mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

1 (1998), Nr.3/Dezember

Miszelle

10. Mit oder ohne Wirbel - die neuen Tiere. 1709 Zeichen.

Wer in deutschsprachigen Ländern bald nach dem Zweiten Weltkrieg aufwuchs, konnte sich gut in einer Schizosemie befinden. K&aml;fer und Käfer - zwei völlig verschiedene Dinge! Das Auto war eins: Symbol und Macht des Vaters, nationales Zugehörigkeitssymbol, einprägsame Form, die sich gut als kinderhandgroßes Spielzeug identifizieren und verwenden ließ. Das Tier das andere: Marienkäfer, Maikäfer, Mistkäfer, Hirschkäfer. Erst eine ganze Zeit später fiel dem Kind auf, daß für das Auto mit der Form des Tiers auch dessen Name übernommen wurde. Historisch hatte sich das Auto in seiner funktional orientierten Morphologie wohl nie ganz vom Tier entfernt, wie auch schon die Kutschen nicht: die vier periodisch angetriebenen Hufe, die beiden leuchtenden Augen, Auspuff, Panzer und Skelett. Doch erst seit die ganze Welt von Las Vegas lernt, wird die visuelle Verwandtschaft mit dem Tier mimetisch beabsichtigt. Zuerst die Ghetto-Blaster; die Lautsprecher wurden wie vergrößerte Fliegenaugen an den Verstärker-Body gehängt. Dann ging die Vertebrisierung auch auf andere Geräte über, etwa den Staubsauger, um schließlich erneut bei Kleinautos aufgegriffen zu werden: Smart und nun auch der neue Beetle. Da ist es kein Gegensatz, wenn Apple mit dem I-Mac in Richtung Quallentier geht: Tamagotchiform, Ei halbiert, Maus wie gequetschter Tennis-/Baseball. Zwar legt uns die Expressivität von Gebilden nahe, auf Wirbeltiere anzuspielen. Aber wenn Design nur mehr sichtbar ist, wenn es mit Funktion so gut wie nichts mehr zu tun hat - , was liegt näher, es so zu definieren, daß es als Avantgarde-Thema zum Ding Numero 1 gerät - zum Lebewesen überhaupt? Dann wird auch egal sein, auf welche Stufe der Evolution wir zurückgreifen: auf Weichtiere, auf gerüstete Tiere, auf Wirbeltiere. Die Materialien dafür werden existieren.

Peter Mahr (c) 1998

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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