mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

4 (2001), Nr.2/September

 

 

Interview

Boris Groys. Mit einer biobibliographischen Anmerkung. 26181 Zeichen.

 

PM Ich möchte beginnen mit einer Frage zur philosophischen Ästhetik im Allgemeinen, wie sie zumindest längere Zeit existiert hat, vielleicht heute nicht mehr existiert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat Joseph Addison in der Nr. 412 des Spectator, der von den Vergnügungen der Einbildungskraft handelt, drei Kategorien als die zentralen der Ästhetik angegeben: das Große, das Ungewöhnliche, das er gleichsetzt mit dem Neuen, und das Schöne. Im gesamten englischen ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts wurden diese drei Kategorien beibehalten mit einer Ausnahme, nämlich bei Edmund Burke, an den, wie wir alle wissen, Immanuel Kant angeknüpft hat, sodaß es dann über lange Zeit bei diesen zwei ästhetischen Qualitäten, Grundqualitäten geblieben ist, dem Schönen und dem Erhabenen. Aus dieser Perspektive könnte man sagen, daß Sie, sofern Sie sich auf den philosophischen ästhetischen Diskurs beziehen, diese dritte Kategorie wieder hereingeholt haben. Würden Sie dieser Sicht zustimmen?

BG Ich würde sagen, daß, was ich im Buch "Über das Neue" beschreibe, die Dynamik der Moderne ist, die Produktion des Neuen. Und ich denke, daß die Moderne mit jener Art Vorstellungen, die Sie in Erinnerung rufen, radikal bricht. Es handelt sich um einen Bruch mit dem Vergnügen, einen Bruch mit dem Geschmack generell. Das heißt, die klassische Ästhetik, zumindest die, die durch den Kreis der Autoren repräsentiert wird, den Sie hier ansprechen, stellt Geschmack in den verschiedenen Varianten seines Funktionierens in den Mittelpunkt der ästhetischen Diskussion. Und dann fragt man nach dem Geschmack für das Neue oder für das Erhabene oder für das Schöne. Ich denke, daß die Kunst der Moderne, die Kunst der Avantgarde die Kunst jenseits des Geschmacks ist. Das ist eine Kunst, die das Neue nicht deswegen produziert, weil das Neue gefällt. Sondern vielmehr führt eine gewisse technische und institutionelle Logik dazu, daß man das Machbare macht. Auch wenn es einem nicht gefällt - so sagt Malewitsch etwa, daß sein Kampf im Kampf gegen die Aufrichtigkeit des Künstlers besteht. Und er erklärt, daß wenn der Künstler etwas tut, was ihm selbst gefällt, das schon per definitionem reaktionär ist, weil unser Inneres uninteressant und nicht neu ist. Es würde sich um eine Wiederholung einer schon etablierten Form, eines schon etablierten Geschmacks handeln. Die neue Kunst wird für einen neuen Menschen gemacht. Das heißt, zunächst einmal kommt die Form, und erst dann wird diese Form für einen Menschen produziert, dem sie eventuell gefällt oder auch nicht. Wenn wir, wie ich im Buch schreibe, so etwas wie ein Archiv haben - Archiv ist in erster Linie eine technische, institutionelle Angelegenheit, eine Summe von Objekten, die auf eine künstliche Weise zusammengestellt sowie miteinander verglichen und aufbewahrt werden - dann ist alles, was sich auf diese Institution bezieht, nicht mehr menschlich, nicht mehr humanistisch, nicht mehr durch den Geschmack zu erklären oder durch andere psychologischen Gründe. Es ist nur durch den formalen Bezug von Vergleichsmöglichkeiten zwischen den im Archiv aufbewahrten Gegenständen zu erklären auf der einen Seite - das Archiv ist Museum in diesem Fall - und der Dinge, die draußen sind, wie das Ready-made zeigt, oder die neu gesetzt werden, erfunden werden. Es handelt sich hier um eine Logik, die sich jedem Geschmack entzieht, die die Form jenseits des Geschmacks produziert. Dann aber kann man sich sicherlich fragen: Gefällt mir das, oder gefällt es mir nicht? Der Unterschied zwischen modernen und früheren Zeiten besteht allein darin, daß diese Frage nun eine sekundäre ist. Die klassische Theorie, die den Geschmack oder eine gewisse Erfahrung als Ursprung des Werks ansieht, ist in bezug auf die Kunstproduktion sekundär. Das ist der zentrale Punkt des Buches, wenn man will.

PM Sie haben die Ästhetik jetzt betont in die Sphäre des Geschmacks gerückt, etwas, was ja auch in der heutigen Verwendung des Wortes "Ästhetik" primär wiederklingt. Was bleibt aber mit dem theoretischen Rahmen, der die Ästhetik als eine Philosophie der Kunst bestimmt? Gibt es den noch angesichts dessen, was Sie jetzt eben auch zum Neuen ausgeführt haben, oder müssen wir auf ihn verzichten?

BG Wir müssen den Geschmack, taste, radikal verabschieden. Und das eröffnet erst die Möglichkeit eines Theoretisierens, dem gegenüber der Geschmack die Grenze des Theoretischen ausmacht. Ich könnte ja sagen, das gefällt mir, und das gefällt mir nicht, und damit jede theoretische Diskussion beenden. Außerdem wurde der Geschmack von den Humanisten erfunden, von der frühen Aufklärung, um die Geltung der Theorie in Form der Theologie zu begrenzen, damit der Mensch in den Mittelpunkt gestellt werden konnte. seine Psychologie und seine Reaktionen. Indem man den Geschmack abschafft, schafft man die Grenze für das Theoretisieren ab. Gerade auf dem theoretischen Standpunkt werden Kunstwerke miteinander verglichen und in diesen Vergleichen analysiert. Das heißt, wir vergleichen Kunstwerke nicht an den menschlichen Reaktionen auf sie, sondern miteinander. Man sagt, es gibt so und so viele Bilder, die schöne Frauen darstellen. Es gibt so und so viel Bilder, die Kühe auf der Wiese darstellen. Es gibt aber kein Bild, das schwarze Quadrate darstellt. Also machen wir so ein Bild, und vergleichen wir dieses Bild mit anderen Bildern und zwar unabhängig davon, ob dieses Bild uns gefällt oder nicht, ob dieses Bild unserem Geschmack entspricht, ob es erhaben, schön oder neu ist im psychologischen Sinn. Wir machen es, weil es fehlt, weil es möglich ist, weil es machbar ist. Und alles, was machbar ist, soll gemacht werden. Das ist das Prinzip einer technologischen, orientierten Zivilisation. Und die Kunst in der Moderne ist ein Teil davon.

PM Daraus schließe ich, daß die Kritik, an die Kant mit Hume ästhetisch anknüpfte, nicht mehr im Sinne einer Metakritik des ästhetischen Diskurses in bezug auf den Geschmack, sondern nur mehr in bezug auf Werke stattfinden kann, womit für die Moderne, aber dann insbesondere für die Postmoderne der diskursive Bezug zur Kunst nicht mehr der einer Kunstkritik, sondern nur mehr der eines Kunstkommentars sein kann. Das heißt, daß die Ansprüche der Kunstkritik zu verabschieden sind. Es kann nur mehr einen Kunstkommentar im weiteren Sinn geben. Würden Sie dem zustimmen?

BG Ich würde dem zustimmen und sagen, die Figur der Kunstkritik, der Kunstkritiker, war in der europäischen Tradition die lebendige Verkörperung des richtigen Geschmacks, eines humanistischen, allgemeingültigen Geschmacks. Der Kritiker konnte im Namen dieses Geschmacks reden und die Kunst beurteilen als die, die diesem Geschmack entspricht oder nicht entspricht. Nun, erstens glauben wir unter den Bedingungen des Multikulturalismus nicht mehr an so etwas einen einheitlichen Geschmack. Und zweitens funktioniert die Kunst - und da ist jetzt auch die Kritik am Multikulturalismus eingeschlossen - nicht als Teil der Kultur, nicht der Verankerung in einem bestimmten psychologischen Lager. Sondern es handelt sich um einen abstrakten technologischen Prozeß, der darin besteht, daß man unter den unterschiedlichen Standpunkten mehr und mehr Gegenstände, Bilder einem Vergleich unterzieht. Man holt Coca-Cola-Flaschen, die Mona Lisa, dann wieder das und jenes, und vergleicht das, was zunächst nicht verglichen wurde. Diese Logik des Kunstgeschehens kann man unter diesen Aspekten oder jenen kommentieren. Der Kommentierende ist im Grunde in diesen Prozeß involviert. Auch er vergleicht. Und das bedeutet, er hat keine kritische, unabhängige Position. Er ist involviert in den gleichen Prozeß, in den auch der Kurator, der Künstler involviert ist. Damit ist die kritische Position abgeschafft, weil es für sie einfach keinen Ort gibt, von dem aus sie ihre Urteile überhaupt findet.

PM Also ich finde, daß die Figur des Kommentators, wie Sie sie eben jetzt beschrieben haben, durchaus auch mit Geschmack ausgestattet ist, der dann auch so etwas wie ein kritische Autorität zukommt. Dennoch ist das natürlich nicht der Grund, auf den sich der Kommmentator stützen kann.

BG Also, ich möchte noch einmal sagen, der Grund des Kommentars ist ein theoretischer. Und daher ist er auch jederzeit relativierbar. Der Grund für das kritische Urteil ist strukturell ein theoretischer. Das authentische, kritische Urteil beruht auf der außentheoretischen Fähigkeit eines Individuums zur Verkörperung eines kollektiven Geschmacks, einer Fähigkeit, die letztendlich eine religiöse ist, wenn man will, oder eine parareligiöse, was mit der theoretischen Praxis wenig zu tun. Es ist wie die Fähigkeit eines Politikers, so etwas wie öffentliche Stimmung zu verkörpern und ihr ein Sprachrohr zu bieten. Es ist eine durchaus vorhandene Fähigkeit. Es ist, wie Kant sagen würde, eine durch und durch praktische Fähigkeit.

PM Also, ich denke, daß diese Unterscheidung, die Sie sehr streng vornehmen, auch damit zu tun hat - um wieder auf das Neue zurückzukommen - , daß es nicht nur um die Perspektive aus dem Kunstwerk des Künstlers als vorwegnehmende kritische Instanz geht, wie Sie es gegenüber einem erst kommenden Publikum in der russischen Avantgarde erkennen. Noch mehr geht es - um zu einer Ihrer Kernthesen des Buchs "Über das Neue" zu kommen - um den Mitvollzug einer Umwertung, also daß dort, wo früher die Ästhetik im klassischen Sinn war, nun eine Kulturökonomie im modernen und dann postmodernen Sinn wäre. Ihr geht es darum, theoretisch diese Umwertung, bei der Sie übrigens weniger an die Ökonomie anknüpfen, sondern eher an Nietzsche wie Derrida im Sinne der Umwertung der Werte, mitzuvollziehen. Ein kleines Unbehagen - so plausibel diese Bestimmung erscheint - bleibt mir, weil, wie Sie dann im geradezu affirmativen Gestus sagen, wenn der Kunstkommentator seine Aufgabe nur mehr darin hat, schützende Textkleider für Kunstwerke zu schneidern, dann doch fraglich ist, ob er sich nicht der Distanz begibt, die er auch im einzeltheoretischen Sinn benötigt.

BG Distanz ist durchaus da. Denn was ist die Umwertung der Werte? Zunächst einmal geschieht die Umwertung der Werte dadurch, daß ich etwas einem Vergleich zuführe, das früher nicht verglichen wurde. Dadurch werte ich dieses Ding automatisch auf, wie auch immer dieser Vergleich ausfällt. Warum es nicht mit Ökonomie im marktwirtschaftlichen Sinne zu tun hat? Weil es um die Ökonomie der Museen und der Archive geht. Und Museen und Archive sind schwarze Löcher der Marktwirtschaft, weil die gerade herrschende Konvention, Ihnen zu kaufen erlaubt, aber nicht zu verkaufen. In diesen schwarzen Löcher verschwindet alles, es kommt aber nie etwas heraus. Dadurch findet diese Funktion des Vergleichs jenseits des marktwirtschaftlichen Vergleichs statt. Sie hat ein anderes Wertsystem als die Marktwirtschaft. Was ich versucht habe, ist, die Ökonomie dieser schwarzen Löcher zu beschreiben. Das ist die Kulturökonomie. Vergleich ich etwas, ist es auch schon aufgewertet. Deswegen sage ich, daß die Praxis des Kunstkommentators sich von der des Kunstkritikers unterscheidet. Der Kunstkritiker spricht in Termini von "plus" und "minus". Also: das gefällt mir, und das muß generell gefallen, weil mein Geschmack der richtige Geschmack ist; das gefällt mir nicht, also darf es nicht gefallen - minus. Der Kunstkommentator operiert im Code 1/0. Ich erwähen etwas und bringe es in einen Vergleich, oder ich erwähne es nicht, vergleiche es nicht und werte es damit nicht auf. Das heißt, die kritische Distanz bleibt, die theoretische Unabhängigkeit bleibt, nur operiert sie jetzt mit einem anderen Code. Zum Beispiel, jemand bekommt ein Besprechung in der FAZ. Und in dieser Besprechung - sagen wir, sie ist eine halbe Seite lang - steht: Das ist die letzte Scheiße. Was merkt man daran? Nur die Tatsache, daß die FAZ diesem Menschen eine halbe Seite gewidmet hat. Das Urteil selber wird absolut nicht wahrgenommen. Das heißt, das Plus/Minus-System ist effektiv inoperativ. Es geht also nicht nur um meinen individuellen Übergang von der Kunstkritikerposition zur Kunstkommentatorposition, sondern ich vollziehe einen allgemeinen Prozeß mit, der unabhängig von mir schon stattgefunden hat. Aber ich wechsle nicht nur diese Position, sondern ich reflektiere diesen Positionswechsel auch, wie er tatsächlich vor sich gegangen ist.

PM Sie haben sich in verschiedenen Anläufen mit dem Monster auseinandergesetzt, sei es, was das Häßliche betrifft, sei es, was den Sport betrifft, sei es, was eine bestimmte späte zeitgenössische Gruppe Moskauer Konzeptualisten in der Literatur betrifft. Das Monster, das Monstrum, das Monströse ist vielleicht neben dem Neuen die andere wichtige ästhetische Kategorie bei Ihnen geworden. Wie läßt sich das Monströse in einen systematischeren Zusammenhang bringen? Und zugespitzt gefragt: Wird die Kunst der nächsten Zeit, so wie sie sich im Hollywoodfilm abzeichnet - wie Sie schreiben - , sich schwerpunktmäßig mit dem Monster nicht nur im gegenständlichen Sinne, sondern auch in einem prozessualen Zusammenhang beschäftigen?

BG Ja, das ist ohne Zweifel der Fall. Und man kann ganz klar sagen, warum, wenn man die Begrifflichkeit des Vergleichsraums weiterentwickelt. Was wäre das Monstrum als Vergleichraum? Es wäre eine Art Museum, eine Art Behörde.

PM Eine Art Neues, wie schon Addison sagt, wenn er vom Reiz der Mißgeburt spricht?

BG Nein, absolut nicht. Kein Geschmack, kein Reiz, nicht einmal das Neue spielt eine Rolle. Das Monster ist kein neues Ding im Museum. Das Monstrum ist wie das wandelnde Museum selbst. Es ist zunächst einmal ein sehr neutraler Ort. Man kann es als schwarzes Quadrat nehmen, das als monströse Figur in Erscheinung tritt. Es ist zunächst völlig neutral. Und dann: Der Körper des Monstrums funktioniert genau so wie die heutige Ausstellungspraxis. Man könnte sagen, kombinieren wir Mona Lisa mit Coca Cola. Aber was wird, wenn man einen Menschen nimmt, und anstelle der Nase kommt die Hand, anstelle der Hand kommt das Bein. Aber vielleicht nicht nur das. Anstelle des Beins kommt eine Maschine, und anstelle des Gehirns kommt ein Computer. Ein Auge zum Beispiel ist organisch, ein anderes maschinell und so weiter. Das heißt, der menschliche Körper, generell der Körper - denn "menschlich" kann man nicht mehr sagen - , also der posthumane Körper wird dann als Ort einer freien Kombination verschiedener maschineller und körperlicher Elemente verstanden. Ein Hintergrund ist, daß der Mensch von uns als Ort der genetischen Kombinatorik gesehen wird. Übertragen hieße das, daß der Mensch ein wandelndes Museum der Gene ist. Damit wird er aber auch zum Kurator des Museums seiner Gene. Ich denke, daß die Kunst, die sich mit dem Monströsen beschäftigt, zur neuen Kunst der Selbstreflexion werden wird, das heißt, zur Kunst, die sich mit der Frage beschäftigt, unter welchen Bedingungen die kombinatorische Praxis in unserer Kultur funktioniert. Das Monstrum entsteht dann, wenn ich mich selbst als Museum meiner Organe und meiner Gene sehe, das dann unter konstanten Bedingungen einer temporären Ausstellung entspräche - gegenüber den permanenten Sammlungen jetziger Museen. Der Mensch ist eine permanente Sammlung seiner Gene und seiner Organe und als solche im öffentlichen Raum ausgestellt. Wenn er aber beginnt, sich in einer Serie von temporären Ausstellungen zu verwalten - und das ist genau das, was wir das Monströse nennen - , dann liegt das genau auf der Linie der gesamten künstlerischen Entwicklung. Ich meine: Das Monstrum ist immer ein Ausschnitt, eine kombinatorische Variante unter vielen anderen – ihm felt die Normativität des traditionellen menschlichen Körpers – stattdessen ist es für jede neue Experiment, für jede neue Kombination offen. Man muß auch sehen, daß so etwas wie Technik nicht an sich existiert. Es gibt keine autonome technische Dynamik, das ist Illusion. Technische Mittel entstehen aus der Möglichkeit ihrer Verwendung. Wir erfinden Technik erst, oder wir übenehmen sie erst, wenn wir wissen, wie sie verwendet werden kann. Und jene ständige Herstellung von Vergleichsräumen durch unsere Kommentatoren wird auch Technik im Sinne der genetischen Technik, der Technik der Organtransplantation produzieren. Nicht zufällig haben Künstler wie Orlan innerhalb des Kunstbetriebs versucht, sich ständig operieren zu lassen, ihr Aussehen ändern zu lassen. Auch Michael Jackson bewegt sich in diese Richtung.

PM Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß in dieser beständigen Inkonstanz, sogar die Inkonstanz der Möglichkeit des Todes enthalten ist, daß, wie Sie im Gespräch mit Jean Baudrillard ansprechen, sogar der Tod zur Aufgabe wird, den Tod als Kunstwerk zu gestalten. Also liesse sich Ihre Unterscheidung von Archiv und profanem Raum noch stärker stützen. Dem Archiv kommt eine noch viel größere Bedeutung zu, als noch im Blick auf die Sammeltätigkeit der Kunstwelt zu sehen war. Bedeutet das eine Aufwertung der Kunst?

BG Ja, ganz bestimmt. Wir leben - und das ist eben der Punkt - wir leben in einer Kultur, die das Natürliche ständig abwertet und das Künstliche aufwertet, ob wir das wollen oder nicht. Und sicherlich haben Sie völlig recht. Worin unterscheidet sich das Archiv vor allem vom profanem Raum? Die Antwort ist: in unserer Fähigkeit, Zeiträume zu definieren und zu verwalten, in denen bestimmte Objekte existieren oder nicht existieren. Das heißt, im Archiv haben wir institutionell und technisch abgesichert Verfahren, die uns erlauben, Dinge innerhalb derjeneigen Fristen aufrecht zu erhalten, die wir für richtig halten. Ein Bild muß so oder so lange bleiben, dann wird es ausrangiert. Das Archiv unterscheidet sich vom profanem Raum nicht, weil im profanem Raum andere Dinge existieren als im Archiv, sondern deswegen, weil wir im profanen Raum davon ausgehen, daß wir die Fristen der Existenz der Dinge nicht kontrollieren können. Werte erscheinen irgendwie und gehen unter, und wir wissen eigentlich nicht, wie. In diesem Sinne war der Mensch immer ein profanes Wesen und bleibt es weitgehend. Das heißt, der Mensch ist durch und durch profan, weil wir nicht sagen können, wann der Mensch geboren wird und wann er stirbt. Wir archivieren aber den Menschen zunehmend, zunehmend machen wir so etwas wie eine Geburts- und Familienpolitik. Verschiedene Eingriffe versuchen den Ausgangspunkt der individuellen menschlichen Existenz zu fixieren. Und es entwickelt sich zunehmend die Diskussion über Selbstmord und Euthanasie, die ich für sehr produktiv halte, weil diese Diskussion sichtbar macht, daß das Ende des Menschen künstlich und verwaltbar ist. Ich persönlich finde den Selbstmord besser. Aber der Selbstmord muß gleichzeitig sozial abgesichtert sein, wie es in römischen Zeiten der Fall. Das heißt, er muß institutionalisiert werden. Aber auch das Problem der Euthanasie darf man nicht ignorieren. Der Mensch wird also aufgewertet, wird zunehmend zu einem Ding im Archiv, wenn die Kultur mehr und mehr versucht, Anfang und Ende seiner Existenz in Griff zu bekommen. Wir sind im Prozeß der Aufwertung des Menschen begriffen, nur eben nicht als natürliches, sondern als künstliches Wesen. Je künstlicher der Mensch, desto wertvoller wird er. Wir schätzen nur das Künstliche. Wir schätzen nicht das Natürliche. Die Natur kann auch untergehen. Aber das Künstliche möchten wir erhalten und verwalten. Ich denke, das ist eine sehr positive Entwicklung für das menschliche Wesen.

PM Um zur "Phänomenologie der Medien" kommen

BG - zum Verdacht,

PM zum Verdacht - , wäre die Verbindung eigentlich schon durch das Monstrum gegeben. Denn was immer unter unseren Verdacht fällt, was immer für uns suspekt wird, ist etwas, das unter dem Verdacht steht, monströs zu sein. Nur, Sie beziehen zunächst das, was verdächtigt wird, auf die Medien, strikter gesagt, auf das, was sich unterhalb der Medien, hinter, im Rücken der Medien vollzieht oder sich zu entziehen scheint. Es ist das, was Sie den submedialen Raum nennen. Die Frage ist, ob eine - Sie sprechen auch von Medienontologie - Phänomenologie der Medien sich tatsächlich auf diesen submedialen Raum konzentrieren kann, wenn sie ihm nicht eine gewisse Materialität zuspricht. Nur ist die Materialität genau das, was Sie sogleich abstreiten: das Submediale sei eben nicht das Materielle. Ich würde Sie bitten, hier Stellung zu beziehen. Sie haben insbesondere zur Fotografie, was die Appropriationisten betrifft, sich speziell im interessanten Text zu "Medien und Mediatoren" bei Richard Prince hier auf eine Ebene der reinen Materialität bezogen, sofern sie von privilegierten Konsumenten und nicht vom Produzenten par excellence herkommen - beide ergeben die Figur des Mediators. Aber Sie haben sich auch auf Niklas Luhmann bezogen, dem Sie vorwerfen, daß er diesen summedialen Raum übersehen hat. Wie ist der Status des Materiellen zu bestimmen? Kann er gesehen werden allein als die Unterseite des Zeichens, also das, was das Arbiträre des materiellen Trägers der Zeichen aus der de Saussureschen Perspektive wäre? Liegt da nicht ein Problem sozusagen darin, daß dem Materiellen das Materielle wieder genommen wird im Sinne einer reinen Materialität?

BG Entwickeln wir den Ansatz weiter! Das Buch "Über das Neue" ging aus einer gewissen Prämisse hervor, die ich als Insiderprämisse bezeichnen würde. Diese Insiderprämisse besteht darin, daß jemand genau weiß, welche Räume Vergleichsräume sind - im Museum, Archiv, in der Bürokratie, also tradierte und verwaltete Räume - , und welche Räume nicht Vergleichsräume sind. Museumskuratoren oder Bürokraten wissen das. Nur, irgendwann habe ich eingesehen, daß es interessant sein könnte, eine Outsiderposition zu nehmen, jemanden, der weiß, daß die Unterscheidung stattfindet, aber nicht weiß, wo genau die Grenze zwischen jenen Räumen liegt. Die Unterscheidung liegt nicht in der Materialität der Objekte dort oder dort, ob Objekte materiell sind. Es ist die Verwaltung, die die Bestimmung des Anfangs und des Endes der Dinge ist. In diesem Sinne verwaltet Gott die Welt. Ich verwalte die Dinge nicht, wenn ich den Anfang und das Ende nicht bestimmen kann. In diesem Sinne verwaltet der Mensch die Welt nicht, verwaltet aber vielleicht ein Archiv, ein kleines Archiv. Wenn ich nun auf die Dinge schaue, dann weiß ich nicht genau - sind sie verwaltet, gibt es eine sie verwaltende Instanz? Ob sie materiell oder ideell, gut und böse ist, ist zunächst einmal irrelevant. Relevant ist: Gibt es eine Instanz, die diese Fristen festlegt oder nicht. Wenn ich das aber nicht weiß, bin ich in einer Situation der Paranoia, des Verdachts. Warum? Weil eine sich nicht zeigende, aber mögliche Verwaltung unsere Definition des Verbrechens ist. Das Verbrechen als solches besteht darin, die Zeit der Dinge zu verwalten, ohne dafür eine explizite Bevollmächtigung zu haben. So fragt man sich heute, ob globale marktwirtschaftliche Prozesse nicht zum Teil durch verbrecherische, terroristische Organisation gelenkt werden. Natur selbst kann in diesem Sinn auch als Medium verstanden werden, Medium einer göttlichen Verwaltung vielleicht, aber auch einer dämonischen Verwaltung. Die Medialität der Welt stellt uns vor die Frage: Haben wir mit einem verwalteten Raum des Vergleichs zu tun, wo die Fristen von einer Macht festgelegt sind, die wir nicht kennen? Das ist die Frage, die bei vielen meiner Kollegen in Zeitungsbesprechungen eine vehemente Kritik hervorgerufen hat. Man lebte in den 70er, 80er Jahren offensichtlich in der Illusion und tut es wahrscheinlich noch, daß die mediale Verbreitung all der frei flottierenden Dinge über die Oberfläche der Erde - floating signifiers - unkontrollierbar ist. In "Unter Verdacht" habe ich geschrieben, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so. Wir haben keine Evidenz und Sicherheit. Und so müssen wir uns die Frage stellen, wie wir diese Unterscheidung zwischen verwaltetem und nichtverwaltetem Raum auf den submedialen Raum anwenden können, die Frage, wie dieser submediale Raum beschaffen ist. Und zwar aus der Perspektive des Outsiders, der das nicht weiß, im Unterschied zur Perspektive des Insiders, den wir verdächtigen, daß er diese Unterscheidung kennt und verwaltet.

 

Biobibliographischen Anmerkung. Boris Groys ist seit Oktober 1994 Professor für Philosophie, Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung/Karlsruhe und seit 2001 Rektor der Akademie der Bildenden Künste/Wien. --- Lehrtätigkeit: Gastprofessor im WS 1987/88 am Slawistischen Institut der University of Pennsylvania/Philadelphia; 1988-94 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Münster; Gastprofessor im WS 1991 am Slawistischen Institut und am Institut für Kunstgeschichte der University of Southern California/Los Angeles. --- Forschungstätigkeit: 1971-76 wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen wissenschaftlichen Instituten in Leningrad; 1976-81 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die strukturale und angewandte Linguistik der Moskauer Universität; 1982-85 wissenschaftliche Stipendien in der Bundesrepublik Deutschland; WS 1996/97 Visiting Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften/Wien; 1997 Fellowship am Harvard University Art Museum/Cambridge-MA. --- Monographien: Gesamtkunstwerk Stalin München/Wien: Carl Hanser 1988; Nîmes: Jacqueline Chambon 1990; Milano 1992; Princeton-NJ: Princeton University Press 1992; russ. Version in: Utopia i obmen, Moskva 1993; Tokio 2000; (gem. m. Ilja Kabakov) Die Kunst des Fliehens, München/Wien: Carl Hanser 1991; Moskva 1999; Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien: Carl Hanser 1992; = ftb 14433, Frankfurt am Main: Fischer 1999; Nîmes: Jacqueline Chambon 1995; (gem. m. Ilja Kabakov) Die Kunst der Installation, München/Wien: Carl Hanser 1996; Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München: Carl Hanser 1997; Kunst-Kommentare, Wien: Passagen 1997; (gem. m. Jean Baudrillard) die illusion des endes - das ende der illusion, Köln: supposé 1997 <Audio-CD, 58' und leicht gekürztes Transkript, 32 S.>; Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München/Wien: Carl Hanser 2000. --- Herausgeberschaften: Kierkegaard, München: Diederichs 1996; = dtv 30688, München: dtv 1999. --- Artikel: Malevic i Chaidegger <Malewitsch und Heidegger>, in: Wiener Slawistischer Almanach 9 (1982), S.355-366; Die künstlerische Individualität als Kunsterzeugnis, in: Akademie der bildenden Künste in Wien (Hg.): Über die Wahrheit in der Malerei, Wien: o.V. 1990; Das leidende Bild, in: Peter Weibel/Christian Meyer (Hg.). Das Bild nach dem letzten Bild, Köln: Dumont 1991; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.185-196; Der Text als Monster, in: Wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder, Nr.89, 1992, S.54-60; Die Kunst der Demokratie, in: Texte zur Kunst, Nr.7, 1993, S.160-166; wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.39-47; Die Wahrheit in der Photographie (dt./engl.), in: Camera Austria, Nr.43/44, 1993, S.3-11; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.127-144; Das Kunstwerk als nichtfunktionelle Machine, in: Jürgen Harten (Hg.), Tatlin: Leben. Werk. Wirkung. Ein internationales Symposium, Köln: DuMont 1993, S.252-257; Die Heiterkeit des Monströsen, in: Akzente, April 1993, S.122-131; wieder in: Überleben. Katalog einer Ausstellung im Bonner Kunstverein (dt./engl.), Bonn 1993, S.45-50; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.205-213; Der Asylant in ästhetischer Sicht, in: Deutschsein? Katalog einer Ausstellung der Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1993. S.92-97; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.145-153; Die Logik der Sammlung. In: J. Huber/A. M. Mueller (Hg.), "Kultur" und "Gemeinsinn". Interventionen 3. Basel/Frankfurt am Main 1994, S.249-268; engl. Übers.: The Logic of the Collection. Nordisk Museologi, Stockholm 1993, N.2, S. 73-86; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.25-45; Die Krankheit Philosophie, in: Leo Schestow, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren (1900), übers. v. Nadja Strasser, München: Matthes & Seitz 1994, S.VII-XXIX; Simulierte Ready-mades von Fischli/Weiss (dt./engl.), in: Parkett, Nr.40/41, 1994, S.24-37; dt. wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.131-137; Geometrisierte Dekadenz (dt./engl.), in: Parkett, Nr. 40/41, 1994. S.71-78; (dt.) wieder in: wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.157-160; Media und Mediatoren (dt./engl.), in: Richard Prince. Photographien 1977- 1993. Kestner- Gesellschaft Hannover 1994, S.9-19; wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.149-155; Der ein-gebildete Kontext, in: Peter Weibel (Hg.), Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Köln: DuMont 1995, S.257-282; wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.65-97; Über Kierkegaard. Einleitung, in: B. G. (Hg.), Kierkegaard, ... , S.15-47; Der Tod steht ihr gut, in: A.-M. Bonnet und G. Kopp-Schmidt (Hg.), Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München: C. H. Beck 1996, S.13-22; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.214-225; Body trouble, in: Artforum, Sept. 1995, S.40 u.108; Life without Shadows, in: Thierry de Duve/Arielle Pelenc/Boris Groys, Jeff Wall, London: Phaidon Press 1996. S.58-67; (dt.) wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.175-180; Die Herstellung des Anderen, in: Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel (Hg.), Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis des Künste. Köln 1996, S.183-201; wieder in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.99-115; Sammeln, gesammelt werden, in: Lettre International, Nr.33, 1996, S.32-37; wieder in: B. Groys, Logik ... , S.46-62; Fundamentalismus als Mittelweg zwischen Hoch- und Massenkultur, in: B. Groys, Logik ... , S.63-80; Die dunkle Seite der Kunst <ad Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft>, in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.57-64; Über das Kommunale (Ilja Kabakow), in: B. Groys, Kunst-Kommentare ..., S.209-219; Über den Ursprung des Kunstwerks. Martin Heideggers Beschwörung der wesentlichen Kunst, in: Die Neue Rundschau 108 (1997), Heft 4, S.107-120; Außerirdische, Vampire & Co. Die Rettung des Häßlichen durch die Kunst, in: Kursbuch, Nr.129, Sept. 1997, S.137-144; Einführung. Das Museum im Zeitalter der Medien, in: B. Groys, Logik ... , S.7-24; Strategien der künstlerischen Askese, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Im Rausch der Sinne. Kunst zwischen Animation und Askese, = Philosophicum Lech 2, Wien: Szolnay 1999. S.145-170; The Artist as an Exemplary Art Consumer, in: XIVth International Congress of Aesthetics. XIVème Congrès international d'Esthétique. XIV. Internationaler Kongress für Ästhetik. "Aesthetics as Philosophy". "L'Esthétique comme philosophie". "Ästhetik als Philosophie". Ljubljana 1998. Proceedings. Part I: Introductory and Invited Papers, hg. v. Ale`'s Erjavec, = Filozofnik Vestnik/Acta Philosophica 20 (1999), Nr.2, S.87-100; Programmierte Magie. Aus Kopien mach Originale. Kleine Kunstgeschichte der Dateien, in: Du, Nr.711, Nov. 2000, S.36-38.

 

© Boris Groys und Peter Mahr 2001

 

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