mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

4 (2001), Nr.1/März

Aesthetica

3. Im elften Buch über Ethik und Ästhetik lesen. Vortrag für das Institut für Entwerfen/Studio 3 (Prof. Volker Giencke), Großer Hörsaal der Fakultät für Architektur und Bauingenieurswesen der Universität Innsbruck, 16. 11. 2000. Dank an Dr. Marlies Schneider. 65456 Zeichen.

 

Daß die Philosophie immer spezialisierter und damit immer bedeutungsloser wird - wen wundert's? Und doch steht dieser Tatsache immer noch die Erwartung jedes Einzelnen gegenüber, daß die Philosophie von Bedeutung sein soll. Aus dieser Lage heraus holt sich die Wirtschaft die Rosinen, und seien es nur Slogans. Wenn nun Kurator Massimiliano Fuksas die Venediger Architekturbiennale 2000 mit "Stadt: Weniger Ästhetik mehr Ethik" (1) überschreibt, meint er dann mehr als eine komma- wie atemlose Parole, meint er die beiden angestammten Bereiche der akademischen Philosophie? Steht er für ein philosophisches Statement ein, das theoretisch fundiert und mit dem gegenwärtigen Bauen empirisch begründet ist?

Daß speziell "die ethische Funktion der Architektur" der ästhetischen vorhergehen muß, hat seinerseits Karsten Harries behauptet (2). Architektur sollte ihm zufolge - entgegen dem formalistischen Zugang und der Auffassung des dekorierten Stadels (beides ästhetische Zugänge) - wieder orientieren, Individuen in eine Gemeinschaft einbinden, ein gemeinsames Ethos entwickeln. Läßt sich aber Ästhetik auf (eine Theorie von) Formalismus und Ornament reduzieren? Hat nicht das Ästhetische selbst eine ethische Dimension, die der Ethik der Moderne korrespondiert?

Daß jedenfalls seit geraumer Zeit in der Architektur ein philosophisches Bedürfnis besteht, ist unverkennbar. Ein elftes Buch der Architektur (3) müßte jedenfalls die Philosophie enthalten, es hätte die Architektur philosophisch zu begründen, zu rechtfertigen, zu dekonstruieren oder zu reflektieren und müßte die Ästhetik und die Ethik enthalten - schon allein deshalb, weil sie seit langem zu den Hauptdisziplinen der Philosophie zählt. Im folgenden werde ich erstens einen allgemeinen Aufriß der gemeinsamen Geschicke von Ethik und Ästhetik unternehmen, wobei die Ästhetik im Vordergrund stehen wird. Dann werde ich zweitens die gegenwärtige Debatte um Ethik und Ästhetik skizzieren. Besonderes Augenmerk soll drittens dem Beitrag der Naturästhetik gelten. Sodann sollen viertens die Standpunkte von Fuksas und Harries dargestellt werden und mit dem bis dorthin versammelten Bestand an Überlegungen zur Ästhetik als philosophischer Theorie konfrontiert werden.

1.

Es war der Venedigkenner Anthony Cooper, der Earl of Shaftesbury, der vor ziemlich genau dreihundert Jahren eine Konstellation in das ästhetische Denken einbrachte, die seither immer wieder auftauchen sollte. Zum einen fordert er, das heißt, läßt er einen seiner Moralisten ausrufen, daß wir nicht "den Genuß der Schönheit anderswo als in dem Gegenstande selbst" suchen sollen (4). Zum anderen soll am einen der beiden Gentlemen des platonischen Dialogs vorgestellt werden, er wäre "von der Schönheit des Ozeans bezaubert, den wir dort in der Ferne vor uns sehen, und es käme Ihnen in den Sinn, Sie müßten ihn nun auch beherrschen, müßten wie irgend ein mächtiger Admiral als Meister der See einhersegeln; wäre der Einfall nicht ein wenig ungereimt?' 'Wahrhaftig, ungereimt genug! Das erste, was ich nach dieser Torheit weiter vornehmen würde, wäre vermutlich, daß ich mir ein Schiff mietete und mich mit allen Hochzeitsfeierlichkeiten auf venezianische Manier mit dem Golfo vermählte ... Der Doge, der als Bräutigam in seinem prächtigen Bucentaur auf dem Busen seiner Thetis einherschwimmt, genießt ihrer nicht halb so sehr als der arme Hirt, der von einem hangenden Felsen oder auf dem Gipfel eines hohen Vorgebirges gemächlich ausgestreckt seiner grasenden Herde vergißt und ihre Schönheit bewundert." Damit ist die ästhetische Distanz angegeben, wie sie mit der Besitzlosigkeit einhergeht. Kurz darauf faßt Shaftesbury dieses Be-Wundern noch drastischer. Es sind nämlich wir, die etwas mit dem Status des Wunders versehen. Damit ist der Schritt der schönen Seele zu den schönen Handlungen nicht weit: "... denken Sie sich nun einmal den seligen Genuß der Freundschaft, der Ehre, der Dankbarkeit, der Redlichkeit, des Wohlwollens und jeder innern Schönheit, aller geselligen Freuden, der Gesellschaft selbst und alles dessen, was Menschen edel und glücklich macht; denken Sie sich das, so werden sie gewiß zugeben, daß hier die Handlung selbst schön sei."(5) Der bewundernde Enthusiasmus, der sich in der Naturanschauung bildet, geht mit der Geselligkeit zusammen, die diese Empfindung zu einer von mehreren teilbaren und damit moralischen werden läßt.

Das war 1709, der Auftakt zu einem Jahrhundert, das einmal als das ästhetische Jahrhundert bezeichnet werden könnte. Gemeint ist die Erfindung der Ästhetik als eine philosophische Theorie des Ästhetischen - das neusprachliche Wort "Ästhetik" gab es vorher nicht - , als eine Technik innerer wie äußerer Empfindungen, sofern sie sich in Kunstwerken verkörpern liessen, dann aber auch als eine allgemeine Theorie der Kunst als dem Insgesamt der Künste, mit der diese neue Empfindungstechnik als kongruent erklärt wurde. Speziell mit Shaftesbury beginnt aber, wie zu sehen war, die Wiederaufnahme eines alten philosophisches Topos: der Kalokagathie, dem Schönen-und-Guten der griechischen Antike. Damit ist die Tugend, die Tüchtigkeit, das Gefügte, Treffliche, ja Vortreffliche gemeint. Aber es geht auch um den Zusammenhang von Gutem und Schönem in der ordnend vermittelnden Hinsicht, daß das Gute auch schön ist und das Schöne gut. Gutes Handeln ist schönes Handeln, schöne Erscheinungen bringen das Gute zum Vorschein.

Was aber mit Shaftesbury beginnt, ist die Philosophie des Moral Sense. Der moralische Sinn ist rational. Er ist aber auch wie ein Sinnesvermögen, das in uns steckt, ein innerer Sinn vis à vis den äußeren Sinnen des Sehens, Hörens oder Schmeckens. Ist dieser Sinn naturwüchsig, ist er erziehbar? Klar ist noch beim 50 Jahre später auftretenden Skeptizisten David Hume, daß es eigene, über die Imagination vermittelte Sensorien für die ästhetischen wie die moralischen Empfindungen gibt. So verschiedene Denker wie der Vorromantiker Jean-Jacques Rousseau oder der Nationalökonom Adam Smith sind sich darin einig, daß die moralische Empfindung ein wesentlicher Teil des sozialen Bandes ist. Sie ist auf unsere natürlichen Gemeinsamkeiten bei einem Fest wie bei Rousseau - daher der bürgerliche Festspielgedanke - oder die ästhetischen Produkte bezogen, um die wir nach Smith aus Gründen des Genusses, der Einbildung und der sozialen Anerkennung konkurrieren.

Der Reaktualisierung der Kalokagathie durch Shaftesbury waren im 17. Jahrhundert die vielfältigen Theorien des Geschmacks als eines gutens Sinns (bon sens) vorausgegangen. Auch sie versuchten ein Vermögen, das des Geschmacks, so weit zu verallgemeinern, daß sich die beiden Vermögen der Beurteilung von bestimmten Situationen gesellschaftlichen Handelns und der Beurteilung von Werken der Kunst als ein und dasselbe erwiesen. Was dabei die Ethik in ihrer Selbstbegründung betrifft, geht man am besten von ihrer Stellung im neuzeitlichen Denken aus. Sowohl die englische wie die französische frühneuzeitliche Philosophie einschließlich ihre Ethik setzten mit dem Zweifel an den moralischen und theologischen Traditionen ein, wie sie aus dem Mittelalter stammten. René Descartes' Zweifel, sein berühmtes "Ich zweifle/denke, also bin ich" ließe sich hier so formulieren: "Nur indem ich meine Moral bezweifle/denke, bin ich." (6)

Diese moralische Reflexion kann als Fluchtpunkt zweier Richtungen ethischen Denkens aufgefaßt werden. Die eine, die empiristische Richtung, der Utilitarismus, zeigte aufs Leben und fand, daß alles einigermaßen nützlich laufe, wenn wir nur unsere subjektiven Richtlinien nicht den anderen aufzwängen. Die andere, die Gewissensethik, forderte, daß wir die Richtlinien unseres Handelns so festlegen müßten, daß sie auch von jedem anderen notwendigerweise übernommen werden können müßte. Doch beide, sowohl der Utilitarismus wie die subjektive Gewissens- oder Sollensethik beruhten auf der ausschließlichen Konzentration auf die - sei's pragmatische, sei's deduktive - Rationalität des Handelns. Damit war aber der Bezug zu den Moral-Sense-Theoretiker von Shaftesbury über Rousseau bis Schiller, die an den bon sens der Geschmackstheoretiker des 17. Jahrhundert anknüpften, auf Dauer nicht haltbar. Der Bezug auf ein schönes Handeln oder ein handelndes Einfühlen ins Ästhetische konnte zuletzt nicht begründet werden. Außerdem gibt es noch die negative Tradition der Moralistik in der Aphorismen-Literatur eines Gracián, La Rochefoucauld, Nietzsche bis hin zu Cioran. Ihr zufolge wäre das Aufstellen moralischer Systeme in der Philosophie selbst unmoralisch. Nur in der literarisch reflektierten individuellen Erfahrung von Situationen könnte, modern, noch über Moral reflektiert werden - anders bliebe sie unerträglich.

Im 18. Jahrhundert waren sich das Ästhetische und das Ethische gewissermaßen am nächsten. Seit 1800 sind die Künste autonom, sind sie Künste, die für sich selbst stehen, sofern sie als ihresgleichen klassifizierbar sind (7). Insofern stehen sie der Anschauung zur Verfügung, auch der architektonischen. So kann seit dem, was sich als Moderne herausstellen wird, punkto Ethik-und-Ästhetik nur mehr von einer Ethik der Kunst gesprochen werden. Das Kunstwerk ist das In-sich-Vollendete, und das entsprechende Ethos des Gelingens muß der Künstler mit allen Mitteln erreichen. Was praktisch seit der Renaissance sich entwickelt hatte und nun zu einem Abschluß fand, heißt jetzt theoretisch: das Künstlergenie führt selber aus. Der Bild-Schöpfer - zugleich Skulpteur wie Maler, Handwerker und Ingenieur - hat seine Souveränität erreicht. Und wenn er auch nicht in Eigenregie realisierender Baumeister sein kann, so trägt sein Bauwerk doch seine persönlichen Züge, das heißt, daß die wertvoll werdende Handschrift des Entwurfs zum ethischen Garanten für Qualität werden muß. Alles in allem läßt sich jedoch sagen, daß mit dem theoretischen Aufstieg der Künste bis 1800, besonders der Dichtung, der Oper und der Instrumentalmusik, immer auch starke Hoffnungen in ihre moralischen Wirkungen gesetzt werden. Friedrich Schiller entwickelt mit den Künsten ein Erziehungsprogramm, mit dem sogar ein ästhetischer Staat vorbereitet werden soll (8). Parallel taucht im späten 18. Jahrhundert visionäre Architektur auf wie bei Claude-Nicolas Ledoux auf, die auf ihre Weise eine soziale Organisation antizipieren. Doch philosophisch sollte es nicht bei dieser Romantik der Wirkung bleiben.

Es war Kant, der für die Zeit bis in unsere Gegenwart herauf den Standard setzen sollte. Kant mißtraute dem moralischen Sinn, denn als Sinn(esvermögen) tat er jener autonomen Vernunft Abbruch, die er sowohl für die Wissenschaften und das gute Handeln als auch für das ästhetische Urteil als letzte Instanz ansah. Seit Kant gibt es drei mehr oder weniger strikt von einander getrennte Bereiche: Logik, Ethik und Ästhetik. Am wichtigsten für die Folgezeit die Logik, natürlich nicht nur in der Linie von Kants Wissensapriori, sondern auch gegen ihn, besonders was die im 19. Jahrhundert neben der Erkennntnistheorie aufkommende empiristische Philosophie der Naturwissenschaften betraf, in die sich die Logik als Disziplin von Gesetzen der (wissenschaftlichen) Erkenntnis auflöste. Die "Gesetze" der Ethik wiederum gelten auf ihre Art autonom wie die der Künste auch - mit und nach Kant - , jene ethischen Gesetze sind also nicht mehr mit dem Ästhetischen verbunden. Höchstens kann die Kunst noch ein Symbol der Sittlichkeit sein, wie Kant sagt (9). Zieht man den Relativismus der Wissenschaften in betracht, wie er sich im 19. Jahrhundert in den Sozialwissenschaften der Moral-Psychologie (Nietzsche, Freud), Soziologie und vor allen Dingen der empirischen Rechtswissenschaften in betracht, dann muß es als ein kleines Wunder erscheinen, daß in den eben vergangenen 90er Jahren die Ethik eine Renaissance erlebt hat.

Doch seit den Zeiten Kants gibt es nicht nur eine Theorie-, sondern auch eine klar benennbare Praxisgeschichte des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik. Wenn sich aus dem moral sense heraus die philosophischen Disziplinen Ästhetik und Ethik wie bei Kant unwiderruflich schieden, so konnten das ästhetische Urteil und die autonomen Künste nur mehr mit einer Quasi-Ethik der Kunst selbst und des Künstlerischen begriffen werden. Von diesen Quasi-Ethiken gibt es im wesentlichen drei. Es sind dies die Haltung des l'art-pour-l'art (der Kunst um ihrer selbst willen), die von Kunst-und-Leben und des Ästhetizismus (10). Dabei liegen diese Antipoden nicht so weit auseinander, als es im erstem Moment erscheint. Übrigens tritt diesen Tradition von Ethik und Ästhetik gemäß der Unterschied zwischen reiner und angewandter Kunst in den Hintergrund. Es verfällt die Anwendung dem Reich der Zwecke, - mit Kant gesrpochen - der Pragmatik, ist der praktischen Vernunft sui generis, aber auch der Sphäre des ästhetischen Urteils - der Kunst - nicht zugänglich. Das kann auch den Blick dafür öffnen, daß die Autonomie von l'art-pour-l'art und Kunst-und-Leben auch in der Architektur genügend Vertreter hat.

Kunst-und-Leben meint, daß die Kunst in eine Lebenspraxis übergeführt, zum Maßstab der Lebensgestaltung, ja in sie aufgelöst werden soll. Die deutschen frühromantischen Künstler und Künstlerinnen um 1800 fallen einem hier ein, die mit Dichtung, Musik sowie romantischer Natur- wie Liebesphilosophie einen gesellschaftsverändernden Anspruch erhoben. Oder Kasimir Malewitsch, der mit anderen revolutionären Künstlern aufs russische Land fuhr, um rote Quadrate, gelbe Dreiecke oder blaue Kreise auf die Mauern der Häuser zu malen, um die neue Sprache der Abstraktion zu verkünden. Ähnliches ließe sich am Historismus, am Biedermeier, selbst noch am Leben der Beat Generation zeigen. Für die Architektur läßt sich ein weiter Bogen von der visionären Architektur, der Haussmanisierung, über den sozialdemokratischen Gemeindebau Wiens der Zwischenkriegszeit zu den Städte-Utopien Le Corbusiers schlagen.

Was die beanspruchte Autonomie der Kunst betrifft, so stellt sie ihre ästhetische Autonomie erst in der Moderne ab 1900 so richtig heraus, etwa bei den Philosophen-Architekten unter den Bauhäuslern, sicher aber Rudolf Carnap oder Ludwig Wittgenstein (11). Diese Kunst-um-ihrer-selbst-willen versucht wie in der poésie pure Mallarmés eine reine Architektur zu finden. Dabei werden die äußersten Möglichkeiten der Form und des Materials angepeilt, um die drei Raumdimensionen zu sich kommen zu lassen. Man denke an Bruno Taut, Friederich Kiesler oder den frühen Eisenman. Wird die Funktion als vierte Dimension dazugenommen und damit zu Kunst-und-Leben übergegangen, dann ist man nicht weit vom Raumplan eines Adolf Loos, der den plastisch freien Raumkonstruktionen das Ziel gesetzt hatte, die Zwecke des Wohnens optimal auszuschöpfen. Dieses l'art-pour-l'art wiederum ist in der Revolutionsarchitektur ebenso wie in der Romantik des späten Beethoven zu Hause, in der abstrakten Malerei, der atonalen Musik, die jede Spur von Natürlichkeit in den Mitteln wie im Inhalt abzustreifen trachten.

Die Position des l'art-pour-l'art auf das individuelle Leben als ganzes übertragen, somit Kunst-und-Leben invertiert hat der Ästhetizismus. Ihm ist das Leben und die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, wobei die damit einhergehende antibürgerliche Ablehnung der Moral "äußerer" Güter - Moral ist Lüge und Mangel an Geschmack - individuell anarchistische (Bohème, Dandysme) oder faschistische Züge wie im Futurismus annehmen kann. Die angestrebte Auflösung der Kunst im Leben beziehungsweise der Steigerung des Lebens zu einer l'art-pour-l'art wird dabei im Schönheitsformalismus, im Schönheitskult verankert und nimmt als schwächere Form des Ästhetizismus die Ästhetisierung des Lifestyles vorweg.

Zum letzten Mal wurde der Standpunkt einer absoluten Kunst mit moralischer Vehemenz in den 60er Jahren verfochten und zwar in ausdrücklich ethischer Ausrichtung mit zum Teil politischen Anleihen. So hat Michael Fried für die Kunst die politische Aktion als die radikale Selbstkritik gefordert, die vom Künstler wie vom Kritiker zu vollziehen sei, damit die kunstimmanente Moral virtuell zu einer Einheit von Kunst und Leben umschlagen könnte. Mit der Ablösung der Malerei von der Gesellschaft in der Moderne hat, so Fried, "die aktuelle Dialektik ... immer mehr die Dichte, Struktur und Komplexität der moralischen Erfahrung angenommen, das heißt vom Leben selbst, aber von einem Leben, wie wenige es zu leben gewillt sind: in einem Zustand fortgesetzter intellektueller und moralischer Wachsamkeit."(12)

2.

Mit den angesprochenen 1960er Jahren schien das Verhältnis von Kunst und Moral (Politik) ausgelotet. Doch war das letzte Kapitel der Thematik noch nicht aufgeschlagen. Tatsächlich sollte die Dynamik von Ethik und Ästhetik in den nächsten Jahrzehnten nicht zum Stillstand kommen, besonders in der Philosophie der 90er Jahre, die sich als das Jahrzehnt der Ethik bestimmen lassen. So hat die Ethik nicht nur die juristisch nicht bestimmten oder unbestimmbaren Räumen durch Kommissionen etwa für gentechnische Experimente oder Euthanasie besetzt. Nicht nur erhielt die Ökologie zunehmend das praktische Gewicht eines ethischen Umgangs mit der Natur und ihren Ressourcen. Und es sind nicht zuletzt die Menschenrechte, deren Anerkennung nur ethisch-naturrechtlich argumentiert werden kann. Parallel dazu machte sich seit dem Ende der 80er Jahre das Bedürfnis breit, dem vorgeblichen Beliebigkeitswildwuchs in den Künsten wie in der Wirtschaft, in der Alltagsästhetisierung (13) und in den für die Künste unabdingbaren interpretatorischen Vermittlungen (14) ethisch aufgeladene Schranken entgegenzusetzen. Zugleich rührte die von Lyotard erneuerte Diskussion des Erhabenen - dazu später - an dessen ethische Implikationen. Geht man nun von der Ästhetik als Kunstphilosophie aus und schließt die Architektur als Kunst ein - man könnte sie genau so gut direkt als ein Ethisches zwischen polis und oikos, zwischen Politik und Ökonomie/-logie adressieren (was hier ausgeblendet bleibt) - , dann läßt sich angesichts der ästhetischen Rehabilitierung der Ethik (15) von viererlei sprechen (16).

Erstens geht es um einen neuen Umgang mit sich selbst. Aufgrund des gegenwärtigen Fehlens von Sollensmoralen hat Michel Foucault die spätantike Kunst der Existenz in den Blickpunkt gerückt, jene Kunst, die aus dem Leben ein Werk macht, das ästhetische Werte trägt. Dabei geben Selbsttechniken dem Leben eine Form, die den "Kriterien von Glanz, Schönheit, Adel oder Vollkommenheit entspricht."(17) Es wird die moralische Handlung auf eine moralische Lebensführung ausgerichtet, deren Subjektivierungweise eine eigene "Ästhetik" konstituiert. Eine solche "Ästhetik der Existenz" hat Michel Onfray in den 90er Jahren mit signifikanten Titeln (18) aufgegriffen. Ob in bezug auf Friedrich Nietzsche, dem der Leib höher als das Kunstwerk steht, oder in bezug auf Gilles Deleuze, der ein Denken als Begreifen dessen reklamiert, wozu der Körper in der Lage ist - , immer geht es um einen entwickelten Hedonismus, der per definitionem eine aus der Kunstphilosophie herausgelöste Ästhetik des ästhetischen Zustands als Ethik vertritt (19).

Zweitens hat Jean-François Lyotard (20) eine Ethik der Avantgarde eingeklagt. Gegenüber dem bilderohnmächtigen Immer-Neuen der kapitalistischen Kulturindustrie geht es um das Erhabene als einem Schock des Es-geschieht mit Lust und Unlust, der sich außerhalb jeglicher Darstellung als Gabe offenbart. Die Empfänglichkeit für dieses Andere eröffnet eine Ästhetik des Erhabenen. Denn die negative Darstellung des Absoluten in der abstrakten Kunst gibt der äußersten Spannung des Pathos vor dem ruhigen Gefühl des Schönen den Vorzug. Der Widerstreit, nicht einfach nur das Spiel (Kant) der Vermögen von Verstand und Einbildungskraft erlaubt an einer Ethik der Unentscheidbarkeit des Konflikts festzuhalten.

Drittens hat Richard Rorty (21) von der literarischen Interpretation ausgehend für seine Komplementarität von ästhetischer Kontingenz und Ethik der Solidarität auf einen individuellen Kult kontingenter Praktiken und Vokabulare gesetzt, der nicht nur als ästhetisches Werkzeug für die Neubeschreibungen meiner selbst dient, sondern auch zur Erbauung über das Werden anderer Wesen verhilft: Pluralitäten, denen wir in unserer poetisierten, postmetaphysischen Kultur als liberale Ironiker mit einem Bewußtsein für Kontingenz und mit Solidarität anderen gegenübertreten.

Mögen auch die modernen Bewegungen des L'art-pour-l'art und von Kunst-und-Leben mit dem Verbleichen der Avantgarde ihre Kontur eingebüßt haben - , ihre Ideen bleiben. Sie lassen sich heute als zwei Möglichkeiten des Ethos der Kunst und des Ästhetischen begreifen. Während Foucault und nach ihm Shusterman mit Rorty die zweite Bewegung im Sinne eines ästhetischen Individualismus reformulieren, hat Lyotard das Erbe der Künste des Erhabenen in der der Abstraktion immanenten Sprengkraft umrissen. Doch während die beiden Positionen von Kunst-und-Leben unter dem Primat der (Lebens-)Kunst an einer weitgehend zurückgenommenen Sozialität ausgerichtet bleiben, und während die Ethik des Erhabenen auf Potenzen vertrauen muß, ohne sie direkt anstreben zu können, ist eine der Grundlagen dieser bis in die (vor)revolutionäre (Prä)Romantik zurückreichenden Positionen noch gar nicht sichtbar geworden: die Natur. Diesen Ansätzen gegenüber, die übrigens erst in ihren weiteren Zusammenhängen richtig bedeutsam werden, scheint eine Ethik der Naturästhetik zunächst nur weitere Aspekte abzudecken, aber keinen Primat in der Entfaltung des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik beanspruchen zu können.

3.

Gernot Böhme, der eine der beiden Naturästhetiker (22), hat, von der Philosophie der Naturwissenschaft herkommend, die Atmosphäre als Kernbegriff einer neuen Ästhetik vorgeschlagen (23). Atmosphären kommen Dingen zu, deren Ekstasen in ihrer Gesamtheit die Physiognomie eines Dings ergeben, etwa Helle, Wohnlichkeit, Stille, Dämmerung. Atmosphären, seltener auch Medien genannt, sind derart Gegenstand der Wahrnehmung. Die Künste stellen daher Bild-, Gedichtatmosphären oder Ähnliches her. Eine solche ästhetische Arbeit widmet sich der Produktion von Ekstasen, die in unserer Zeit im Zunehmen begriffen sei. Böhme nennt Design, Werbung, Kosmetik, Innenarchitektur, akustische Möblierung und - in einer Reihe - Kunst (24). Obwohl Böhme an eine Kritik ästhetischer Ökonomie anknüpfen will, somit gegen die kommerziell überbordende Inszenierung der Kulturindustrie auftritt, scheint er dennoch nur auf diejenige ästhetische Erziehung zu setzen, die die leibliche Erfahrung stärkt. Somit scheint Naturästhetik als Teil einer Ökologie das (romantische) Bedürfnis nach dem anderen seiner selbst nur zu berühren (25). Sie scheint zudem kaum über die angestrebte Umwelt ästhetischer Qualität - die Naturerfahrung des in die Natur integrierten Menschen - hinausgehen zu können. Böhme will denn auch die gegensätzliche Natur und Kultur in die Verteilung natürlicher und künstlicher Naturelemente ebenso aufheben, wie die Natur - quasi-hermeneutisch - als immer schon sozial konstituiert aufzeigen.

Entsprechend sind alle Produkte auch Natur. Böhme versucht, dem Marxschen Topos von der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen die geschichtsphilosophische Last zu nehmen. Von der entsprechenden Auffassung der äußeren Natur als anorganischer Leib des Menschen (26) über den englischen Landschaftsgarten als Einheit von Natur und Kultur durch Szenen heiterer, heroischer, sanft-melancholischer oder ernster Stimmungen (27) bis zu einer Sprache der Natur in Chiffren, worum sich eine holistisch-relativistische Naturphilosophie bemühe (28), schafft auch die Architektur Atmosphären, etwa des Heiligen und sozialer Hierarchien. Sie schafft primär eine Welt des Ausdrucks, der Oberfläche, des Bildes, die - ethisch gesprochen - Realität verdrängen oder erschließen kann. Anders gesagt, die Physiognomien aus Farben, Oberflächen, Linienführung, Arrangements und Szenen sind nur in synästhetischer Wirkung relevant.(29)

Doch so sehr Böhme auf der Suche nach einem neuen Naturbegriff totale Innenräume wie die Wiener Karlsplatzpassage noch negativ auffallen hatten müssen (30), ebensosehr scheint die kritische Distanz nun zugunsten der Konstatierung einer Ausstrahlung von Dingen, vom Ergreifendem einer zu spezifizierenden Ko-Präsenz in den Hintergrund zu rücken. Wo bleibt dabei die ethische Implikation? Schon im Kapitel II "Materie und verdrängter Leib" von "Das Andere der Vernunft" war es unter dem Titel "Die repulsive Atmosphäre des kranken Leibs: Zur Ansteckungsfurcht im 18. Jahrhundert" um Ansteckung als ein, wohl auch ethisch wirksames "Phantasma, zwischen Leibern abstoßende Kräfte zu institutionalisieren", gegangen (31). Schon dort war wenige Seiten vorher der Bezug auf Hermann Schmitz erfolgt, dem Böhme in seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" den Begriff der Atmosphären als "ergreifende Gefühlsmächte" entnimmt (32). In der 13. dieser Vorlesungen zur Anthropologie über "Das Schöne und andere Atmosphären" (33) will Böhme dem Schönen seine Sonderstellung entziehen, indem er einerseits die Schönheit nur als eine von mehreren Atmosphären, andererseits die Kunst als Umgang mit eben diesen Atmosphären ansetzt. Auch hier geht es um die leibhafte Präsenz im Raum draußen, wodurch nicht nur die Aura am Schönen, sondern auch die Nähe und Ferne der Natur im Erhabenen ins Blickfeld rückt.

Ethisch entscheidend ist hier zum einen, daß Atmosphären nicht subjektiv projiziert werden, sondern objektiv sich als solche und zwar als bedrohend oder verheißend herausstellen. Derart als Stimmungen faßbar, sind sie Böhme das adäquate Korrelat des Subjekts. Eine entsprechende "Politik der Atmosphären" oder "Politik der Gefühle" (34) sei von der Kunst bistorisch die längste Zeit über wahrgenommen worden - Böhme nennt in erster Linie die Architektur, Aufmärsche und anderes. Der Unterschied zum Heute besteht darin, daß Künstler Atmosphären bewußt herstellen. Aber tun sie das auch, müßte Böhme befragt werden, für bewußte Individuen? Ja, denn es ist die Theorie, die nach des Wirkungsästhetikers Böhme dem souveränen Menschen das Mittel an die Hand gibt, sich Atmosphären zu entziehen: "die Wirklichkeit von Atmosphären akzeptieren zu können, setzt also ein Subjekt voraus, das in der Lage ist, sich Wirkungen auszusetzen, das mit Momenten in sich zu leben versteht, deren Ursache es nicht ist."(35)

Neben einer demgemäßen Ethik des Umgangs mit Wirkungen gibt es aber auch noch die "moralische Existenz" (36). Im Ausgang von "Spiel und Ernst" (37) sieht Böhme das Leben nicht mehr an wie ein Spiel am barocken Welttheater - womit er einer ästhetischen Theorie der Szenen, wie sie in der aktuellen Soziologie eine Rolle spielt, indirekt eine Absage erteilt (38) - , sondern er hält an der Idee des souveränen Menschen fest, aus dessen Spiel zwischen Sinnlichkeit und Vernunft sich die moralische Existenz konstituiert (39). Doch einmal am empirischen Interesse am Schönen vorbei, Gefühle mit anderen zu teilen (40), geht es um den Ernst meiner Sache in der Einheit von Sache und Gefühl (41), einen Ernst, der sich nur am Wie meiner Existenz zeigen könne. Während in diesem Kontext nur am Beispiel der Fluorkohlenwasserstoffe von Atmosphäre die Rede ist (42), verweist Böhme auf seine Einführung in die Philosophie und von dort einmal mehr auf seine Beschäftigung mit Schmitz (43), indem er noch einmal von der Ästhetik in bezug auf die besonderen Existenzweisen der Dinge spricht sowie von den sekundären Qualitäten (Farben, Töne, Geschmäcker, Gerüche), die erst die Präsenz der Dinge artikulierten (44).

Anders als Böhme geht der zweite Naturästhetiker systematischer vor. Ohne wie später die ästhetische Weltbegegnung als für die individuell interessierte Ethik des guten Lebens und für die Ethik der moralischen Rücksicht und damit möglicher moralische Normen als bloß notwendige Bedingung zu erachten (45), hat Martin Seel das Verhältnis von Ethik und Ästhetik ausdrücklich und detailliert behandelt (46). Das kommunale Leben läßt ihm zufolge die Kunst und die Natur in drei Aspekten erkennen: erstens als Abstand durch einen Raum der Kontemplation, die gegen die Rücksichtslosigkeit gekehrt ist - hier ist die Natur der Raum der Kunst, erregt Aufmerksamkeit und lädt zur Betrachtung ein. Zweitens geht es um die Teilhabe (Partizipation) als dem Ort, der mit dem einzelnen Leben korrespondiert, um die Möglichkeit des guten Lebens - hier zeigt sich das Naturschöne als ethisch wertvoll in seiner physiognomischen, klimatischen, historischen und stimmungshaften Dimension. Und drittens erweist sich die Natur als Schauplatz der Imagination, als Situation der Aussicht - hier setzt der ästhetische Diskurs der Neuzeit ein, in dem es nicht um die Korrespondenz mit dem Leben (der Natur), sondern mit der Kunst geht. Diese drei Dimensionen des Tätigseins sind Seel zufolge ästhetische Abstraktionen, die nur in einer Einheit die Wahrnehmung der Natur ergeben, der Einheit der schönen Natur.

Dabei läßt sich die Kunst als ein gesteigertes Phänomen der Einheit des Ästhetischen begreifen. Doch die Kunst steht der Natur entgegen. Sie ist der ästhetische, während die Technik der außerästhetische Widerpart der ästhetischen Natur ist. Naturschutz ist damit nicht nur politisch und sozial geboten, sondern gehört einer "Ethik der ästhetischen Natur" (47) an. Nimmt man aber die drei Dimensionen des Tätigseins - Kontemplation, Korresponsion, Imagination - zusammen, dann ist die Ästhetik der Natur Teil einer Ethik des guten, das heißt gelingenden Lebens. Diese wiederum muß aber einer Ethik der Anerkennung des Anderen (48) entsprechen. Ästhetische Anerkennung ist aber nur möglich (49), wenn das ästhetische Einssein als Qualität dem menschlichen Nicht-Einsseins mit der Natur entspringt. Dieses Nicht-Einssein mit der Natur ist aber nichts anderes als die Fremdheit der Kultur gegenüber der Natur. Es kann also bei der Natur nicht um ein normativ bedeutsames Ganzes gehen. Es ziehen daher nur bedrohte Zustände und Teile der Natur unsere Aufmerksamkeit an - nur so kann Natur zu etwas Besonderem werden. Damit kann aber auch die ästhetische Einstellung zur Natur nur eine unter mehreren sein, ohne Vorrang zu beanspruchen.

Die "Ästhetik der Natur" bringt weiters (50) die Gegenwart des Guten, eine Natur in ihrer Exemplarität zum Vorschein. Die Moral der Natur hingegen besteht darin, eine starke ethische Erfahrung zu sein - aber nicht mehr! Auch bei Seel kann aus dem Sein kein Sollen, können keine normativen Sätze abgeleitet werden. Umgekehrt läßt sich mit Seel sagen: Das ethisch gelingende Leben ist durch die Ästhetik von Abstand, Teilhabe und Aussicht auf ein intersubjektives Leben bezogen. Insofern deutet das individuell Gute das sozial Richtige an, verbleibt aber in der Dimension des Raums, der ein moralisches Handeln nur ermöglicht, nicht aber zum Maßstab für dieses selbst wird (51).

Wenn Seel die Architektur als eine korresponsive Kunst ausgibt, die den Raum artikuliert und imaginiert, im besten Fall auch kontempliert, dann kann Seel doch die drei Aspekte der Naturästhetik - Raum/Abstand/Kontemplation, Ort/Teilhabe/Korresponsion, Schauplatz/Aussicht/Imagination - als Vorbedingung markieren und übermäßige Erwartungen gegenüber dem Ethischen zurückstecken. Weiters zeigt sich die Stadtlandschaft als Kulturlandschaft erst in ihrem vollen Wert, indem sie für die Steigerung der Freiheit steht. "Das Modell der Natur ist das Modell der ästhetischen Stadt."(52) Die Stadt läßt sich somit als etwas verstehen, das zur Natur hin offen ist beziehungsweise wie die Natur zu sein scheint. Es geht also um den Schein freier Natur. Als ästhetisches Argument für eine Ethik der Natur (53) ist es also nicht die schöne Natur, die schützenswert ist, sondern die freie Natur, wogegen eben die schöne Natur nur individualethisch als anschauliches Reich menschlicher Freiheit von Bedeutung sein kann.

Sowohl bei Böhme wie bei Seel bleibt das Verhältnis einer Ästhetik der Natur zur Ethik relational. Bei Böhme ist die Relation - stumm, implizit - die Analogie. Wie immer wir die Relation deuten - , in ihrem "Quasi-Ethos" entspricht die Atmosphäre eines naturhaft verstandenen Dings der moralischen Existenz, sofern beide einer ökonomischen, warenästhetischen Kritik beziehungsweise Selbstkritik unterzogen werden können. Suggeriert wird weiters eine Verantwortung der ästhetischen Arbeiter gegenüber den Rezipienten von Atmosphären, sofern eine bewußte Herstellung und Rezeption von Atmosphären - die moralische Existenz als Einheit von Sache und Gefühl - auf die gute, heißt stimmige Atmosphäre trifft. Das Wie dieses Zusammentreffens, die Stabilierung der Harmonie von ästhetisch atmosphärischer und moralischer Existenz bleibt dabei so offen wie die Frage, ob diese Stabilierung nun (verantwortungs)ethischen oder ästhetischen Kriterien genügt oder beiden.

Seel wiederum hält die Differenz des Nichteinsseins des Individuums mit der Natur fest. Nur bedrohte Zustände der Natur, nur Teile der Natur können mit uns ethisch wertvoll korrespondieren - in Kontemplation und Imagination - , nur als partielle eröffnet die Ästhetik der Natur eine starke ethische Erfahrung. Die Möglichkeit des guten Lebens bleibt damit auf eine Einheit der schönen Natur angewiesen, die zu einer Freiheit sowohl als Widerpart zu Kunst und Technik wie als ästhetisch gefährdete Natur etwa der Stadtlandschaft aufbricht. Dabei muß gerade der Widerpart Natur innerhalb einer Ethik der ästhetischen Natur durch eine Ethik der Anerkennung gestützt werden. Seels Relation von gutem, individuellen Leben und ästhetischer Natur ist in einer wechselseitigen Begründung ethisch verankert: das Leben ist, um als gut erfahren zu werden, gerade auch auf Natur ästhetisch angewiesen; die Natur erzwingt sich eine "ethisch" bedeutsame "Anerkennung" gerade durch den Status, nicht ein Ganzes zu sein, gefährdet zu sein.

Lose läßt sich somit Böhme einem L'art-pour-l'art, Seel der Tradition Kunst-und-Leben zuordnen. Die Atmosphäre entspräche in ihrem naturhaften Hervortreten der Dinge an ihnen selbst der unbedingten Anstrengung der moralischen Existenz (Insistenz) für das Kunstwerk, die partielle ästhetische Natur dem korresponsiven Zusammenhang von ästhetischer Naturwahrnehmung - qua Kunst - und einem individuellem, seiner Naturhaftigkeit innewerdenden Leben. Damit sind zwei Aspekte des Naturhaft-Spontanen der moralischen Empfindung eingeholt, die moralisch aufgefaßte Selbständigkeit des Objekts der Empfindung unter Absehung vom Partner Shaftesburys einerseits (der Aufstieg des Kunstwerks in die Autonomie im 18. Jahrhundert), die ihrer selbst innewerdende moralische Empfindung gerade in der Verbindung mit der naturhaften Spontanität. Die Naturästhetik hat damit einen wesentlichen Aspekt des Ethos der Kunst der Moderne eingeholt: ihre Bedingung in der Natur.

Doch wenn auf diese Weise das Ästhetische als mit dem Ethischen untrennbar vermengt erscheint - wo bleibt dann noch das Ästhetische sui generis (um hier nicht zu fragen: das Ethische sui generis)? Ist es im Ethischen der Natur von gelingendem Leben und Atmosphären aufgegangen und aufgelöst? Worin könnte das das Ästhetische dann bestehen? Stärker: Was kann das Ästhetische einer solchen Natur sein, wenn es in seinem Eigenrecht und Eigensinn überlagert zu sein scheint? Man kann einmal mehr auf L'art-pour-l'art setzen und, wie schon Böhme und Seel, gegen die deutsche idealistische Philosophie auf der Romantik beharren, die das Ästhetische nicht einem ethischen Regulativ unterwarf sowie eine Grenze zwischen Ästhetik und Ethik zog. Was ist das Naturästhetische der Romantik?

Karl Heinz Bohrer setzt auf die Spannung zwischen Ethik/Kunstphilosophie und Ästhetik/ästhetische Theorie selbst. Zwar gibt es auch bei letzterer ein ethisches Apriori, aber das ethische Argument bleibt (in den Theorien Kierkegaards, Musils und Adornos) im Hintergrund. Das ethische Argument tritt für die Versöhnung von Ethischem und Ästhetischem ein. Nach Bohrer funktioniert sie nur auf der Ebene von Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosphie und hat mit Kunst nichts zu tun. Die Differenz von Ethik und Ästhetik ist also nicht symmetrisch faßbar (54).

Was ist das Naturästhetische der Romantik? Die Antwort bleibt vorläufig. Zwar läßt sich die Ästhetik im allgemeinen Naturbezug als Ethik - zumindest als eine conditio sine qua non - reformulieren, aber das Ästhetische in seiner radikalen Dimension als Moment und als Werkhaftigkeit des Kunstwerks ist dabei nicht erfaßt.

4.

Fuksas Devise "Less Aesthetics, More Ethics" kann damit auf einen variierten Topos "Ethik und Ästhetik" zurückgreifen, der schon vor einem Jahrzehnt erarbeitet und inzwischen auch in die Architektur diffundiert ist. Da Fuksas eine Erklärung ebenso wenig wie jemand anderer im Katalog gibt, stehen die Motive zur Diskussion. Der Hinweis auf persönliche Kontingenzen und die Motive von Macht, Geld und Eitelkeit ist die eine Geschichte. Die andere ist die von Fuksas selber erzählte (55). In ihr wird das Gewicht der großen italienischen Architekturtheorie nach dem Zweiten Weltkrieg - Zevi, Portoghesi, Rossi, Benevolo, Tafuri spürbar, nicht aber expliziert. Fuksas hat sich, im symbolischen Register, zur Wahl Bruno Zevis als seinem Über-Vater entschieden. Was Fuksas an der Begegnung mit dem alten Zevi berührt, ist nicht nur das Einhalten einer traditionellen Ordnung, daß nämlich Zevi mit seinem Nicht-Umarmen einen Unterschied der Geschlechter vor einer "Ästhetik" der Gleich-Gültigkeit ethisch markierte. Es ist der Schock, den, mit Zevis hohem, "philosophischen" Alter, die Frage nach der persönlichen Zukunft Fuksas' auslöst. Mit der latenten Drohung, daß der Vater - "bei bester Gesundheit" - noch einmal jung sein, also Fuksas' eigene Position einnehmen könnte, erreicht Zevi Fuksas' Gewissen: mit der Erinnerung daran, daß Architektur trotz des Dranges nach dem Immer-Neuen nicht immer jung bleiben kann, mit der Erinnerung an die Frage nach den bleibenden Leistungen der Gegenwart auch theoretischer Art, und zwar durch die Erinnerung daran, daß es einmal innovative Theorie, etwa die Zevis gab, der 1945 mit "Verso un architettura organica" (56) die Bühne der Architekturtheorie betrat. Wenn Fuksas dann sagt, daß es bei "dieser 'fürchterlichen' Frage ... um die Nachfrage nach etwas anderem <geht> ... als die Architektur, mit der wir unsere gesamte Existenz verbringen und deren gequältes Leben wir Tag für Tag zu verlängern suchen" (57), dann stellt er damit vielleicht sein zur Architektur hin verallgemeinertes Leben in Frage. Theoretische Auffassungen überprüft er dabei aber nicht. Sicher, der Konflikt von ästhetisch guter Architektur und rasantem urbanen Wandel läßt eine Konfrontation der beiden angesagt erscheinen. Was aber kommt, ist ein Slogan. Als ob sich der Regler zwischen E und Ä auf einer stufenlosen Skala hin und her schieben ließe, meint er: "Ab diesem Zeitpunkt hatte die Biennale 2000 ein Thema: 'Stadt, weniger Ästhetik, mehr Ethik'." (58)

Was heißt das nun genau? Steht gute Architektur für Ästhetik und Stadtentwicklung für Ethik? Man muß es wohl annehmen. Was aber sind die Gründe dafür? Darauf folgt keine Antwort, sondern ein Denkverbot. "Die Gebrauchsanweisung" für die Ausstellung, - "Instructions for Use" groß geschrieben, so als ob Diskurs sich je auf der Ebene von Gebrauchsanweisungen abgespielt hätte - "rät Ihnen, nicht nach etymologischen oder philologischen Erklärungen für LA, ME zu suchen" (59) - man ergänze: auch nicht nach philosophischen Erklärungen. Denn es geht hier darum, eine Ohrfeige jener dekonstruktivistischen Architekturtheorie zu erteilen, die die Architektur als Sprache analysiert und deren wahre Wortwurzeln freizulegen versucht. Cool und humorvoll dagegen Fuksas: LA für "Los Angeles", ME wie "mir". Und: "nicht zu glauben, daß wir irgendwo zwischen dem Ursprung der Welt und ihrer Zukunft sind, und nicht Monate damit zu verbringen, darüber zu debattieren, ob es die Ästhetik ist, die die Ethik enthält, oder umgekehrt." (60) Das ist schlicht und einfach diffamiernde Übertreibung und purer Antiintellektualismus. Als ob es Architekturtheorie nur darum ginge, das Verhältnis zweier philosophischer Disziplinen zu klären! Und als ob sie mit der Philosophie nicht schon lange in produktivem Austausch stünde! Doch damit nicht genug. "Ich hoffe stark, daß niemand auf die glänzende Idee kommt, Kants drei Theorien abzustauben." (61) Schade! Denn wenn auch in "Kant's three theories" - gemeint sind wohl die Kritiken, der Theorien wären es mehr - die Stadt nicht vorkommt, so wird in der ersten Kritik von der Architektonik als System, in der dritten von der Architektur als Kunst gesprochen (62).

Wenn wir Fuksas zugestehen, daß im angelsächsischen Sprachraum, der vielleicht einst den ganzen Globus überzogen haben wird, "aesthetics" zu bloßen Oberflächen und "ethics" in Sets verbindlicher Grundsätze unscharf geworden sind, dann ist umso wichtiger, auf Karsten Harries hinzuweisen, der in ebendiesem Sprachraum in wünschenswerter Deutlichkeit eine Position erarbeitet hat, wie die Kunst, hier die Architektur, ethisch sein kann (63). In seinem Innsbrucker Vortrag 2000, in dem er sein Buch zusammenfaßte, geht Harries (64) von der Stadt aus in ihrer Versorgungsfunktion, aber auch vom Widerwillen gegen sie, wie er sich in der Metapher von der Stadt als einem zu zerstörenden Gefängnis und von der aktuellen Kopflosigkeit manifestiere, in der Harries einen Widerwillen gegen das eigene, regulierende Ich zum Ausdruck gebracht sieht. An diesen Widerwillen gegen die Vorherrschaft der rationalen Zwecke anknüpfend will Harries (65) dem alten, "maschinenlosen" Stadtbild mit dem Zauber des genius loci nachdenken, wenn auch das Heimweh nach einem geschlossenen Schönheitsbegriff das Interessante, Aufregende, Erhabene (für die Künstler und Kritiker) sowie die Freiheit vom Zuhausesein und von der Landschaft nicht ersetzt werden können (und Gefahr, nur mehr als Museumsbild zu existieren).

Harries Argument ist doppelt: beide, sowohl Maske wie Ornament verweisen auf ein Bild: die Stadt des genius loci also, die sich noch als "Figur" vor dem "Grund" der neuen, interessanten, erhabenen Stadt mit ihren Freiheiten und Bewegungen ausmachen läßt. Hier scheint sogar eine Gemeinschaft möglich, deren die urbane Landschaft als Hintergrund symbolisiert ist. Die Ortsbezogenheit darf jedenfalls nicht aufgegeben werden, so Harries, denn sonst würde Architektur wie schon im Historismus ausschließlich mobil und atopisch. Harries schließt sich daher an die Mythologie des Ursprungs von Rousseau/Laugier (Hütte) bis Hegel (Tempel) an, verficht aber zunächst ein duale Konzeption. Wird nämlich die Dichotomie Urhütte/Tempel aufgegeben, wie sie im Zusammen von privaten Haus und öffentlichen Gebäude wiederkehrt, dann gehe nicht nur die Architektur als gemeinschaftsstiftende Kunst verloren, es bliebe dann nur mehr, in Erinnerung an die Erde, das Grabmonument als aktuelle Aufgabe. An dieser Stelle schlägt Harries (66) mit dem alten Stadtbild vor Augen vor, den Werkbegriff mit dem Gestaltbegriff zu restituieren, das heißt die anonymen, privaten Häuser als Grund für die öffentlichen Bauten als eine das Äußere überwindende Figur zu verstehen. Aber, so wäre zu erwidern, erheben wir nicht, müssen wir nicht alle den Anspruch erheben auf ein schönes oder gelungenes Haus, in einem singulären Werk zu leben, ob wir nun Architekten sind oder nicht? Auch war die Mobilität schon die Position des Bürgers, lange bevor die Industrialisierung einsetzte. Klar, Autobahnen und Internet unterlaufen den genius loci - aber sollten wir nicht aufhören mit dem Genuß der Stadt? Die Stadt war ebenso sehr zum Arbeiten da als zum Wohnen. Müßten daher nicht Aufenthalt und Bewegung zusammengedacht werden, natürlich über die Kybernetik hinaus?

Wenn nun, so Harries auf Typologie abhebend (67), die Dichotomie von Haus und Tempel architekturtheoretisch entweder auf die Urhütte oder den Jerusalemer Tempel zurückgeführt wurde - wobei, müßte ergänzt werden, der Vermittlungspunkt ein soziales Paradigma entweder der Herrschaft/Ökokratie oder der Zirkulation/des Tauschs wäre - , dann war alles an einem Gebäude bedeutungsvoll, zumindest funktionierte auch der dekorierte Stadel wie eine Maske zum Auraersatz. Harries setzt den Verlust des Bezugs von Ornament und Träger mit dem von Schönheit und Leben gleich. Damit wird "Ästhetik" zum Ornament, das Band zwischen Gebrauch und Schönheit zerreiße, und die Architektur gerate in einen Widerspruch zur Gebrauchsfunktion - unterstützt vom Umstand, daß Architektur seit d'Alemberts Discours préliminaire von 1751 und seit dem Interesse am selbstgenügsamen ästhetischen Objekt ("Ästhetik") zu den schönen Künsten zählt (wie noch Ungers' Museumskubus sich als autonomes Kunstwerk darstellt) - sonst wäre die Kunst als gemeinschaftstiftend verloren gewesen, wie Harries mit Hegel einräumt.

Diese Überlegung betrifft also einmal die Gebrauchsfunktion: Architektur könne nicht autonome Kunstwerke schaffen, weil sie sonst im Widerspruch zur Gebrauchsfunktion stünde. Folgte man Harries hier, dann wäre "Ästhetik" tatsächlich nichts anderes als Ornament. Wenn aber der Zweck als heteronomer primär ist, dann läßt sich Architektur nicht nur nicht als autonome, sondern überhaupt nicht mehr als Kunst begreifen. Es braucht aber nicht einmal die Skulpturalität der Volumina herangezogen zu werden (Loos, Malewitsch), um die Architektur als Kunst zu stützen. Es genügen Orthogonalität, Symmetrie und die Serialität ihrer Elemente (Regelmäßigkeit), die allein schon ästhetisch wahrgenommen werden (68). Harries will aber noch weiter (69): Wenn Gott die Leiter in den Himmel reichen läßt (70) und damit ein Vertrauen in die Welt als Heimstätte setzt, wird Jakobs Steinkissen zum Steinpfeiler einer zu weihenden Kirche - wie die Figur des Fests auf dem Grund des Alltags. Analog, so hofft Harries, müßte eine Re-Präsentation der Orte heute anstelle Gottes Werte, Ideale und den Gemeinsinn vis à vis der individuellen Mündigkeit und Freiheit (Geschmackssache) und den lockeren Stadtbildern vertreten. Sonst bliebe es beim New York als System von Einsamkeiten geheimnis- und maskenloser Iche, wie Harries mit Nietzsche und wohl auch in bezug auf Hobbes warnt.

Zum anderen geht es um die Maskenfunktion. Die Architektur könnte, so Harries mit Nietzsche (71), gemäß der Theorie vom dekorierten Stadl als bloße Maske aufgefaßt werden. Als Maske sei sie wegen ihrer Oberflächenfunktion aber so verloren, wie es die ethische Funktion von Kunst sei, die die Schönheit als Wesentliches sichtbar werden zu lassen hätte. Demgemäß weist Harries (72) der Architektur die ethische Funktion zu, die moderne Gesellschaft in ihrer Kompliziertheit als Stärke und Schwäche zu repräsentieren, wie es etwa bei Washingtons riesige Festwiese als Monument des republikanischen Ethos geschieht. An diesem Punkt (73) ist es Ledoux' quasi-schwebendes Kugelhaus, das Harries der gebundenen Freiheit von Boullées Grabmal für Newton gegenüberstellt, um bei dessen Leere/Kälte/Utopik an die Hinfälligkeit des Körpers zu erinnern, der nur als Dasein erfaßbar sei (Heidegger) beziehungsweise der Fleisch gewordene Sinn sei, den die Architektur verkörpern solle. Normativ, wenn auch nicht expliziterweise, läßt Harries die Architektur den Menschen in die Welt stellen, und zwar als eine Auseinandersetzung mit Welt und Freiheit, die eine mit oder ohne genius loci ist (74). Damit will Harries (75) anstelle der Zuflucht in die zeitlose Geometrie platonischer Körper die Repräsentation des Todes im Totendienst als Sammelplatz affirmieren. So wäre auch Loos' pyramidales Grabmonument als eine Erinnerung an die Erde aufzufassen.

Harries arbeitet mit einer Reihe von Oppositionen wie Tempel/Haus (Urhütte), Fest/Alltag, ästhetisch/ethisch, Stadt/soziale Agglomeration (Landschaft), Bild/Bewegung, Figur/Grund. Da er jedoch sich auf die Seite des Ethischen schlägt, erscheinen auch die anderen Paare entsprechend gewichtet und gepolt. Somit erscheint die große Arbeit an einer elaborierten Theorie sich mit dem Resultat einer Parteinahme sich begnügen zu müssen. Darin unterscheidet sich aber Harries von Fuksas nicht. Worin immer auch die Vermittlung von Ethik und Ästhetik bestehen könnte, es ist klar, daß gegenüber beiden Ansätzen zunächst einmal am Ästhetischen festgehalten werden muß - ob sich das Ästhetische noch in Werken etwa der Architektur verkörpert oder nicht. Zwar wissen wir - über die Atmosphären als Bedingung unserer Selbstbegegnung, über unsere kontemplativen, korresponsiven, imaginativen Bezüge - , daß wir uns und einander gerade über die eigene oder die fremde Natur begegnen. Dennoch ist das autonome Potential der Kunst nicht im relationalen Ethos erfaßbar. Wir werden nicht mehr am l'art-pour-l'art oder Kunst-und-Leben festhalten können wie noch zu modernen Zeiten. Aber die Konzentration auf den ästhetischen Moment sollte der Architektur wie jeder anderen Kunst bis hin zur sozialen Interventionskunst Orientierung bleiben, sollte selbst den ethischen Quellen der Naturästhetik einen objektiven Widerpart verleihen. Daß die soziale Konfiguration der Fuksasschen Massen- und Landschaftsstädte ihrerseits eine Erdung und kommunale Repräsentation in ästhetischer Form erfahren wird, das heißt: einen neuen moralisch-ästhetischen Sinn finden wird, darauf darf meines Erachtens ohne weiteres vertraut werden. Nur, war das die Frage, die gestellt war?

 

 

Endnoten

(1) la Biennale di Venezia (Hg.), Città: Less Aesthetics More Ethics, <2 Bde.,> Venezia: Marsilio 2000

(2) Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge-MA/London-E: MIT Press 1997

(3) Ein solches elftes Buch hätte die berühmten decem libri Vitruvs oder Albertis zu umkreisen, jene zehn Bücher, die bekanntlich der Technik, der Funktion/Typologie und einer (spezifischen) Rhetorik gewidmet waren und die im Falle von Albertis 1443 bis 1452 geschriebenem und 1485 herausgegebenem, im Vergleich zu Vitruv systematischerem Traktat wohl die Architekten wegen ihres geistigen Abstands zur Antike zu humanistischen Gelehrten und Bauherren aufwertet, jedoch Zweck, Würde, Annehmlichkeit, Schönheit, Vielfalt und Proportion als bloß "moderne" Beigaben zur perspektivisch rationalen Konstruktion der sechs Grundelemente beläßt. Dies läßt sich entnehmen: Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt, übers. v. Jürgen Humburg, Frankfurt am Main/New York: Campus 2000

(4) hier und im folgenden: Anthony Cooper Earl of Shaftesbury, Die Moralisten. Eine philosophische Rhapsodie (1709), in: ders., Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays, hg. v. K.-H. Schwabe, München: C. H. Beck 1990, S.179f.

(5) a.a.O., S.199

(6) Das sollte Descartes aber nicht zum Egoismus, sondern zu einer Ethik der Großzügigkeit führen. Dazu: Geneviève Rodis-Lewis, L'oeuvre de Descartes, 2 Bde., Paris: Vrin 1971, Bd.2, und Pascal Dumont, Descartes et l'esthétique. L'art d'emerveiller, Paris: Presses Universitaire de France 1997.

(7) Paul O. Kristeller, Das moderne System der Künste, in: ders., Humanismus und Renaissance, hg. v. Eckhard Kessler, 2.Bd., München: Fink 1976, S.164-206 u. 287-312

(8) Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), = UB 8994, Stuttgart: Ph. Reclam 1986. Dazu zuletzt: Ursula Franke, ästhetische Bildung/Erziehung, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Band 1. Absenz - Darstellung, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2000, S.696-727; bes. S.707-715: "Die politische Dimension der ästhetischen Erziehung (Schiller)"

(9) Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, = stw 57, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S.294-299 (§59).

(10) Monroe Beardsley hat im § 29 (Moral and Critical Judgments) von Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism (1958), Indianapolis-IN/Cambridge-MA: Hackett Publishing Company 1981, zwischen aestheticism and moralism unterschieden. Der eine besagt ihm zufolge, daß ästhetische Objekte nur ästhetischen Kategorien, nicht aber moralischen Urteilen unterworfen werden können, während der andere ästhetische Objekte nur danach beurteilt, inwiefern sie das moralische Verhalten beeinflussen. Auch wenn der Moralismus die Bestrebungen der Vereinigungen von Kunst und Leben aufgrund der grundsätzlichen Distanz bei Urteilen nicht ins Kalkül ziehen kann, so ist er doch dem Kunst-und-Leben nahe. Das größere Problem - auch für die hier vertreten Konzeption ist jedoch, daß der Ästhetizismus in der Tradition nicht nur für l'art-pour-l'art steht, sondern auch und noch mehr eine Radikalisierung des Lebens als eines vollständig ästhetischen Lebens meint (Walter Pater, Oscar Wilde und andere). Deswegen wird die Typologie der konkreten Verhältnisse von Ethik und Ästhetik hier um den Ästhetizismus erweitertert.

(11) Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1922), = es 12, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt. Versuch einer Konstitutionstheorie der Begriffe, Berlin: Benary 1928. Wittgensteins berühmter Satz "(Ethik und Aesthetik sind Eins.)" in a.a.O., Nr. 6.421, S.112, signifiziert das Schweigen des Standpunkts der Ewigkeit von Theoria gegenüber Praxis und Poiesis (vgl. Wittgensteins Tagebucheintragungen vom 7. 10. 1916) und transzendiert die Serialisierung der Bildelemente der Erzählhandlung (so Claus-Artur Scheier, Wittgensteins Kristall. Ein Satzkommentar zur "Logisch-philosophsichen Abhandlung", Freiburg/München: Karl Alber 1991,.241).

(12) Michael Fried, Introduction, in: Three American Painters. Kenneth Noland. Jules Olitski. Frank Stella, Ausst.kat. Fogg Art Museum/Harvard University 1965, S.4-51, S.9f. und öfters, unter anderem mit bezug auf Maurice Merleau-Pontys Die Abenteuer der Dialektik. Das hier zum Ausdruck kommende Ethos wird zur selben Zeit von Künstlern wie Donald Judd oder Joseph Kosuth wiedergespiegelt. Nur oberflächlich "renaturalisierend" ließen sich dem die "architektonischen" Arbeiten des frühen Dan Graham entgegensetzen. Man könnte auch auf Frieds Mitstreiter Stanley Cavell verweisen, in dessen Music Discomposed von 1965 (wieder in: ders., Must We Mean What we Say? A Book of Essays, New York: Charles Scribner's Sons 1969, S.180-212) es heißt: "Objekte der Kunst ... bedeuten uns etwas nicht nur in der Art, wie Aussagen, sondern wie Leute es tun". (meine Übersetzung, P.M.)

(13) Wolfgang Welsch, Ästhet/hik - Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik (1992), in: ders., Grenzgänge der Ästhetik, = UB 9612, Stuttgart: Ph. Reclam jun. 1996, S.106-134

(14) eingeklagt von: George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, übers. v. Jörg Trobitius, m. e. Nachw. v. Botho Strauß, München: Carl Hanser 1990

(15) Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996

(16) Die folgende Aufstellung erfolgt nicht in Anlehnung an Früchtl, der, a.a.O., S.19-22, unter dem Summenbegriff einer antiuniversalistischen Ethik von der postmodernistisch-ästhetischen Ethik (der Ästhetik der Existenz Michel Foucaults, der Anerkennung von Besonderheiten durch den Widerstreit bei Jean-François Lyotard, der nun herrschenden ironistischen Phase des Liberalismus Richard Rortys), von der neoaristotelischen Ethik (der ästhetischen Ethik des konfliktuell-einfühlenden guten Lebens Martha Nussbaums) und von der ökologischen Ethik und ihrer ästhetisch-theoretischen Aspekte spricht. Wird der Ästhetik ein Beitrag zur Ethik zugemutet, dann gibt es bei Früchtl die fundamentalästhetische Ethik (Ästhetik als Grundlage der Ethik: Theodor W. Adorno, Lyotard, Wolfgang Welsch), die marginalästhetische Ethik (marginale Rolle der Ästhetik: Utilitarismus, Metaphysik, Diskurstheorie), die paritätsästhetische Ethik (Albrecht Wellmer, Martin Seel) und die perfektionsästhetische Ethik (Ästhetik als Vollendung der Ethik: Hans Georg Gadamer, teilweise Nussbaum). Zur Konjunktur der Ethik-und-Ästhetik-Debatte siehe auch: Christoph Wulf (Hg.), Ethik und Ästhetik, Berlin: Akademie-Verlag 1994; und: Gerhard Hoffmann (Hg.), Ethics and Aesthetics. the Moral Turn of Postmodernism, Heidelberg: Winter 1996

(17) Michel Foucault, Einleitung zu "Der Gebrauch der Lüste", in: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, = UB 8668, Stuttgart: Ph. Reclam jun. 1990, S.244-274, hier S.267

(18) Titel wie "Der Bauch der Philosophen. Kritik der diätetischen Vernunft" (1991), "Der Philosoph als Hund" (1991), "Der sinnliche Philosoph. Über die Kunst des Geniessens" (1992), "Philosophie der Extase" (1993), "La sculpture de soi. La morale esthétique" (1993), "Die geniesserische Vernunft" (1996), "Die Formen der Zeit. Theorie des Sauternes" (1999).

(19) Michel Onfray, Philosophie der Extase (1991), übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main/New York/Paris: Campus/Editons de la Maison des Sciences de l'Homme 1993, S.27

(20) Jean-François Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 424, 38. Jg., Heft 2, März 1984, S.151-164. Eine andere, in diesem Fall antistrukturalistische wie antikonstruktivistische Ethik einer sich mit sich selbst verständigenden Kunst realer Präsenzen (überhaupt) vorgelegt hat George Steiner, Von realer Gegenwart. ..., a.a.O.

(21) Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, = stw 981, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Richard Shusterman hat in Postmodern Ethics and the Art of Living", dem letzten Kapitel seines Buchs Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art, Cambridge-MA: Blackwell 1992; Lanham-Mid: Rowman & Littlefield 2000 (dt. tw.: Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, übers. v. Barbara Reiter, = Fischer TB 12256, Frankfurt am Main: Fischer 1994, und: Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien: Passagen 1996), insbesondere an Rorty's ästhetisches (versus ethisches) Leben angeknüpft. Entsprechend liest er in 6.421 von Wittgensteins Tractatus das Ästhetische als das eigentlich ethische Ideal. Ästhetische Überlegungen sollen für die jeweilige Lebensweise und deren Einschätzung den Ausschlag geben. In Anknüpfung an John Dewey will er die Macht der Kunst in der Erfahrung wie der Erkenntnis nicht zuletzt ethisch verstanden wissen. Damit geht eine Rechtfertigung der Popularkultur ebenso wie von Kontextpluralitäten einher. Deweys quasi-naturästhetische "organische Einheit" wird (vgl. Richard Shusterman, Die Sorge um den Körper in der heutigen Kultur, in: Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994), unterhalb der Interpretation, in Analyse wie Dekonstruktion wiederaufgenommen und weiter verfolgt in: ders., Soma und Medien, in: Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hg.), Medien - Welten. Wirklichkeiten, München: Wilhelm Fink 1998, S.113-126.

(22) So etwa in "Stand der philosophischen Forschung" unter Pkt.4 von: Gregor Schiemann/Michael Heidelberger, Philosophie IX. Naturphilosophie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd.2: O-Z, Hamburg: Felix Meiner 1999, S.1127-1138, S.1135f.

(23) Gernot Böhme, Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, in: Kunstforum International, Bd.120 <1992>, S.247-255 (wieder in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, = es 1927, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995)

(24) Gernot Böhme, Aporien unserer Beziehung zur Natur, in: ders., Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, = es 1680, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S.9-25. Hier hatte Böhme deutlicher festgehalten, daß sich diese Formen des Designs immer noch auf Natur beziehen, aber mehr auf künstliche Natur, die naheliegenderweise als gleichzeitige Folge der Sehnsucht der Natur aus dem Druck von Zivilisation und Industrialisierung heraus und der Verabschiedung der Natur durch die Avantgarde in ihrer Preisgabe von Naturnachahmung und dadurch auch von Orientierungsleistung zu denken sei.

(25) Die Aufgabe der Ästhetik könnte bei der "Neugestaltung der menschlichen Naturbeziehung" in "der Entfaltung des Sinnenbewußtseins" bestehen, um eine neue Einsicht in die eigene leibliche Natur zu vermitteln (a.a.S.23).

(26) Mit Andeutungen in bezug auf Ernst Blochs Allianztechnik enthalten schon in: Naturwissenschaft als Technik oder die Frage nach einem neuen Naturbegriff, Vortrag am Symposium "Wissenschaft, Technik und ihre Kritiker", TU Wien, 20. - 25. 10. 1980 (Transskript des Autors). Zum ästhetischen Naturbegriff: die Aufsätze: Die schöne Natur und die gute Natur <1987>, Die Mensch-Natur-Beziehung am Beispiel der Stadt <1988>, Die Bedeutung des englischen Gartens und seiner Theorie für die Entwicklung einer ökologischen Naturästhetik (1987), in: ders., Für eine ökologische Naturästhetik, = es 1556, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S.38-55, S.56-76 und S.79-95, sowie: Natürlich Natur, 1992

(27) Gernot Böhme, Atmosphäre als ..., a.a.O., S.255

(28) In bezug auf Paracelsus und Jakob Böhme in: Gernot Böhme, ... wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht, in: ders., Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, = stw 1420, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S.44-63

(29) Damit knüpft Böhme aber weder an die Theorie des Geschmacks, noch der moralischen Empfindungen, sondern an die Affektlehre des Barock an, den er im heutigen theatralischen Zeitalter wiederfindet: Gernot Böhme, Anknüpfung: Ökologische Naturästhetik und die Ästhetisierung des Realen, in: ders., Atmosphäre ... , a.a.O., S.13-18 (1. These)

(30) G. Böhme, Naturwissenschaft als ... (s. o.)

(31) Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung der Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S.122

(32) Hermann Schmitz, System der Philosophie III/2, Bonn: Bouvier 1969, § 149 nach Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, = es 1301, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985

(33) a.a.O., S.192-207 (13. Vorlesung: Das Schöne und andere Atmosphären)

(34) a.a.O., S.201. Man denkt hier unwillkürlich an Josef Haslinger, Politik der Gefühle, ein Essay über Österreich, = SL 692, Darmstadt Luchterhand 1987

(35) G. Böhme, a.a.O., S.205

(36) So lautet der zweite von drei Abschnitten von: Gernot Böhme, Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ernsten Fragen, = es 2025, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997

(37) Gernot Böhme, a.a.O., S.150-167

(38) so in: Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York: Campus 1992

(39) Wieder mit Verweis auf Kant und Schiller, siehe oben Endnote (8) (Franke)

(40) Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., § 41, S.228-231

(41) mit Bezug auf Hermann Schmitz.

(42) Gernot Böhme, Ethik im Kontext, a.a.o., S.169ff.

(43) Gernot Böhme, Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft. Eine Einführung in die Philosophie, = stw 1142, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (dazu auch: Gernot Böhme, Die Ekstasen der Dinge, in: M. Großheim/H. J. Waschkies (Hg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für H. Schmitz, Bonn: Bouvier 1993)

(44) Gernot Böhme, Weltweisheit, ..., a.a.O., S.257f.

(45) Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München: Carl Hanser 2000, S.41

(46) Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (1996 als stw 1231), S.288-346 (der letzte von sechs Abschnitten: "Die Moral des Naturschönen"). In Seels "Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität" (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985) wurde noch keine Kunst der Versöhnung verfolgt, wie sie aus dem ins Sittliche gewendeten Begriff des natürlichen Prozesses sich entzweienden Lebens bei Hegel durchgängig zu finden ist. Die Ethik bleibt, mit Adornos ästhetischer Theorie, transzendent (wenn auch bei diesem nicht die Politik). Demgegenüber hat Wolfgang Welsch seine Ästhet/hik, wiederum unter Bezug auf Adornos ästhetische Theorie, in der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen verankert und gegen den elevatorischen Imperativ der traditionellen Ästhetik von Aristoteles' Psychologie bis Schiller abgehoben in: Ästhet/hik - Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik (1992), in: ders., Grenzgänge der Ästhetik, = UB 9612, Stuttgart: Ph. Reclam jun. 1996, S.106-134

(47) Seel, Eine Ästhetik der Natur, a.a.O., S.342

(48) Dieses naturphilosophische Motiv ist schon bei Hegel der Dialektik der Anerkennung vorgeordnet, wenn auch dann nur in einem Kampf einlösbar: Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, = Werke in zwanzig Bänden 3, hg. v. Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S.139-143, von Seel nicht diskutiert.

(49) Martin Seel, Ästhetische und moralische Anerkennung der Natur (1993), in: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S.220-243

(50) Seel, Eine Ästhetik der Natur, a.a.O., S.289-293

(51) Entsprechend weist Seel die Ästhetik der Existenz Shustermans (aber damit auch Rortys und Foucaults) zurück. Das individuelle Leben ausschließlich wie ein Kunstwerk zu gestalten, führe in einen ästhetischen Holismus, mit dem aber eine Ethik der Existenz nicht zu halten wäre. Daher eine Ethik der Differenz von Ästhetischem und Moralischem. Siehe Martin Seel, Ästhetik als Teil einer differenzierten Ethik <1992>, in: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S.11-35, S.20-23

(52) Seel, Eine Ästhetik der Natur, a.a.O., S.232

(53) Martin Seel, Ästhetische Argumente in der Ethik der Natur <1991>, in: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S.201-219

(54) So könnte ein Resümee lauten von: Karl Heinz Bohrer, Ethik und Ästhetik. Nicht Polarität, sondern Differenz (1992), in: ders., Die Grenzen des Ästhetischen, München/Wien: Carl Hanser 1998, S.160-170.

(55) Die Geschichte geht so: "Nach besseren und schlechteren Zeiten in meinem Verhältnis zu Bruno Zevi schickte er mir eines Tages ein Fax, in dem er am Ende zugab, daß ich doch einen Wert hätte. Ich lebte damals in Paris, rief ihn an und fuhr sofort zu ihm, wie er gebeten hatte. Es war April 1995. am nächsten Tag kam ich in Rom an. Ich fuhr zu seinem Haus in der via Nomentana und fand ihn bei bester Gesundheit vor, umgeben von den letzten Veröffentlichungen, die die staubigen Regale seines Ateliers füllten. Nach einem abgebrochenen Versuch den Mann zu umarmen, einen Versuch, den er wie gewöhnlich mit den Worten 'Ich umarme nur Frauen' zunichte machte (wir umarmten uns trotzdem), traf er mich unmittelbar mit der Frage ins Herz: 'und was genau wirst du denn in den nächsten zehn Jahren machen?' Ich muß zugeben, daß ich mehrere Wochen brauchte, um über den Schock hinwegzukommen. Es gibt eine Menge, was Sie auf eine Herausforderung wie diese sagen können - natürlich nur, wenn Sie sich entscheiden, viel davon in Frage zu stellen, was Sie davor dachten und taten." Massimiliano Fuksas <Vorwort> in: la Biennale di Venezia (Hg.), Città: Less Aesthetics More Ethics, <Bd. 1,> Venezia: Marsilio 2000, S.11-17, hier und im folgenden S.11-12 (mit Dank an Matthias Boeckl/Architektur Aktuell für die Fotokopien vom Vorwort)

(56) in Turin erschienen, siehe: Leonardo Benevolo, Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts (1960), Bd.2, = 4542, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S.416f.

(57) Fuksas <Vorwort>, a.a.O.

(58) a.a.O. Und Fuksas schreibt, ebd.: "Es ging um einen Prozeß weg vom Erfolg von Architekturprojekten. Das Bedürfnis bestand in der Wiederentdeckung des Bewußtseins, daß die Qualität von Architekten und ihrer Werke nicht ausreichte. Es war, als ob mir jene Frage sagen wollte, daß der schizophrene Konflikt zwischen guter Architektur (die weiterhin gebaut wird, aber nie genügt) und der immensen städtischen Umbrüche, die stattgefunden haben, der Gefahr ausgesetzt ist, uns ein für alle Mal von dieser neuen Realität zu entfernen." Sonst liefert Fuksas, dessen Ausstellung zum ersten Mal beträchtliche Raum- (Arsenal, Corderie) und Zeit- (mehr als 4 Monate) Dimensionen annimmt - ein 280 x 500 cm großes Screen-Display zeigt Dokumente - , im Rest des Vorworts, das unter dem Beuys'schen Motto "Künstler und Architekten sind das Rote Kreuz der Welt" steht (Pressetext), einige diskutierbare, interessante Reflexionen. Einerseits mutet er den Architekten die unausgesprochen ethische Begabung zu, sich mit städtischen Agglomerationen wie Calcutta, Kuala Lumpur oder Mexico City auseinanderzusetzen. Das alte geschichtsphilosophische Thema der Möglichkeit einer besseren menschlichen Existenz steht damit einmal mehr dem begrenzt erscheinenden industriellen Fortschritt gegenüber. Die Künstler und Architekten der vergangenen Jahrhunderte wären an dieser Aufgabe im Glauben daran gescheitert, daß ein Kunstobjekt in Massen nicht produziert werden könnte. Insbesondere eine sogenannte selbstreferenzielle Architektur habe nur in die Vergangenheit geblickt. Andererseits aber verschwände das modellhafte Denken so, wie die Bezugnahme auf den informellen, molekularen Ursprung des Bauen nicht erfolge. Die militärische Abgrenzung von Stadt und Land bis hin zum Ende des rationalen Modells mitsamt den Zerstörungen durch die Computer-Hacker und dem Ende der Regierungen gilt nicht mehr als Ursprung der Stadt (klingt in diesem Defätismus Zevis Stellung gegen die rationale Architektur an?). Das Chaos bringe nicht Unordnung hervor (wohl ein klarer Bezug auf die Chaostheorie der 80er Jahre). Überhaupt steht die Frage im Raum, wie das Magma der Megacities repräsentiert werden könne. Parallel produzierten die formlosen, flüssigen Massen am Bildschirm eine organische, virtuelle Architektur, deren neues künstliches Leben den Menschen ohne weiteres zum Objekt machen könne (Gott bewahre!). Auch hätten die klassischen, touristischen, pittoresken, ethnischen wie stereotypen Städtebilder abgedankt. Die Favelas der Dritten Welt sind für Fuksas, provokanterweise, interessanter als die soziale Architektur der Länder der ersten Welt. Programmatisch gilt ihm als die einzige Chance, Energie weiter- und zurückzugeben. Als die drei Pfeiler dieser Plattform werden zuletzt ökologische Reflexion, soziale Umbrüche und technische Kommunikation angegeben.

(59) ebd.

(60) ebd.

(61) ebd.

(62) Die Journalisten hätten seinen Unmut bewirkt. Fuksas erklärt - man siehe die Interviews mit Fuksas zur Biennale im Internet - , so oft nach der tieferen Bedeutung des Slogans gefragt worden zu sein, daß er manche Interviewer ruppig anfahren mußte. Gab er überhaupt Antworten, dann waren sie allesamt unpräzise, Sonst gilt (Fuksas <Vorwort>, a.a.O.): "Die Antwort liegt, wie es auch sein sollte, in den neunzig Installationen oder so, die das Herz der Ausstellung ausmachen." Die Belege zu Kant sind: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Bde., = stw 55, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 2. Bd., S.695-709 (Das Kapitel "Die Architektonik der reinen Vernunft"). Sowie: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, = stw 57, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; §51, S.260f. und §78, S.364f.: "Zur Plastik, als der ersten Art schöner bildender Künste, gehört die Bildhauerkunst und Baukunst. Die erste ist diejenige, welche Begriffe von Dingen, so wie sie in der Natur existieren könnten, körperlich darstellt (doch als schöne Kunst mit Rücksicht auf ästhetische Zweckmäßigkeit); die zweite ist die Kunst, Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind, und deren Form nicht die Natur, sondern einen willkürlichen Zweck zum Bestimmungsgrunde hat, zu dieser Absicht, doch auch zugleich ästhetisch-zweckmäßig, darzustellen. Bei der letzteren ist ein gewisser Gebrauch des künstlichen Gegenstandes die Hauptsache, worauf, als Bedingung, die ästhetischen Ideen eingeschränkt werden. Bei der ersteren ist der bloße Ausdruck ästhetischer Ideen die Hauptabsicht. So sind Bildsäulen von Menschen, Göttern, Tieren u. d. gl. von der erstern Art, aber Tempel, oder Prachtgebäude zum Behuf öffentlicher Versammlungen, oder auch Wohnungen, Ehrenbogen, Säulen, Kenotaphien u. d. gl., zum Ehrengedächtnis errichtet, zur Baukunst gehörig. Ja alles Hausgeräte (die Arbeit des Tischlers u d. gl. Dinge zum Gebrauche) können dazu gewählt werden: weil die Angemessenheit des Produkts zu einem gewissen Gebrauche das Wesentliche eines Bauwerks ausmacht; dagegen ein bloßen Bildwerk, das lediglich zum Anschauen gemacht ist und für sich selbst gefallen soll, als körperliche Darstellung bloße Nachahmung der Natur ist, doch mit Rücksicht auf </> ästhetische Ideen: wobei denn die Sinnenwahrheit nicht so weit gehen darf, daß es aufhöre, als Kunst und Produkt der Willkür zu erscheinen." - "Es liegt der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanism der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen; weil ohne diesen keine Einsicht in der Natur der Dinge erlangt </> werden kann. Wenn man uns gleich einräumt: daß ein höchster Architekt die Formen der Natur, so wie sie von je her da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, welche sich in ihrem Laufe kontinuierlich nach eben dem selben Muster bilden, prädeterminiert habe: so ist doch dadurch unsere Erkenntnis der Natur nicht im mindesten gefördert; weil wir jenes Wesens Handlungsart und die Ideen desselben, welche die Prinzipien der Möglichkeit der Naturwesen enthalten sollen, gar nicht kennen, und von demselben als von oben herab (a priori) die Natur nicht erklären können."

(63) Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge-MA/London-E: MIT Press 1997; ders., Einführende Worte, zu: The Ethical Function of Architecture. Internationales Symposium am Institut für Entwerfen/Studio 3 - Prof. V. Giencke, Fakultät für Architektur und Bauingenieurswesen der Universität Innsbruck, Hochbau und Entwerfen/Studio 3, 29. - 31. 5. 2000, Typoskript; ders., Freiheit und Bauen oder Vom Widerwillen gegen Architektur, Vortrag am 30. Mai 2000 innerhalb: The Ethical Function of Architecture. Internationales Symposium an den Instituten für Hochbau und Entwerfen/Studio 3, Fakultät für Architektur und Bauingenieurswesen der Universität Innsbruck, 29.-31. Mai 2000, Typoskript.

(64) ders., Freiheit und Bauen oder Vom Widerwillen gegen Architektur, a.a.O., S.1-3 (die Paginierung mach dem Vortragstyposkript)

(65) a.a.O., S.3-7

(66) a.a.O., S.7-12

(67) a.a.O., S.12-14, auch: Einführende Worte, a.a.O.

(68) Das hat Ernst Mach, auch mit Hinweis auf Owen Jones, gezeigt: Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, m. Vw. v. Gereon Wolters, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991 (Reprint d. 9. Aufl. 1922); dazu auch: Peter Mahr, Ernst Mach, Gestaltwahrnehmung, Minimal Art, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach - Werk und Wirkung, Wien: Hölder-Pichler-Tempski, S.404-431. Jones hatte sich dieser Protoästhetik schon angenähert, indem er forderte: "Alle Ornamente sollten eine geometrische Construction zur Grundlage haben." Aus: ders., Grammatik der Ornamente, London/Leipzig: Day and Son/Ludwig Denicke 1856, S.5 (Allgemeine und durchgehends in diesem Werke anempfohlene Principien zur Anordnung der Form und der Farbe in der Architektur und den decorativen Künsten, S.5-8).

(69) Harries, Freiheit und Bauen ..., a.a.O., S.15-20

(70) 1 Moses 28, 11-17

(71) Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, Bd.1, Nr.218

(72) Harries, Freiheit und Bauen ..., a.a.O., S.20-24

(73) a.a.O., 25-28

(74) Harries bezieht sich auf Heidegger. Siehe die erste spezielle Bemerkung von Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer 1986, § 12, S.52-59, definiert das Insein als das erste Existenzial des Daseins und leitet es von innan, wohnen, habitare ab (dem müßte heute die modusorientierte, bloß vorübergehende Präsenz der Öffentlichkeit zugeordnet werden als Existenzial sozialer Behausung. Das ist einer der Ursprünge von Heideggers "Bauen Wohnen Denken", in: Mensch und Raum, = Darmstädter Gespräch 2, Darmstadt 1952, S.72-84. Harries verwurzelt Heidegger im griechischen Ethos als Dasein, meint den Charakter der Begegnung von Menschen und Dingen und zu Menschen. Jedenfalls stellt die Architektur den Menschen in die Welt, ob mit oder ohne genius loci.

(75) Harries, a.a.O., S.29-31

(c) Peter Mahr 2001

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