mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik
10 (2007), Nr.2/June
Übersetzung
Voltaire, Traum.
Übersetzung von Art. „songe“, aus: Dictionnaire Philosophique. Nouvelle Édition.
Revue, corrigée, & augmentée de divers Articles par l’Auteur, Londres M.DCC.LXV. 3630
Zeichen.
Die Träume, die die Geister durch Vogelschatten verspotten,
kommen weder aus den Tempeln der Götter,
noch von den Kräften der Luft:
jeder macht sich seine Träume selbst.
Petronius, Satyricon
Aber wie kommt es, dass wenn
im Schlaf alle Sinne tot sind, es einen inneren Sinn gibt, der lebendig ist?
Wie kommt es, dass Ihre Augen nicht mehr sehen, Ihre Ohren nichts hören und Sie
dabei in Ihren Träumen gleichwohl verstehen? Der Hund ist auf der Jagd im
Traum, er bellt, er folgt der Beute, er kriegt seinen Teil ab. Der Dichter
macht seine Verse, indem er schläft. Der Mathematiker sieht Figuren; der
Metaphysiker räsonniert gut oder schlecht: mit all dem hat man treffende
Beispiele.
Sind das die einzigen Organe
der Maschine, die handeln? Ist es die reine Seele, die, dem Reich der Sinne
unterworfen, in Freiheit mit ihren Rechten spielt?
Wenn die Organe allein die
Träume der Nacht erzeugen, warum werden sie allein die Ideen des Tages
erzeugen? Wenn die reine Seele, ruhig während der Erholung der Sinne, im
Handeln durch sich selbst die einfache Ursache ist, das einfache Subjekt aller
Ideen, die Sie beim Schlafen haben – warum sind dann all diese Ideen fast immer
unregelmäßig, unvernünftig, unzusammenhängend? Was, es ist die Zeit, in der die
Seele am wenigsten aufgeregt ist, dass es mehr Aufregung gibt als in all ihren
Einbildungen? Sie befindet sich in Freiheit, und sie ist verrückt! Wenn sie mit
metaphysischen Ideen geboren wäre, wie es viele Schriftsteller gesagt haben,
die mit offenen Augen träumen, müssten ihre reinen und lichtvollen Ideen des
Seins, des Unendlichen, von allen ersten Prinzipien in ihr mit der größten
Energie wach werden, während ihr Körper schlummert: Man wäre nur im Traum ein
guter Philosoph.
Welches System Sie auch
umarmen, welche eitlen Anstrengungen Sie auch immer unternehmen, um sich zu
beweisen, dass die Erinnerung Ihr Gehirn entfernt und Ihr Gehirn Ihre Seele, so
ist es erforderlich, dass Sie zugeben, dass Ihnen all Ihre Ideen im Schlaf ohne
Sie kommen, trotz Ihnen: Ihr Wille hat daran keinen Anteil. Es ist also sicher,
dass Sie sieben oder acht Stunden ununterbrochen denken können, ohne die
geringste Lust zu denken und ohne selbst sicher zu sein, dass Sie denken.
Erwägen Sie das und trachten Sie danach zu erraten, was das Zusammengesetzte
des Tieres ist.
Die Träume sind immer ein
großer Gegenstand des Aberglaubens gewesen. Nichts war natürlicher. Ein Mann,
der von der Krankheit seiner Geliebten lebhaft berührt ist, träumt, dass er sie
im Sterben sieht, sie stirbt am Tag darauf, also haben ihm die Götter ihren Tod
vorausgesagt.
Ein General der Armee träumt,
dass er eine Schlacht gewinnt, er gewinnt die Schlacht tatsächlich, die Götter
haben ihn benachrichtigt, dass er der Sieger sein würde.
Man legt sich nur über die
Träume Rechenschaft ab, die vollendet wurden, man vergisst die anderen. Die
Träume machen, wie auch die Orakel, einen großen Teil der antiken Geschichte
aus.
Die Vulgata übersetzt daher
das Ende des Bibelverses 26 von Kap. 19 von Levitikus: Du wirst durchaus keine
Träume beobachten. Aber das Wort Traum kommt im Hebräischen auch gar nicht vor:
Es wäre ziemlich seltsam, wenn man die Beobachtung der Träume im gleichen Buch
missbilligte, wo gesagt wird, dass Josef zum Wohltäter Ägyptens und seiner
Familie wird, um drei Träume erklärt zu haben.
Die Erklärung der Träume war
eine so allgemein verbreitete Tatsache, dass man sich nicht auf diese eine
Intelligenz beschränkte. Man musste manchmal auch noch erraten, was ein anderer
Mensch geträumt hatte. Nebukadnezar, der einen Traum, den er geträumt, vergaß,
befahl seinen Weisen, ihn zu erraten, und drohte ihnen mit dem Tod, wenn sie
nicht zu einem Ergebnis kämen. Aber der Jude David, der von der Schule der
Weisen kam, rettete ihnen das Leben, indem er erriet, welches der Traum des
Königs war, und ihn deutete. Diese Geschichte und viele andere könnten dazu
dienen zu beweisen, dass das Gesetz der Juden nicht die Oneiromantik
verteidigte, die Wissenschaft der Träume.
© for translation Peter Mahr 2007
back to: Addenda