<2012.7>: L'art philosophique. Rousseausche Erfahrung, oder: Die Gelse saugt – über ein Zurück zur Natur in der ästhetischen Perspektive eines Naturfreundes.  8176 Zeichen. online Dec 22, 2012. .html

Schon am Vortag abends zieht ein Gewitter auf. Zeit, einen Platz zum Übernachten zu finden und das Zelt aufzuschlagen. Gefunden ein Stück Wald mit schroffem Höhenunterschied zu einer mit groben Steinklötzen schief begradigten Donau, eigentlich kein Aufenthalt, ständiges Gefühl des Beobachtetwerdens, surveillance in einem Gebiet, das trotz aller Offenheit abgeschiedener Privatbesitz ist. Die Verwüstung durch das Jahrhunderthochwasser im Jahr 2002, dann Gewaltspuren am Boden, an den Bäumen. Das Zelt stelle ich so schnell wie möglich auf, um mich der möglicherweise feindlichen Natur der Gelsen zu entziehen und auf einen Besitz eigenen Raums separat von Natur zu bestehen. Der 40 Kilometer entfernte Flughafen Schwechat mit seinen Start- und Landebahnen ist nicht weniger weit weg als die Frage, wann ich nach der hereinbrechenden Nacht einschlafen kann. Durch das Stoffgitter sehe ich hinaus, ansonsten bin ich von blauen und roten Nylonwände umgeben. Ich fühle mich durchausgeborgen im Öl der Erde, aus dem das Zelt produziert ist, Artifizielles der Natur selbst, lange bevor eine Tierspezies auf die Idee verfiel, diesen Stoff chemisch industriell zu verarbeiten.

Meine Landkarte zeigt viel unberührte Natur. Doch von Wildnis kann nicht die Rede sein. Bis zum begradigten Donauufer ist alles landwirtschaftlich erschlossen. – Fahren verboten! Radfahrer sollen bitte schön gefälligst auf dem Fernradwanderweg bleiben. Und wenn man das Gebiet schon aus Kosten- oder Pietätsgründen gegenüber den Freunden der Natur nicht absperren kann, dann sollen die Wanderer Wild und Vögel in disziplinierter Weise respektieren. – Feuer machen verboten! Ich bin auf einem der zahlreichen zweispurigen Fahrwege durchs Auengebiet unterwegs. Ein Auto kommt entgegen, „nein, ich schiebe nur“. – Campieren verboten! „Ja, das weiß ich“ schon, gelernter Österreicher, der ich bin, von klein auf.

Und dann taucht wieder das dschungelartige, tropische Bild der Natur in mir. Es fällt mir in diesem Moment schwer, dieses innere mentale Bild erstens festzuhalten, das sich wie selbstverständlich über den niederösterreichischen Fremdenverkehrsprospekt zweitens schiebt und mit meinem Blick über den kleinen Wasseraltarm mit dem Bißchen an Wegen drittens eine prekäre Einheit eingeht.

Meint die Natur, mit der ich mich in Harmonie fühlen möchte, auch schlechtes Wetter? Regen engt den Blick ein. Zwar ist nicht alles grau, doch Regen drückt Stimmung. Setzt schöne Natur schönes Wetter voraus? Dabei könnte ich zumindest eine spezies-emotionale Zuflucht finden. Im Nationalpark Donau-Auen gibt es seit Kurzem einen deklarierten Campingplatz, ohne Strom, Sanitäranlagen, unumzäunt. Offiziell von der Europäischen Union gefördert, hat im Sommer ein Kiosk in Form eines dekonstruktivistischen Holzraumschiffs auf dem kleinen, gemähten Wiesenstück geöffnet, direkt an der Donau, die mit ihren Schiffe Lärm macht.

Die Gegend ist in mein Bewußtsein gerückt, als die Au im Dezember 1984 gegen ein Flußkraftwerk und die Rodung des Auenwalds erfolgreich besetzt und bald zum Naturschutzgebiet erklärt wird. Seit ein paar Jahren wird nun die Donau in diesem Streckenabschnitt teilweise rückgebaut. Den pfeilgeraden, 40 Kilometer langen Damm wiederum, auf dem ich wie andere Radfahrer überhaupt dorthin gelange, gibt es seit Kaiser Franz Josefs Zeiten. Er hat gerade noch das Jahrhunderthochwasser 2002 verhindern können. Der Damm, der wohl auch die Planung des Kraftwerks mit angeregt hat, definiert also das Gebiet heute ebenso wie dessen Rettung im Dezember 1984, als Naturschützer die Hainburger Au erfolgreich gegen Auwaldrodung wie Kraftwerksbau besetzten.

Schließlich erreiche ich doch noch die von mir erträumte, unberührte Natur. Aber was heißt hier unberührt? Fahrwege mit Steindämmen, um entlegene, von Wasser umschlossene Gebiete zu erreichen? Immerhin sind sie ruinenartig-ruinös mit angeschwemmten Bäumen überlagert. Heißt unberührt etwa der schroffe Altarm der Donau, in dem erstaunlich viele Ruderbote von Einheimischen ankern? Oder ist es nicht einfach der sich verengende, schon mit zwei Meter hohen Blumen beinah zugewachsene Weg, der den Raum für eine sei es auch nur erbaulich beobachtende Berührung wieder verschließt? Auf ihm sind gerade so viele Menschen gegangen, dass er noch als solchen erkenntlich ist.

Die Gelse saugt. Wenn ich könnte wie Freund T, dann würde ich es ihr weiter nicht verargen. Als Mensch muss ich mich fragen: Setzt meine Erfahrung der schönen, abgeschiedenen, wilden Natur das Auftragen von Gelsenschutzmittel auf der Haut oder eine vermehrte Einnahme von Vitamin B voraus, um mich überhaupt in einen Zustand ruhiger Betrachtung versenken zu können? Wie auch immer, die Rousseausche Erfahrung scheint mir idealiter weiterhin die einer berührend unberührten Natur zu sein, wild und harmonisch zugleich, im Modus des Naturbeobachtens und Naturgenießens. Ob nun Wunschvorstellung, Vorstellung oder Realität – einerlei: einen ganzen Sommertag in den Hainburger Auen siebzig Kilometer östlich von Wien verbringen, am Vortag anreisen und am Folgetag abreisen, schönes und heißes Wetter, Baden in einem der still liegenden Donauarme, mit Zelt und Verpflegung; ohne Gottes technischen Segen in Form von Fernsehen, Radio, Computer, Handy und Uhr: diese Utopie werde ich auch weiter nicht zu suchen aufgeben.

61 Millionen Passagiere wurden im Jahr 2011 am Flughafen Charles de Gaulle nahe Paris abgefertigt. 11 km nordöstlich liegt Ermenonville, das Örtchen mit einer Grafschaft, die den ersten englischen Garten am europäischen Festland anlegte, bevor sie zum letzten Wohnort von Jean Jacques Rousseau wurde. Rousseau wollte noch einmal Kräfte sammeln und dies in der Natur des Parks von Ermenonville tun. Derjenige, der leidenschaflich botanisiert hatte und traditionsbildend für eine Natürlichkeit in der Oper in der Forderung nach einer Melodik noch vor Harmonik eintrat – Poesie und Gesang stehen am Ursprung der Sprachen, in dessen Suche immer die Suche nach dem Einklang mit der Natur eingeschrieben ist – , hatte aber noch früher an eine andere, eine sozial bestimmte individuelle Natur gedacht.

Man solle in der Erziehung die ursprünglichen Gefühle, Neigungen und Bedürfnisse naturhaft entwickeln lassen und nicht zu früh mit Idealen, Gewohnheiten und Pflichten kommen. Hinter dieser Vorstellung steckt eine idealisierte Natur, das heißt, der Mensch ist von Natur aus gut. Er lebt in einem Naturzustand – hier beginnt schon die Überblendung mit dem analogen sozialen Naturzustand, der auch ein Zustand der Natur oder des Wesens der Menschen allgemein ist. Er lebt in einem Zustand der Verschwendung, in dem die Individuen trotz ihrer tierischen Natur frei und gleich sind. Das bedeutet, dass die ersten Naturbewegungen noch vor jeglicher Unart und Lasterhaftigkeit zugleich schon individuell (natur-)rechtens sind, also noch vor jeder Vereinigung zur Gesellschaft – mit Selbstliebe, Liebe des Anderen, Bewahrungswillen. Auch hierin gälte das Naturrecht vor dem positiven Recht. Es ist der Zufall, durch den wir aus einer bislang gastfreundlichen Natur hinausfallen. Der Mensch hat das Potenzial, Leidenschaften und Begierden zu entwickeln ebenso wie Vernunft und sogar die Vorstellung der Perfektionierbarkeit des Menschen. Doch der Ausgang aus dem Naturzustand führt auch die Bildung von Städten mit sich, aus der die Natur verjagt und das Katastrophische angesammelt wird. 

Die rousseausche Erfahrung besteht heute darin, an der Wildnis festzuhalten und die Erfahrung dort erneut anzugehen, wo Enttäuschungen eintreten. Das es bald schon keinen Ort mehr geben wird, wo es keinen Fluglärm mehr zu hören, kein künstliches Licht vom Himmel in der Nacht zu sehen gibt, heißt nicht, dass wir nicht die technische Natur so weit ausblenden können müssten, dass eine Naturerfahrung dennoch möglich ist. Die Gelse wird weiter saugen. Aber so wie nach Madonnas Konzert in der Krieau so gut wie niemand mehr dort auftrat, müsste es mir gelingen, mit Gelsen in einer gewissen façon de vivre den Traum des wie auch immer einsamen Spaziergängers mit der Realität zu träumen. Ob dies nun rein ästhetische oder auch noch andere soziale Folgen hat, bleibt abzuwarten.

Peter Mahr (c) 2012