oder künstlerische (5). Der Filme ist ihm wie jene Quarantäne-Station "Biosphere", in der sich Naturwissenschaftler wie zu einer Kunstwelt in einer Blase für einige Wochen abschlossen, entsprechend murmelt die Musik von Howard Shore sanft repetitiv wie in den uteralen Wellen eines Übergangsphänomens (5,7). Dazu paßt, daß Cronenberg in den kanadischen Wäldern drehen wollte, um den Raum jungfräulich und ohne Futurismus und Architektur zu halten (5). Somit ist das Fabelwesen so natürlich in die Umgebung eingebettet, daß es uns kaum merklich auffällt. Cronenberg will denn auch Science-Fiction eher durch Subtraktion statt Addition von "neuen" Objekten erreichen. Er will ein Universum, das mit den gängigen des Sci-Fi-Kinos nichts zu tun hat. So entschied er sich auch, den Übergang in die virtuelle Realität nicht zu morphen, sondern durch einen einfacher contrechamp zu vereinfachen (5).

Von seinem russischen Arbeitskollegen Yevgeny Nourish (Don McKellar) wird Pikul zum Mittagsessen ein chinesisches Gasthaus empfohlen. Auch hier wollte Cronenberg eine rustikale Atmosphäre wie in einer Hütte, die Körper verschieden beleuchtet, alle wie in einer Runde sitzend (5). Behaglichkeit. Es ist, wie wenn ein kleines Kind das erste Mal in ein chinesisches Gasthaus mitgenommen wird. Dann riechen die seltsamen Speisen so gut, daß bei den Kleinen kein Ekel aufkommt. Doch was hier serviert wird, sind die grausligsten Sachen: schwarzgrüne, schlabbrige Garnelenabfälle, garniert, und anderes kaum Beschreibbares - eine Rückkehr zur Materie zwischen der zeitgenössischer Malerei und den wissenschaftlich medizinischen Bildern, wie Cronenberg bestätigt (5); auch Peter Greenaways "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" ist nicht weit. Geller und Pikul bringen das kaum hinunter. Dennoch werden sie (wie im Traum, der das Spiel, ja der Film auch ist) nicht von der "normalen" Konvulsion des Körpers erfaßt werden.

Die Speise zur Feier des Tages wird vom Kellner besonders gepriesen, aber erst gebracht, nachdem Pikul richtiggehend den Befehl dazu erteilt hatte (ein festerer Druck auf den game pod?). Auch sie stellt die beiden nicht zufrieden. Aber Pikul wird an den bausteinhaften, großen Grätenabfällen gewahr, daß dieseals Teile zusammengesetzt werden können. Und auch der Zahn aus Gellers Schulter liegt am Teller. Es dämmert den beiden, nach einer Unterbrechung des Spiels, daß mit dem nochmaligen Auftauchen der Pistole mit den herunterhängenden Fleischstücken (eine süffisante Kritik an der Gewalt in Videospielen?) ein Fehler im Programm steckt. Hatte dieser Fehler den Anschlag auf den Gamedesignerstar verursacht? In dieser Halluzinationssequenz bestraft Pikul den Kellner für das schlechte Essen, nach bestärkenden Worten von Geller: "Es ist ja nur eine Illusion!" (was innerhalb eines Spiels zu sagen von besonderem Witz ist). Er erschießt ihn. Das geschieht zum Erstaunen der anderen Gäste und der Köche, in das sich nur wenig Entsetzen mischt.

Eines Tages explodiert eine Maschine, eine Regen schwarzer Ascheteilchen verteilt sich im ganzen Fabriksareal. Es stellt sich heraus, daß daran der vor Schmerz zitternde game pod am Arbeitsplatz von Geller stirbt, die nichts dagegen tun kann. Inzwischen hat sich gezeigt, daß Pikul und Geller auch während ihrer eXistenZ-Sessions in den Kampf der beiden Firmen verstrickt worden sind. Auch zeigt sich, daß der Vinokur mit den Gegnern kollaboriert. Kriegsartige Gefechte sind die Folge und erstrecken sich bis in den Wald wie im letzten auf Bosnien bezugnehmenden Film von Godard. Nach einem besonders lauten Knall erwachen Pikul und Geller aus dem Alptraum. Aber das führt nicht zum Bett in die Berghütte, sondern ins Testkino vom Anfang zurück.

C. Finale. Wie der Probelauf ist auch der Schluß für eXistenZ dreifach.

1. Allgemeine Entspannung wie am Ende eines Gruppendynamik-Wochenendes macht sich breit. Die engere Fangemeinde um Geller herum wacht auf. Erfahrungen werden ausgetauscht. Alles war schön in der Kontrolle der Einbildung verblieben. Es scheinen sich die erlebte Geschichte und mit ihr der Film in Wohlgefallen aufzulösen. Spiel, Film und unsere Erfahrung wären also vergleichbar. Dem Publikum - den Zuschauern im Kino dort und wir - wurde erfolgreich die Kontrolle über das gewünschte oder befürchtete Unkontrollierbare suggeriert: das Spielsystem als die Quelle des Bizarren selbst. Ein nur allzu vertrautes set-up.

2. Doch wieder ist alles anders. Es stellt sich heraus, daß einige der Darsteller im eben abgelaufenen Spiel einen großen Teil jener Runde bildeten, die den Halbkreis um Geller jetzt ausmachten. Aber was bedeutete dann das Attentat zu Beginn? Worin hatten seine direkten Folgen bestanden? Drehte Cronenberg nur um eine Sekunde zurück, jenen Moment, bevor der fanatische Attentäter hereinstürzte? Die Testteilnehmer, die "mitspielten", sind mit ihren Rollen nicht immer zufrieden. Tankwart Gas wäre gerne länger dabei gewesen, auch Ingenieur Vinokur war mit seiner Verräterrolle unzufrieden. Und nun es ist nicht mehr Allegra Geller, die beklatscht wird und die Auszeichnung für die Kreation eXistenZ davonträgt, sondern ein Noel Dichter (der alles an sich reißende Kris Lemche), der wie Pikul einer der Guards im Saal gewesen war. Nicht genug, kommt es erneut zu einem Handgemenge, nachdem der lobverteilende Chefsupervisor sich anschickt, Geller, die vermeintliche Störquelle und Feindin von der anderen Firma, zu töten. Wieder rettet Pikul. Und der Schuß markiert wieder, jetzt schon weniger überzeugend, den Ausstieg aus einer Session des Programms. Sind wir nun wirklich ans Ende des Films gelangt? Das Kinopublikum verläßt, nach einem zweifelvollen Vergnügen, verstört den Saal.

3. Im Hinausgehen und erst recht später stellt sich die Frage: Was wirklichhaben wir gerade miterlebt? Das Phantasma eines Wunderobjekts? Die Initiation in das ganz Andere? Oder einfach nur die Erkenntnis in die Quadratur der Ich-Prüfungen, deren uns auch die virtuelle Realität nicht enthebt? Was eXistenZ auszeichnet, ist die zwischenmenschliche Kommunikation von Selbstbewußtseinen, deren ontologische Struktur unterhalb der geschlossenen Erzählung visuell aufbricht.

D. Mensch-Maschine

Wer Cronenbergs letzten, ebenso betäubenden wie verstummenlassenden Film "Crash" (1996) gesehen hat, kennt das Thema des Menschen, der sich an eine Maschine anschließt, ihr im Verhalten ähnlich wird (tendenziell stirbt: sich in einen Komplex mehr oder weniger funktionierender Organe auflöst) und daraus eine affektive Besetzung ableitet, die im Sex einen verklärenden Ausdruck findet. Autounfallopfer einer Fangemeinde von berühmten Autounfallopfern prallten sexuell zusammen. In "Dead Ringers" (1988) ließ Cronenberg einen Gynäkologen fordern, daß es Schönheitswettbewerbe für menschliche Organe, etwa Gebärmuttern, geben müßte. Schon in seinen Biologiekursen an der Uni hatte der Student Cronenberg die mikroskopierten Organe in ihrer Ästhetik interessanter als in ihrer Physiologie gefunden - seitdem sieht er sich eine Wissenschaft so betreiben, wie die Gottesanbeterin ihr Opfer betrachtet (2). In bezug auf eXistenZ vertritt der Regisseur nun die Meinung, daß, wenn wir schon die ästhetische Chirurgie haben, diese um eine funktionelle Chirurgie erweitert werden können müßte (1). Wenn nun Intel an einem künstlichen Floh im Ausgang von Tierproteinen arbeitet - , warum sollten nicht auch Organe für Computerspiele hergestellt werden bis hin zu künstlichen Sexualorganen, die soviel Vergnügen wie die natürlichen verschaffen (1)?

Das ist die alltäglich gewordene Science-Fiction nicht nur eines einzelnen Verfechters der Allianz von Körper und Maschine. An dieser Science-Fiction wird seit geraumer Zeit in den Entwicklungen der Biowissenschaften und der Computertechnologie gearbeitet, ohne daß Weltraum und Zukunft noch nötig wären. Der Raum ist längst der unsere und unserer selbst mit unseren Körpern, die Zukunft ist auf wenige Jahrzehnte, wenn nicht Jahre zusammengeschrumpft. Cronenberg will in seinem Film angesichts dieser veränderten Situation das "metaphysische Register der Science-Fiction" ziehen (2).

Um dafür das Feld freizulegen, wird in eXistenZ das Unnatürlich-Künstliche so weit wie möglich ausgeschieden. Zunächst wird der technische Klimbim abgeräumt. "Natürliches" Tages- und Nachtlicht normalisiert den verdeckt-surrealen Horror. Dieser wird von allen Darstellern meist als ganz normal und gewöhnlich aufgenommen. Indem die Figuren auf alle Schocks immer nur mit mäßiger Überraschung reagieren, kommt die suggerierte Weltlichkeit stärker durch. Künstlich ungewöhnlich sind weiters die wenigen Objekte: Pistole, Speisen, einmal kurz zu sehende Tiermutanten, totes Tiermaterial in der Fabrikation. Cronenberg stellt eine Liste verbotener Objekte auf: Computer, Monitore, Telefone, Laufschuhe, Uhren, Schmuck, mehrfärbiges Gewand, Spiegel (5); in der kleinen Holzhütte mit dem großen Bett ist nur mehr ein Ventilator zu sehen - kein Objekt sollte wirkliche Existenz haben. Dazu kommen die sparsam eingesetzten special effects - sie sollten nach Cronenberg "natürlicher" sein als üblich, zugleich aber wie erzeugt wirken und einer offensichtlich widersprüchlichen Bewegung entspringen (4). Die Bewegungen des game pod sollten realistischer und tierhafter sein.

E. Existenzialismus

Descartes' science-fiction-in-science hatte den menschlichen Körper als eine Maschine mit Seele beschrieben (3). Jede ihrer Bewegungen wird demzufolge vom Gehirn gesteuert und erfolgt durch "Lebensgeister", die vom Herzen und den Gehirnporen ausgehen. Die "Lebensgeister" verursachen auch die äußeren und inneren Empfindungen, welche Eindrücke unterhalb der Gehirnoberfläche hinterlassen. Diese Objektideen werden von der Seele betrachtet und wiederum empfindend und imaginierend am jeweiligen Ort des Gehirns vorgestellt. Es sind die Phantome der Imagination, das Gehirn im Wachtraum und im Nachttraum beschäftigen. Für den Traum während des Schlafs stellt Descartes die Frage nach der Standby-Funktion, also danach, wie die Maschine aufwachen kann, wenn sie eingeschlafen ist und viceversa - ein Problem, das Cronenberg in seinen psychologischen wie sozialen Aspekten witzig thematisiert: wie wir in die Maschine einschlafen und wieder aus ihr erwachen.

Damit die Lebensgeister jedoch, in welch transformierter Form auch immer, in die Seele kommen, nahm Descartes im weiteren eine Schleuse an, die in der materialistisch vorzunehmenden Definition nur die Form eines Organs annehmen kann: die berühmte Zirbeldrüse. Doch in bezug auf den Außenwert der Lebensgeister - dem Informationswert, dem Erkenntniswert - blieb der Philosoph gegenüber der beseelten Maschine skeptisch. Nur das ganz Eigene der Seele - das Denken - konnte ihm die Existenz von Objekten garantieren, zuvörderst das denkende Ich-bin.

Diese Skepsis teilt Cronenberg nicht. Als ob er eine generische Droge mit Halluzinationsprogramm propagiert, schlagen sich seine Lebensgeister über die exteriorisierte Zirbeldrüse des game-pod-Systems in narrativen Imaginationen nieder, die uns angenehmes Grauen oder schiere Lust verschaffen. Sie bewegen unsere Vorstellungen wie von einer übergeordneten künstliche Maschine aus, und trotzdem haben wir nicht nur mit unserem Gehirn willentlichen Einfluß auf die Imaginationen, sondern nehmen diese sogar koordiniert mit anderen vor. Das "metaphysische Register der science-fiction" (2) zieht Cronenberg woanders.

Es geht ihm, den "die Todesangst aufstört" (2) um unsere Existenz, die sich in Entscheidungen - und nur dort - manifestiert (5). eXistenZ ist nicht zuletzt das Manifest für einen sich selbst entscheidenden und entwerfenden Menschen: für ein Programm. Im und mit dem Programm entwerfen wir uns - so wie in die Existenz bei Sartre, die dem Wesen des Menschen und seiner Definition immer schon vorausgeht (6). Und schon deswegen können wir uns nur mehr zu dem entscheiden, was das Programm an Möglichkeiten bereithält als Gesamtes und an einzelnen Möglichkeiten. Ein Widerspruch? Ist das Spielprogramm nicht schon längst zu einem Wesen oder Unwesen mutiert, das den echten, existenziellen Moment desavouiert, als fadenscheinig entlarvt. Spiegelungen der Ironie sind, was Cronenberg betrifft, nicht auszuschließen. Doch im Interview gibt sich Cronenberg ernst (5): Müssen sich Geller und Pikul an die Gruppe der Wissenden im Wald anschließen? Dem Filmautor zufolge muß immer im Moment entschieden werden. Freunde können zu Feinden werden, auch wenn Pikul die Idee des anderen als Feind nicht paßt, die Geller einmal mehr zerstreut als Spiel, in dem auch alle anderen "nur" mitspielen.

Cronenberg, der Heidegger als Gewährsmann nennt und zu einem philosophisch existenzialistischen Hintergrund bekennt (5), sieht im Leben, so wie es ist, eine reine Folge von Ereignissen, die stets auf uns zukommen und mitunter voreine Wahl stellen. Gelingt letztere, dann entwickelt sich das Leben nach einer bestimmten Funktion. Es gibt kein Gesetz, das wir für uns reklamieren könnten wie einen Gott, die Vorsehung oder die Wahlpflicht. Das Begehren stellt uns eben nicht vor eine Notwendigkeit, sondern ist arbiträr. Distanz zu ihm ist möglich. Für Cronenberg geht es nicht darum, eine moralische Position gegenüber den Games einzunehmen, sondern darum, die Einstiegsmöglichkeiten für den Spieler (Zuschauer) zu vervielfachen. Für den Film wie die Spiele heißt das bei Cronenberg, daß es um eine bewußte Schöpfung geht - die Mission der Menschen - , um die Möglichkeit der Erfindung gegenüber dem Realen sowie die Infragestellung der Bilder, Objekte und Körper (5).

Ob es vom Film gewollt oder unbeabsichtigt in der Schwebe belassen wurde - : Das Wunderbare und Rätselhafte ist, wie Pikul und Geller außerhalb und innerhalb kommunizieren. Obwohl beide ins Programm eingeschalten sind, wissen wir nicht (und sie?), wessen "Film" abläuft. Innerhalb des Films kommt Pikul die aktive Rolle zu. Geller ist mehr Coach und Gefährtin. Wenn am Schluß offenbar wird, daß viele Haupt- und Nebenrollen von einem großen Teil der Testpersonen gespielt wurde, dann beweist das, daß es eine Regie gegeben hat, daß am Schluß eine gemeinsame Rückkehr gelungen ist. Aber von wem - von Geller? Pikul? Von der ganzen Testgruppe? Von Cronenberg oder gar von uns? Hier taucht das Problem des anderen Bewußtseins, des other mind in ungewöhnlicher Gestalt auf. Wie und bei wem die taktile Steuerung des Videospiels vor sich geht - wie über Bilder und Handlungen entschieden wird, bleibt unklar. Ja, daß sich für die Figuren die Frage an einander irreduzibler Bewußtseine erhebt und wie diese identifiziert werden könnten (wenn das überhaupt ein Problem ist), kommt der Film nicht dazu zu erzählen. Wir sehen nicht, wer wann entscheidet, wann mehrere zusammen spielen und sich an den game pod anschließen lassen.

Daß mehrere verschiedene Welten ineinanderverschachtelt sind, ist für eine Fiktion kein Problem. Für ein Computerspiel aber, das nur eine einzige bildliche oder mentale (der Unterschied ist hier aufgehoben) Repräsentation hat, gilt die Frage umso mehr: Wie sollen wir eine einzige Welt bilden, wenn wir verschiedene Bewußtseine haben und diese prinzipiell nicht vereinen können? Wie können wir narrativ sinnvolle Abläufe gemeinsam ausbilden, wenn nicht klar ist, wem welche Kompetenzen in der Gestaltung zukommen? Das Geschickte am Plot ist, daß dieses Problem mit einer immer wieder aufgeworfenen, möglichen Unstimmigkeit im Programm konterkariert wird - deswegen auch der Testlauf - , bei der Geller in Aussicht stellen kann, daß sie den Fehler korrigieren wird. Es ist schon schwer genug, Leib und Seele zusammenzudenken. Aber dann noch Auch hier spielt Cronenberg seine Ironie aus. Nicht: Ich zweifle, also existiere ich. Sondern: Ich imaginiere, also eXistieren wir (und die Welt).

F. Kunst

Was am individuellen Mythologen Cronenberg fasziniert, der sich zurecht wiederholt gegen Etikettierungen wie Künstlerfilm, Genrefilm und besonders Horrorfilm gewendet hat, ist die Fähigkeit, Stoffe zu konzipieren, die aus privaten Obsessionen zu kulturellen Phänomenen in partikularen Gestalten und Sozialbereichen destilliert werden. Das könnte für einen guten Film schon reichen. Doch was eXistenZ auszeichnet, ist eine Reflexion, die ihre Energie aus einem tiefen Zweifel und zugleich Bedürfnis an der Kunst bezieht. Wenn der das System Hollywood einer scharfen Kritik unterziehende Kanadier, von derbewußten und entscheidungsträchtigen Schöpfung, von der Mission des Menschen spricht (5), dann ist, für eXistenZ, die Vergleichbarkeit von Spielen und Kunstwerken angesprochen. Mehr noch, Cronenberg setzt die technische Erfindung, zu der mit dem Computerspiel in der Folge jede Spiel-Erfindung gehört, mit einer künstlerischen Erfindung gleich.

Zu dieser Auffassung kam Cronenberg in eigenen Worten nach einem Interview über Spiele und Computer, das er mit Salman Rushdie geführt hatte (1). Rushdie meinte darin, daß Computerspiele eine Kunstform werden würden, ihre Designer Künstler. Daß Künstler von Fanatikern (die den "gefährlichen" Romanen ein Ende setzen wollen) aufgestört und zu Märtyrern gestempelt werden - Rushdie selbst als Beispiel - , bestärkt Cronenberg, auch zukünftige Computerspiele-Entwickler in dieser Perspektive zu sehen, einemal abgesehen vom big business von Multis, die über Milliardengewinne reden (1) und die à la longue ihre developer mit dem Titel Künstler versehen werden.

In der Einschätzung des Künstlerstatus ist Cronenberg dennoch ambivalent. Hier kommt die eigene Beobachtung und Erfahrung von Hollywood herein. Die Gesellschaft braucht die Künstler ebenso, wie sie Sie verabscheut, - so wie die lange schmerzhafte Verwandlung in der kafkaesken "Fliege" (1986, 2). Umgekehrt findet das Mißtrauen und die Distanz, die der Künstler oder die Künstlerin empfindet, in einer später verworfenen Version der Schlußszene seinen Niederschlag. Cronenberg ließ dort Allegra das Gespräch mit dem Testpublikum kurz vor dem Applaus abbrechen und sagen, daß sie lieber nie mit dem Publikum zusammengetroffen wäre. Das ist nicht nur Ironie auf Sneak Previews: daß nämlich auch für eXistenZ einem Testpublikum Fragen über einen anderen Verlauf oder Schluß vorgelegt worden wären, habe ihn angewidert (5).

Cronenberg bräuchte sich vor seinen filmischen Leistungen nicht zu verstecken. Dennoch ist es nicht die Entwicklung des Kinos, sondern der Computerspiele, in der er die schier unbegrenzten Möglichkeiten sieht. Das betrifft ihr Publikum ebenso wie ihre Produzenten in Intelligenz wie Risikobereitschaft. "Tel est mon sentiment du cinéma actuel"(5). Von eXistenZ (ursprünglich XistenZ?), die Schreibweise erinnert an den Namen eines Computerspiels oder -programms, wissen wir nicht, ob es ein Requiem für das Kino ist.

(1) Samuel Blumenfeld, La PlayStation est l'avenir de l'homme. Trois questions à David Cronenberg, in: Le Monde, 15. April 1999, S.32

(2) Samuel Blumenfeld, Les obsessions d'une entomologiste nommé David Cronenberg, in: Le Monde, 13. Mai 1999, <Beilage> Festival Cannes 99, S.IX

(3) René Descartes, Le Monde, Kap.XVIII (L'Homme), 1662, in: Oeuvres des Descartes, hg. v. Charles Adam/Paul Tannery, Bd.XI, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1982, S.119-215

(4) Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: ders., Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt am Main: S. Fischer 1975, S.273-330, S.293

(5) Olivier Joyard/Charles Tesson, L'aventure intérieure. Entretien avec David Cronenberg, übers. v. Olivier Joyard, in: Cahiers du cinéma, n.534, April 1999, S.67-71 u.73

(6) Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? <1946>, in: ders., Drei Essays, = Ullstein Buch 304, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1972, S.7-51

(7) D. W. Winnicott, Transitional Objects and Transitional Phenomena, in: International Journal of Psychoanalysis 34 (1953); dt. in: Psyche 23 (1969), Nr.9, S.666-682

(8) Stanley Cavell, The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged <2nd> Edition, Cambridge-MA/London: Harvard University Press 1979, S.72

Peter Mahr (1999)

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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