mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.1/März

Aesthetica

3. Buch als Medium. Aura, Bibliographie, dià tôn metaxý, Handwort, Jabès. - Beitrag in fünf, beliebig anzuordnenden Teilen für: Die BUCHZEITung, = Sondernummer NB-Newsletter Österreichischen Nationalbibliothek <anläßlich der Ausstellung "Buch/Zeit - Bücher aller Art von Roman Scheidl und Turi Werkner" im Prunksaal der Bibliothek, 4. März bis 24. April 1999>, 4. März 1999, S. 2, 3, 11, 14. Dank an Turi Werkner. 9534 Zeichen.

Buch als Medium. Aura. - Sie kann sich um ein Exemplar einer Auflage bilden, etwa bei dem von Leo Spitzers in Amerika herausgebrachten Stilstudien (K) an der Hauptbibliothek der UC Berkeley. Das gut abgegriffene Buch riecht abenteuerlich, der Titelaufsatz entspricht dieser Empfindung mit einem furiosen Gedankenwirbel innerhalb empirisch minutiöser Untersuchungen. Der Deckel dunkelbeige, nicht hart, auch nicht flexibel - etwa in der Art der Vademecumausgaben des frühen 20. Jahrhunderts. Die Copy, durch die Jahrzehnte hindurch ordentlich benutzt, läßt sich ohne weiteres auf-"klappen". Obwohl kein Dünndruck, bleiben die Blätter liegen. Weichgebogen geben sie der eigenen Schwere nach wie ein Serrasches Filzstück. Das eher schmale Format wird vom Satzspiegel nicht beschwichtigt. Groß genug gesetzt, beschleunigt die elegante, moderne Schrift die kurzweilige Lektüre zusätzlich. Keine wie immer gearteten handschriftlichen Spuren von außen, im Gegensatz zu Leo Tolstojs Kampfschrift "Was ist Kunst?" in einem Exemplar einer anderen Universitätsbibliothek. Beethovens Neunte - "giebt dieses Werk das höchste religiöse Gefühl wieder?" (L/252) Ein dezidiertes "Ja" am Rand. Anderswo "Unsinn", Numerierungen, Unterstreichungen, eingekreiste Paginierungen, spezielle Merkzeichen, immerhin alles mit Graphitstift. Der Buchbinder gibt dem Buchrücken den Stempel "Tolstoj: Das ist Kunst". Dann ein Handbuch der Physiologie (I). In der Österreichischen Nationalbibliothek sind die einzelnen Lieferungen eng bedruckten, lumpenreichen Papiers aus dem Rheinland mit dicken, dunkelbraunen, goldimprägnierten, lederüberzogenen Deckeln ausgestattet: ein Traktat experimentell erforschten menschlichen (und tierischen) Lebens einschließlich pathologischer Aspekte, Lehrbuch und Aufbruchsgeist einer auch goetheisch gemeinten Wissenschaft. Die drei Beispiele belegen das Buch als Medium. In öffentlichen (und privaten) Beständen kann das Buch zu einem Werk avancieren, dessen physische und soziale Geschichte ein Exemplar zum Original und Medium vergangener Aufmerksamkeit macht (B/475-480).

Buch als Medium. Bibliographie. - A. Aristoteles, Über die Seele, = Werke. Bd.13, hg. v. Ernst Grumach, übers. v. Willy Theiler, Berlin: Akademie-Verlag 1959. B. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Band I.2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S.471-508. C. Jacques Derrida, Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch, in: ders., Die Schrift und die Differenz, = stw 177, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S.102-120. D. Dietfried Gerhardus, Medium (semiotisch), in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd.2: H-O, hg. v. Jürgen Mittelstraß. Mannheim/Wien/Zürich; B.I.Wissenschaftsverlag 1984, S.829-831. E. Fritz Heider, Ding und Medium, in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1 (1926/27), S.109-157. F. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst <1964/65>, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. G. <Herbert> Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters <1962>, übers. v. Max Nänny, Düsseldorf/Wien: Econ 1968. H. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, = Phänomenologisch-Psychologische Forschungen, Bd.7, Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1966. I. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, I.Bd. Abth.I verbessert + Abth.II, II.Bd. Abth.I-III, Coblenz: J. Hölscher 1835/1840. J. Avital Ronell, The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1989. K. Leo Spitzer, Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics, Princeton-NJ: Princeton University Press 1948. L. Leo N. Tolstoj, Was ist Kunst?, übers. v. Michael Feofanoff, Leipzig: Eugen Diedrichs 1902. Copyright (c) Peter Mahr 1999. Der Text erscheint Ende März 1999 in mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik online auf http://h2hobel.phl.univie.ac.at/mahr'svierteljahrs/

Buch als Medium. dià tôn metaxý. - Das, wodurch etwas hindurch geht und damit Aisthesis ermöglicht (A/69 = 435a17). Abwesend schauen oder hören wir durch etwas und jemanden hindurch, als ob sie nicht existierten. Gleichwohl geht unser Denken von ihnen aus oder auf sie zu. Das betrifft auch das Buch, durch Buchstaben, Papier, Block hindurch. Medium: Reflexionstheoretisch aufgefaßt von Fichte, den Frühromantikern, über Hegel, Marx, Taine, Riegl zu Benjamin und Adorno, handelt es sich um den Zusammenhang, in dem sich das Subjekt durch eine Reflektion von etwas gewinnt, notabene: einen Zusammenhang, der gewöhnlich hinter die einzelnen Teile zurücktritt, auf die es in Erkenntnis oder Handlung meist ankommt. Gestalttheoretisch aufgefaßt von Kant, Wundt, Mach zu Heider und Luhmann, geht es um die Bedingungssphäre des Dings, das, was eine Figur oder falsche Einheit (E/119f.) vor einem Grund oder aus jener Sphäre heraus für Erkennen und Handeln formieren läßt. Wenn das Buch ein Medium ist, dann nicht als Material; als stumme Zeichenträger haben Bücher, ja Papiere für uns keine Bedeutung (D/830), "ein Buch schreiben" ist nicht "ein Buch vollschreiben". Das Buch ist Medium auch nicht nur als Mittel der Kommunikation, zum Zweck des Lesens; als Objekt hat es symbolischen wie ästhetischen Wert. Und es gibt das Medium Buch als Kunstgattung nicht, auch wenn traditionell von Buchmalerei bis Buchdesign eine kleine Gattung der Buchkunst besteht. Wie kann dann das schwere Buch über seine Mittelhaftigkeit hinaus zum leichten, reflektorischen oder gestaltenermöglichenden Wahrnehmungsmedium werden? Die bildende Kunst etwa richtet sich in ihren rekontextualisierenden Versuchen auf die Eigenschaften der Dingarchitektonik, der Leserfahrung oder auch sozialer Systemzusammenhänge: Giulio Paolinis vier fotografisch ineinandergeschachtelte Illustrationen von, zu und auf Heideggers L'arte e lo spazio (1983), die monumentalflächig plakatierten und mit graffitiähnlichen Zeichen übermalten Blätter ganzer Klassikerausgaben des Lehrers Tim Rollins und seiner Kids Of Survival (späte 80er Jahre), schließlich Clegg & Guttmanns Projekte “Offene Bibliothek” in öffentlichen und institutionellen Räumen (frühe 90er Jahre).

Buch als Medium. Handwort. - McLuhans Beobachtung, daß Gutenberg nicht den Buchdruck, sondern den typographischen Druck gebracht hat (G/206ff.) konzentriert den Blick auf das Buch. Es ist Sekundärbestimmung eines Objekts, das wir nur in einem Zusammenhang von Wort und Hand erfahren können. Der Affe stößt mit den von ihm zusammengesetzen Stäben die Bananen herunter. Der etymologisch-materialgeschichtlichen Ableitung des Buchs aus der Buche oder anderen Konstrukten von Tabulae aus Papyrus, Bast oder Pergament läßt sich für die Zeit nach Gutenberg die drucktechnologische des Buchs als einem aufgeschnittenen, an einer Seite gebundenen, mehrfach gefalteten Bogen (Broschüre), bei mehreren Bögen mit Rücken, an die Seite stellen. Dem ähnelt das Buch der Zeitung - Bündel von mehreren einmal gefalteten, ineinander gesteckten Papieren gleichen Formats. Schrift, Sätze sind für das Buch nicht konstitutiv, wie Telephonbuch (J), Gästebuch, Bilderbuch und das Buch der Buchhaltung bezeugen. Um sie lesen zu können, müssen Bücher in komplexer Weise geöffnet werden: wie eine Tür werden sie aufgeschlagen, um eine Seite umzuschlagen, Blätter, formatiert, Stöße davon. Es muß von einer Hand oder zwei auf ein Pult zumindest gestellt oder gehalten werden können, um daraus auch laut lesen, darin oder daneben schreiben, etwas zu sich nehmen, zeichnen zu können. Browsen heißt Seiten umschlagen, umblättern, einen oder mehrere Finger einlegen, einen gebogenen Stoß wie bei einem Schlagwortkarteikatalog am Daumen vorbeigleiten lassen - um die Seiten zu zählen, etwas aufzuspüren, das neue Buch zu riechen. Gut möglich, daß diesen teilweisen, indirekten Doppelempfindungen (H/118ff.) Interaktivität, dem ganzen Objektbezug hin zum Autor Intersubjektivität zukommt, die beim Vorlesen noch erweitert wird. Anthropologisch gesprochen, könnte die Buchverwendung ein Musterbeispiel des Gleichgewichts der zwei motorischen Funktionspaare Hand/Werkzeug und Gesicht/Rede (F/237,262) darstellen. Verständlich auch, daß dieses Gleichgewicht dem zeitgenössischen "Problem der Regression der Hand" (F/320) ausgesetzt ist. Das Medium Buch zwischen Hand und Wort ist polygen komplex.

Buch als Medium. Jabès. - Die Gesetzestafeln müssen gebrochen worden sein (C/106) - für den Dichter Edmond Jabès die Voraussetzung für das Buch, die Wurzel der Sprache, die Voraussetzung für den "Judaismus als Geburt und Passion der Schrift" (C/102). In dieser Geschichte ist Jude, wer die Schrift wählt. Jabès: "Du bist derjenige, der schreibt und der geschrieben wird." (C/103) Derart müssen sich auch die Wörter für den Dichter interessieren. Der Dichter wird zum Sujet und Medium für die Wörter, die sich zum Buch formieren. Aber darin verschränkt, ist das Buch zugleich das Sujet und Medium des Dichters. In dieser wechselseitigen Bewegung faltet sich das Buch, artikuliert durch die Stimme des Dichters. Doch damit zeigt sich sogleich die "Differenz zwischen Rede und Schrift <als> Schuld, ... verlorene Unmittelbarkeit ... Arbeit außerhalb des Gartens." (C/107) Daher gilt: "Dichter zu sein, heißt, die Rede sein zu lassen." (C/109) Indem weder der Rabbi, noch der Dichter in die "Mitte des heiligen Textes" (C/105) eintreten können, müssen sich beide in ein Verhältnis der Auslegung zum Buch begeben. Die Radikalität des Dichters besteht dann darin, sich in diesem Medium der Abwesenheit zu bewegen. “Aber - und das ist der Grund der Dinge - die ganze Äußerlichkeit zum Buch, diese ganze Negativität des Buches geschieht im Buch. Man nennt den Austritt aus dem Buch , man nennt das Andere und die Schwelle im Buch. Das Andere und die Schwelle können nur geschrieben werden, und sich in ihm bekennen. Man verläßt das Buch nur im Buch, denn für Jabès ist das Buch nicht in der Welt, sondern die Welt ist im Buch ... Sein heißt im Buch sein, auch wenn das Sein nicht jene Natur ist, die das Mittelalter oft das Buch Gottes genannt hat. Gott selbst entspringt im Buch, das somit den Menschen an Gott und das Sein an sich bindet.” (C/117) Und zugleich: “Das Leben negiert sich selbst in der Literatur, um besser überleben zu können. Es negiert sich so wenig, wie es sich bejaht. ... Die Frage über den Ursprung des Buches, die abolute Interrogation, die Interrogation aller möglichen Interrogationen, die ‘Interrogation Gottes’, wird nie einem Buch angehören.” (C/119f.)

Peter Mahr (c) 1999

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