peter.mahr


<2016.9>: L'art philosophique. Toni Erdmann, Allegorie der Performance des Lebens. 20.165 Zeichen. online 24. 12. 2016 .html


"Die allegorische Anschauung hat ihren

Ursprung in der Auseinandersetzung

der schuldbeladenen Physis,

die das Christentum statuierte,

mit der reinen natura deorum,

die sich im Pantheon verkörperte."


Walter Benjamin,

Ursprung des deutschen Trauerspiels,

stw 225, S. 202


Sagen wir es rundheraus: Wenn Toni Erdmann eine Allegorie ist, dann sicher keine reine. Dazu ist der Film viel zu modern, zu symbolisch, zu psychoanalytisch (oder gibt es gar so etwas wie eine psychoanalytische Allegorie?). Vielleicht ist Toni Erdmann ein Bündel von Allegorien, eine Allegorie des Schauspiels, Allegorie des Lebens als Schauspiel, diejenige des Lebens überhaupt, auch Allegorie der Arbeit, besser: Allegorie der Performance. Performance, dieser Begriff hat in den vergangenen zwanzig Jahren selbst Karriere gemacht, nicht zuletzt wegen seiner vielfältigen Bedeutung: Handeln, Leistung, Ausführung und Aufführung und Durchführung, (Aus-)Spielen, Schauspiel und natürlich Performance im engeren Sinn von Performance-Art. Das wäre schon schwer genug, Performance in einem Stück oder Film vorzuführen. Aber nun, wie wäre es damit: Allegorie der Performance des Lebens? Was könnte das im Fall von Toni Erdmann sein?

ZUHAUSE Postbeamter zu Wilfried Conradi: „Hast du was bestellt?“ Wilfried, der vor dem Postbeamten einen Bruder vortäuscht, mit dem er immer wieder über das Paket 'redet', später zum Postbeamten vertrauensselig: „War beides ich.“

BEI FREUNDEN Wilfried, der Musiklehrer in Rente, verkleidet sich gern. Sein auf 'schrecklich' geschminktes Gesicht für das Kinderkonzert in der Schule ist gemustert wie der sterbende Hund Willi im Garten seines Hauses. Wilfried legt sich neben Willi aufs Gras. Später zu Ines, seiner Tochter: „War halt ein alter Hund.“ Wilfried kommt noch geschminkt direkt von der Schule zu Freunden, seiner Ex (Zahntechnikerin) und der gemeinsamen Tochter zu deren, was er nicht wusste, vorgezogenem Geburtstagsfest: "Hab' einen Nebenjob. 50 Euro pro Exitus im <Seniorenheim> Theresienstift." Zu Freunden über die am Balkon stehende Tochter und ihre Businesswelt: „Mit welchen Schwergewichten sie da im Ring steht!“

KOMÖDIE ALS PROBE Wilfried spricht am Geburtstagsfest erst später die gertenschlanke Ines an, die er lange nicht gesehen hat: „Na, Spaghetti?“ Später, in Rumänien zu Ines' KollegInnen: „I am only the father. Just holidays.“ Ines zu Wilfried, der unangekündigt plötzlich in der Loggia ihres Unternehmens steht, später: „Das ist'n Wirtschaftsempfang.“ Er, einfach gekleidet: „Geht das überhaupt so?“ „Jetzt komm doch mit!“ Ines über ihren obersten Chef Henneberg: „Das ist wirklich ein wichtiger Kontakt für mich.“ Wilfried zu Henneberg, zu dessen Rede er und Ines klatschten: „Ich hab' jetzt jemanden engagiert als Leihtochter.“ Er müsse mit ihr noch „verhandeln, wer die bezahlt.“ Henneberg wittert wohlwollend, wenn auch nicht ganz ernst, „a great business idea!“ Wilfried erwidert wie echt verärgert und doch ironisch: „Trauen Sie sich ja nicht, meine Idee zu klauen!“ (Wir spielen uns selbst. Die Rolle des Vaters)

ALLTAG 1 Toni Erdmann behandelt ausführlich Ines' Performance im Job, die Meetings im Team. Ines' Assistentin erklärt Wilfried Ines' Arbeit: „Die Kunst ist: dem Klienten erklären, was er selber will.“ Wilfried zu Ines über sein vorzeitiges Erscheinen in Rumänien: „Ich hab' dich ja ganz schön überfallen.“ Ines packt ihr Geburtstagsgeschenk aus, verwundert und ein bisschen enttäuscht. Wilfried: „Das ist eine richtig gute Käsereibe.“ Später: „Kannst mir Spaghetti kochen." "Alles klar Spaghetti?“ Ines will sich nur kurz hinlegen. Weil Papa sie nicht, wie gebeten, noch am selben Abend weckt, verschläft sie ein wichtiges Meeting und schläft lange in den Morgen hinein. Wilfried weckt Ines mit Katzenbrille und Katzenbart. Für Ines beginnt der Tag nicht gut, sie klemmt sich eine Zehe ein und spritzt, sich ihre Zehe untersuchend, Blut aufs Hemd. Sie soll nun eine Business-Präsentation mit rumänischen Geschäftsleuten vor Henneberg und ihrem unmittelbar vorgesetzten Chef leiten: „Präsentation – für die hab' ich wochenlang hingearbeitet!“ Und extra geprobt, zu ihrem Supervisor via Skype: „Das Sprechen hat gut funktioniert … Konnte Raum gut nehmen, hab mich vorher im Raum aufgehalten … Atemtechnik brauchte ich dieses Mal nicht … Würde aber gerne an der Körpersprache arbeiten.“ Der Supervisor meint, es komme darauf an, anderen zuzuhören und dabei die eigene Message nicht zu vergessen. "Ist meine Performance okay?", fragt auch Ines' Assistentin ihre Vorgesetzte. Tatsächlich werden die Rollen verhandelt, die jedes Elternteil eigentlich zu erfüllen hat: Ich-AG, ErzieherIn und die Erziehungsperson, die auch Rat gibt. Gut wäre für die Kinder, dass das diese Rollen möglichst professionell erfüllt werden. „Was ist Performance?“, frägt Toni Erdmann. Erfüllung ist Performance.

VERWANDLUNG IN TONI Ines trifft zwei Freundinnen im Hotel-Restaurant. „Who had the most horrible weekend?“ Die Eine:„Five hours listening to speaking Mandarin.“ Ines nennt ihren Vater als Problem. Der kommt in diesem Moment, nun aber mit einer schlecht sitzenden Perücke mit langem, dunkelbraunen Haar, weißem Bart und abgenutztem falschem Gebiß und Zähnen, die Lücken haben und etwas nach außen stehen: „May I offer the ladies a glass of champagne? ... I'm Toni, Toni Erdmann, business man, consultant, coach.“ „What’s your focus, Toni?“ „Life.“ Ines, ebenso fasziniert wie angewidert, entschließt sich, den Rollenwechsel ihres Vaters nicht aufzudecken. Als sie später sieht, dass ihr Vater, etwas weiter weg sitzend, das Restaurant verlässt, entschuldigt sie sich bei den Freundinnen, um zuerst Richtung WC, dann aber Toni nachzugehen. Der ist uneinholbar im Begriff, in die gemietete Stretch-Limousine vor dem Hotel einzusteigen.

GLÜCK Wilfried zu Ines: „Bist du auch ein bisschen glücklich hier?“ Ines: „Was meinst'n mit Glück? Glück ist ein sehr starkes Wort." "Dass du ein bisschen zum Leben kommst, halt." "... Spaß, Glück, Leben. Das sind ganz schön große Worte. Jetzt werden wir das 'mal ein bisschen ausdünnen.“ Wilfried hartnäckig zu Ines, nun kritisch: „Bist eigentlich ein Mensch?“

FURZ Toni bleibt weiter aufdringlich. Ines wird unwirsch: „Furzkissen unterschieben – ist das alles, im Alter?“ „Ich hab' gar kein Furzkissen.“ Wenig später sitzt Toni tatsächlich auf einem Furzkissen auf einer Hotelbank und 'furzt' vor den Augen der unweit entfernten Ines und ihrem Chef Gerald, der erbost ist. Kurz später, Chef geht voraus, nähert sich Toni, der aber von Ines abgewimmelt wird: „Ich hab gleich n' Meeting mit Henneberg. ... Willst du mich fertigmachen oder was?“

SEX Ines und Tim, ihr Assistent, in einem Hotelzimmer mit Essen, zu dem Tim einlädt. Nach kurzem Geplänkel und einer kurzen Diskussion, ob Sex die Leistungskraft schwächt, will sie nicht mit ihm schlafen. „Nee, mein Biß ist mir wichtiger, ich schau lieber nur zu.“ Tim masturbiert und ejakuliert auf eine Süßigkeit, die von Ines gegessen wird.

PARTY 1 Auf einer Party Ines mit ihren zwei besten Freundinnen, deren eine sagt: „I got the number from the Tiriac coach.“ Toni kommt hinzu. „Wenn Sie Ihr Charisma ausbauen wollen, dann bin ich der richtige Mann.“ Ines zu Toni, für den ein Gast in der Hotel-Lounge wie der einstige Tennisstar Ion Tiriac (heute einer der reichsten rumänischen Unternehmer) ausgesehen hatte: „Guten Abend, Herr Erdmann, kommt Tiriac noch?“ Nein, heute nicht, „because he has a crisis“, so Toni mit Blick auf Ines, „… Herzinfarkt“. Später Toni zu Tim im Gespräch über deren beider Elternherkunft in Richtung Ines: „Ich habe vom Vater gelernt, wie man eine Käsereibe benutzt.“ Und dann das Unglaubliche: Toni Erdmann reibt sich Käse über seinen Kopf mit Ines' Käsereibe, die er auf die Party mitgebracht hat.

ALLTAG 2 Wilfried hat sich im Kleiderkasten versteckt. Ines erschrickt und bewirft Toni wütend mit vorgekochten Spaghetti. Ines zu Wilfried, der sich in die Wohnung geschlichen hatte: „Ich glaub', du hast meinen Schlüssel noch.“ Das kreuzt sich mit der Handschellenszene. Auf dem Weg zum Geschäftsführer der Ölförderfirma Iliescu wird die Handschelle abmontiert. Ines, wenig fokussiert zu Iliescu: „I'm sorry, it's the day. I'm really sorry.“ Iliescus Blick fällt auf Erdmann. Ines: „Er ist mitgekommen als Berater Hennebergs.“ Dann die Begegnung von Toni, Ines und Iliescu mit den armen Rumänen gleich neben dem Ölfeld, bei denen Toni das WC benutzen durfte. Tonis bedankt sich mit einem Geldschein, bekommt Äpfel geschenkt und drückt aus Verlegenheit den Satz heraus: „Don't lose the humour!“ Ines zu Wilfried am Rückweg nach Bukarest diskutierend: „Da hilft dir deine grüne Gesinnung auch nichts.“ Es wird noch ein Umweg genommen. Toni („Lass uns doch einmal höflich etwas zu Ende bringen!“) besucht eine Botschaftsangestellte in einer einfachen Wohnung, in dem gerade viele Menschen Ostern vorbereiten. Ines, die 'brave' Tochter, ist schließlich mitgekommen. „I am Ambassador Erdmann, and this is my secretary, Miss Schnuck.“ Miss 'Schnuck', Ines, will sich gegen das Eierbemalen wehren. Toni zu Ines: „Doch, das ist sehr heilsam. Und schreiben Sie mal mit.“ Dann singt "Whitney Schnuck" grandios - die Schauspielerin Sandra Hüller! - "Greatest Love of All", Whitney Houstons US-20-Wochen-Nummer-1 1986, begleitet von Abassador-/Klavierlehrer-Papa am Klavier. Zum Schluß sitzt Toni neben einer bulgarischen Bärenmaske und -kostüm zur Vertreibung der Geister und hat sein erstes gelöstes Gespräch mit der Botschaftsangestellten. Ines wartet im Taxi.

PARTY 2 Ines' Geburtstagsbrunch gehört ganz der Firma. Dass das Kleid nicht passt und Ines es aus Zeitnot kaum mehr von Leib bringt, als es an der Tür läutet, führt zur radikalen Idee der Nacktparty. Ihrer jungen Mitarbeiterin, die als erste kommt, erklärt die nackte Ines Conradi: „Is'n Nacktempfang – für's Teambuilding.“ Tim und eine der beiden Freundinnen gehen gleich wieder. Toni 'Bärenkostüm-Erdgeist' zu Ines' Chef von hinten: „Bist du Gerald?“ Der, zu Tode erschrocken, wirft sich auf den Boden, nimmt es aber gleich cool. Toni vertreibe böse Geister: „It's good for the team.“ Bald verlässt der unerkannte Toni maskiert die Hausparty. Ines, im Mantel, geht ihm nach. Sie fällt dem dunkelbraunen Geist um den Hals, der sie leicht erschreckt. Wilfried kriegt sinnfälligerweise die Maske kaum mehr herunter.

BEGRÄBNIS VON OMA Wilfried und Ines wieder in Deutschland in ihren 'traditionellen' Familienrollen. Begräbnis von Ines' Großmutter . Toni nun endlich auf Ines' Frage nach dem ausgedünnten Glück: „Was ich lebenswert finde: … Anpacken“. Schlussszene: Ines nimmt sich Tonis zum Lachen geformtes Gebiss aus seiner Sakkotasche, steckt es an ihre Zähne und setzt sich einen Hut aus Omas Hutsammlung auf.

Da Wilfried Conradi und sein alter ego Toni Erdmann eine konkrete einzelne Person ist, die mit der Tochter, Freunden, Schülern und Alltagsbegegnungen zu tun hat, bleibt die Personifikation variabel, beweglich, gemischt. Sie bleibt von Wilfried Conradi, dem Schaupieler Peter Simonischek, abhängig. Und doch ist in Toni Erdmann diese lockere Verkörperung nicht im einen Schauspiel-'Körper' Toni Erdmanns fokussiert - nein, es ist Toni um sein wirkliches Double, seinem wirklichen Scherz seiner Tochter Ines erweitert, und das funktioniert nur, indem auch der Schauspiel-'Körper' Ines um ihr wirkliches Double, ihren wirklichen Scherz ihres Vaters Toni erweitert ist. Diese wechselseitige Verschränkung bestimmt Toni Erdmann erst hinreichend und erklärt, warum sowohl Toni Erdmann wie Ines Conradi die Hauptrolle ist. Tatsächlich ist die Allegorie auch nicht nur auf der Ebene der Personifikation der Figur Toni Erdmann angesiedelt, sondern auch auf der Ebene des Films, der als ganzer die Idee Toni Erdmann zur Erscheinung bringt. Das embodiment oder die Personifikation des abstrakten Begriffs (und nicht einfach nur Namens) von Toni Erdmann erfolgt wie bei allen Allegorien mit Attributen, Handlungen und Reden.

Da sind einmal W. Conradis/T. Erdmanns Attribute. Das künstliche Gebiß, es symbolisiert das abwesende, echte Gebiß (Hape Kerkelings Horst Schlämmer, Helge Schneider), weswegen der Biss noch lange nicht zu fehlen braucht. Die männliche Langhaar-Perücke, sie steht für die 68er, Freiheit, Genuss, Individualismus (auch Schlämmer und Schneider), aber auch für das ironische Schauspiel und die vormoderne, vorbürgerliche Zeit des Barock und sein Welttheater, für die Leistung und Antileistung des siebzigjährigen Alt-68er (Simonischek). Die Spaghetti, die sich Wilfried für sich, aber natürlich auch für Ines wünscht (die sie kochen sollte), sie bedeuten die Imperative Gesundheit, Schlanksein, Sparsamkeit (die Nudel, die Esserin). Die Käsereibe (Duchamps Schokoladenreibe), Produktionsmetapher für den immer zu dosierenden, nie im Überfluss zu verwendenden Parmesankäse, quasi eine Spaß-droge. Das Furzkissen, bezeichnend für die Geringschätzung, die letztlich jede noch so starke Performance erfährt, aber nicht bewusst wird. Die Handschellen, die Wilfried Ines nach ihrem Kokainkonsum am Morgen anlegt und und nach Nichtauffindbarkeit des Schlüssels die Begleitung Wilfrieds zu Ines' Business-Meeting unausweichlich machen, sie symbolisieren Wilfrieds Wunsch nach einer verläßlichen Tochter ("Ersatztochter": Altersbetreuung) an die Grenze des Aneinandergekettetseins. Superstar, Whitney als Ines' alter ego, mehr als nur Karaoke-Symbol für das Sau-raus-lassen, das die Reality-Gesellschaft heute verlangt. Nicht zuletzt Nacktheit: sie wird zwar Ines zugeschrieben, repräsentiert aber im Drängen Wilfrieds, Tonis allgemein die bloße Realität, Wahrheit (Verkleidung/Entkleidung). Dies wird durch die farblichen, dinglichen Gegensätze zwischen Ines und Wilfried/Toni unterstrichen. Sie mit nahezug weißem Teint, er braunschwarz. Sie nackt, er stärkstens behaart. Sie blond, er dunkelhaarig. Sie gekämmt, er zottelig. Die alten Schauspieler-Attribute Maske und Kothurn, die das Gesicht und die Füße bedecken, werden durch industrielle Scherzartikel (Schminke, Haare, Gebiß, Sonnenbrille, Furzkissen, Katzenbrille und -bart) ersetzt, die im Fasching und auch sonst eingesetzt werden. Das hohe Schauspiel wird auf den allgemeinen trivialen Boden der leichten Genres Kabarett und der Encounter-Gruppe heruntergeholt.

Entsprechend die nicht ganz reine Handlung der Allegorie Toni Erdmann. Der seriöse Akt des Schauspiels, der in der Allegorie in einem Personenbild gestellt wird, wird im Film auf den Alltag heruntergebrochen. Kunst wird zum Grimassenschneiden, Possenreißen oder auch nur zum Posen. Der Mensch - Ines wie Wilfried - spielt die Rolle seines Schicksals. Inne wird er seiner, sie ihrer als Scherzbold, Doppelexistenz, wenn nicht Doppelgänger. Wilfried Conradi taucht in eine Menge von Doubles ein: ich und der fingierte Bruder, der Musiklehrer und das Raubtiergespenst mit den Schülern auf der Bühne, Wilfried und Erdmann, Wilfried und der Ines aus Spaß verhaftende Polizist. Die jeweiligen Zweitrollen überzeugen, weil Conradi allen anderen etwas vormacht und durch seinen Charme einnimmt, ohne dass er enttäuschen würde. Man lässt sich gerne von jemandem wie Wilfried Conradi täuschen - wenn er denn anständig bleibt und es gut meint. Ines' Anderes ist weniger augenfällig: sie ist auch die Unternehmensberaterin Conradi, gerade weil sie ihrer Rolle immer erst entsprechen muss und darin gewaltige Anstrengungen investiert. Sie ist neben der realen Tochter auch die Tochter, die mit einer drohenden Ersatztochter konkurrieren muss. Sie ist auch "Spaghetti", knetbare Masse, die von ihrem Vater um 'Reibkäse' erweitert wird. Ihr forderndstes Double ist jedoch sie selbst. Die immer und selbst beim perversen Sex noch gut Gekleidete tritt an ihrem Geburtstags 'aus sich heraus' - buchstäblich: nackt. Die Nacktheit ist zwar ein Attribut, aber eines, das nur durch den besagten Bruch des Aussichherausgehens erreichbar ist. Ines Conradi steigt aus der Marionette, wenn nicht aus der Schauspielerrolle aus, in der sie es sich in ihrem Berufs- und Privatleben leidlich eingerichtet hat. Der Preis ist der Ausstieg: die Kündigung.

Schließlich die signifikante Rede der Allegorie, die Erdmann spielt, etwa in Bezug auf seine Tochter. Leicht und schwer zugleich: "Na, Spaghetti?" „Mit welchen Schwergewichten sie da im Ring steht!“ - Metonymisch für das Gastland Rumänien und für osteuropäische Oligokraten: „Guten Abend, Herr Erdmann, kommt Tiriac noch?“ Nein, heute nicht, „because he has a crisis“. - Wilfried zum Postbeamten, dem er sich im Gespräch mit seinem Bruder vorspielte: „War beides ich.“ - Wilfried, der sich zum Hund auf den Rasen legt: „War halt ein alter Hund.“ - Wilfrieds Erklärung zu seiner angsteinflößenden Schminke: "Hab' einen Nebenjob. 50 Euro pro Exitus im <Seniorenheim> Theresienstift." - Wilfried, sich selbst neu gewinnend, wenn er die Änderung seines Lebens anzugehen im Begriff ist: Ich hab' jetzt jemanden engagiert als Leihtochter.“ - Tonis nahezu universaler Ausweis, spätestens in der zweiten Anwort: I'm Toni, Toni Erdmann, business man, consultant, coach.“ - Toni, hilflos wie unbeirrt, wenn er Armen erklärt: Don't lose the humour!“ - Toni, keck, aber nur um für seine Tochter eine Schneise in eine Realität zu schlagen, die von ihr nichts und das Beste erwartet: I am Ambassador Erdmann, and this is my secretary, Miss Schnuck.“ - Wilfried in eben dieser Herausforderung der Initiation für seine Tochter: Lass uns doch einmal höflich etwas zu Ende bringen!“ - Aber auch Ines Aussagen umspielen die Rolle, zu der das Leben herausfordert, etwa Ines' Lehrsatz, der im Kleinen falsch, in den großen Belangen des Lebens aber richtig ist: Die Kunst ist: dem Klienten erklären, was er selber will.“ Und wenn es um mangelnde Hingabe wie um die auch sexuelle Kontrolle über den untergebenen Mitarbeiter geht: Nee, mein Biß ist mir wichtiger, ich schau' lieber nur zu.“ Und Ines große Revolte, die zunächst wie die Idee ihres unmittelbaren Vorgesetzten erscheint: Is'n Nacktempfang – für's Teambuilding.“

Allegorie ist nach Quintilian eine fortgesetzte Metapher, nach Goethe das Besondere zum allgemeinen abstrakten Begriff, nach Jakobson die Überlagerung der metaphorischen und der metonymischen Bedeutungsebene. Man könnte aber auch, wie oben ausgeführt, von einer Aggregation wichtiger Metaphern in einem Körper sprechen, Kernmetaphern, von denen ein literarischer Text lebt, egal, ob er verfilmt oder im Theater aufgeführt wird. So gesehen würde nicht nur klar, warum die Allegorie so oft eine Verkörperung im Sinne einer Personifikation ist. Es ließe sich auch eine bestimmte Festigkeit in der Metaphernverknüpfung als Wesenszug generell der Allegorie ausmachen.

Doch wie konkret auch immer die Figur Toni Erdmanns oder Ines Conradis gezeichnet ist: eine Familienkomödie - , den Film durchzieht eine eigenartig formale Orientierung, eine Demonstration des Schauspiels an sich, die nur möglich wird durch die grandiose Performance von Peter Simonischek und Sandra Hüller. Performance ist aber hier nicht nur (1) die Aufführung oder Show der Rollen, die auf (2) die Ausführung und Durchführung der Pflichtrollen Vater uind Tochter verweist. Es bekommt das Familiengeschehen sein Dasein nur in (3) der Ausführung und Durchführung anderer Rollen wie etwa des Businesscoaches und der Starsängerin, die wiederum ein geistesgegenwärtiges (4) Schauspiel des Konflikts durch die anderen Rollen nötig machen. Mag auch im Leben oft nur (5) der Effekt der Rolle und sein (Aus-)Spielen wie einen Trumpf gelten, etwas, das von außen als (6) die optimierbare Leistung in einer Rolle erscheinen mag, so kommt heute der Performance ihre Existenzialität erst durch die Buchstäblichkeit der Rolle zu, die uns aus dem mehr oder weniger gewohnten und gewöhnlichen Rollenspiel heraushebt - der Grenzwert der Performance-Art, der uns im Höhepunkt der Nackt-Party zwischen Ines und dem Erdgeist Toni HINTER der Maske auf den Boden wirft. Diese Performance-Artige Gegenwärtigkeit macht Toni Erdmann schlußendlich zu einer in den Schmutz, buchstäblich auf die Erde hinunter gezogenen Allegorie. Das ist nicht weiter tragisch. Denn Toni Erdmann ist eine Komödie, ein Leben mit essenziellen Scherzartikeln, wie notwendig auch immer.


Peter Mahr © 2016


http://homepage.univie.ac.at/peter.mahr/