mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.1/März

Rezension

12. Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Stements, Interviews, f. d. dt. Ausgabe erg. v. Sebastian Zeidler, 2 Bde., Ostfildern-Ruit: Gerd Hatje 1998. 4277 Zeichen.

Auf Kunstakademien hörte man gelegentlich die Trennung in Theoretiker und Praktiker. Jetzt werden die Akademien zwar, in Österreich, allmählich Universitäten, aber die Praktiker werden noch einige Zeit die Künstler und die Theoretiker der Rest sein: also die Stofflehrer, die Kunsthistoriker, die Philosophen, die Kulturwissenschaftler und noch andere mehr. In einem solchen Verständnis ist Kunsttheorie alles Nicht-Praktische, und Theorie an ihr, wenn nur der Mund aufgemacht wird. Wenn dagegen wissenschaftstheoretisch die Rolle von Theorie gegenüber Erfahrung, Beobachtung, Kritik, Interpretation, Definition, Grundlagenforschung und einer Metatheorie festgehalten werden soll, dann wäre Kunsttheorie etwas, das in ihrem Status noch gegenüber der Kunstlehre oder der Kunstphilosophie unterschieden werden müßte. Und dann ließen sich vielleicht 7 oder 8 Texte der gesuchten Art finden.

Sprechen wir also in Julius von Schlosserscher Manier von Kunstliteratur. Da liegen die ganz großen Verdienste der Textsammlung. Denn sie macht beonders im deutschen Sprachraum Lietratur über Kunst zugänglich, die vergessen, unbekannt, unübersetzt oder in ihren wesentlichen Ausschnitten nur schwer zugänglich war. 400 Texte sind dann nicht zuviel. Besonders zahlreich sind Äußerungen von Künstlern, den Praktikern. Und es zeigen die Texte, daß hier erst eine Theorie (re)konstruiert werden, herausgelesen werden müßte, um den Wert von Künstelerästhetiken zu ermessen. Meist beschränkt man sich in diesem Punkt auf Manifeste. Aber das ist nur ein Teil, der mit dieser Sammlung gegengelesen und überprüft werden kann. Haben die Künstler eine eigene Theorie? Sollte es vorwiegend um diese Theorien gehen?

Charles Harrison und Paul Wood sind Kunsthistoriker und - kritiker an der Open University in London. Harrison war auch Mitglied der englischen Konzeptkunst-Gruppe Art & Language. Das Interesse aus Fragestellungen der Kunst, Kunstpraxis heraus und der damit zusammenhängenden Kunstkritik und Kunstgeschichte wird anhand der Auswahl deutlich. Wie die Kunsthistoriker ihre Theorie schon durch die Auswahl und Anordnung der Diapositive für ihre Vorlesungen bilden, so ist es in einer Anthologie ebenso das, was und wie es versammelt wurde. Klar, daß nach dem theoretischen Schock der Postmoderne in den 90er Jahren besonders vor dem Hintergrund der Konzeptkunst wieder Avantgarde und Modernismus mit ihren Differenzierungen die Leitlinien bilden. Die Einleitungen zu den acht Abschnitten und die jeweils kurzen Einführungen zu den einzelnen Texten mit Angaben zu den AutorInnen samt genauen Quellenangaben belegen diesen Sachverhalt:

I Das Vermächtnis des Symbolismus

II Die Idee der modernen Welt

III Rationalisierung und Umwälzung

IV Freiheit, Verantwortung, Macht

V Individuum und Soziales

VI Modernisierung und Modernismus

VII Institutionen und Einsprüche

VIII Anschauungen der Postmoderne

Erfüllen wir die uns zugedachte Rolle, und weisen wir auf das philosophische Manko hin! Es sieht mit dem späteren Jahrhundert nicht besser aus als mit dem früheren. Wenn für den genau 200 Texten (Textausschnitte mit jeweils ein paar Seiten) des ersten Bandes von 1895 bis 1941 nur je einer von Freud, Croce, Simmel, Bergson, Spengler, Lenin und Lukács sowie zwei von Benjamin vorkommen - und diese sind sehr an praktischen Fragen orientiert - , dann kann nur der Schluß gezogen werden, daß sich, sofern Harrison/Wood repräsentativ sind, die Kunst von Wissenschaft und Philosophie beziehungsweise die Theorie proper von der Kunst verabscheidet haben - DenkerInnen wie aus dem Feld der comparative literature im Falle Gayatri Spivaks kommen eingeschlossen. Die Gründe für einen solchen Prozeß zu untersuchen, gehen über diese Rezension hinaus.

Bemängeln wir daher abschließend Äußerlichkeiten. Das Buch erschien als mit dem zugleich malerischeren wie präziseren Titel Art in Theory. An Anthology of Changing Ideas 1992 in einem Band. Wie oft bei englischen Produktionen erschien die Publikation auch im Softcover, also in einer auch für Junge erschwinglichen Ausgabe. Der deutsche Verlag scheint auf ein LeserInnenalter zu setzen, in dem man sich schön ausgestattete Anthologien zwar leisten, sie dafür aber nicht mehr in der Hand halten kann. Aber Theorie ist gehört anscheinend auf Den Tisch. Von der Tischlagefähigkeit zu schweigen. Ein einzige Band hätte zudem den Vorteil, auch als Ganzes rezipiert zu werden. Man denke nur an die Register. Lag es also an den 80 Texten, die die Zahl der Texte im Deutschen auf rund 400 anschwellen lassen? Die Übersetzung wurde aufgrund von Gutachten der Kunsthistoriker Belting, Boehm und Schmied durch die Europäische Kommission gefördert.

© Peter Mahr 1999

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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