mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), N.4/Dezember

Commented Criticism

7. "Musik klein, Bedeutung groß." Hitparade als kritisches Instrument: die 90er Jahre Charts auf FM4/Wien. Mit Dank an Martin Pieper und Marian Schönwiese. 11479 Zeichen.

Wie Martin Pieper, der Moderator der Sendung "Jahrzehnt-Charts" am 31. Dezember 1999 von 19 bis 22 Uhr, im Gespräch mit dem Autor berichtet, wurden die Songs unter mit einer Methode ausgesucht. Es wurde auf die Jahres-Charts der Jahre seit 1995 zurückgegriffen, dem Jahr, in dem FM4 zu senden begann. Für die Jahre davor sammelten Pieper und Kollegin Eva Umbauer (Indie und Alternative), von 15 RedakteurInnen Mails ein, in denen jeweils die 25 besten Tracks genannt und von diesen fünf markiert wurden. Von den rund 400 eintreffenden Nennungen wurden, in erstaunlicher Übereinstimmung, 50 Songs markiert. Die vorläufig gereihten Gruppen mit gleich viel Nennungen wurden in eine kontinuierliche Abfolge gebracht, und es wurde geringfügig umgestellt. Bei einigen Vertretenen war über die auszuwählende eine Nummer zu streiten. Über 7, 8 Songs wurde gestritten. Ein paar wenige Nummern wurden hinzugenommen, um alle auf FM4 vertretenen Genres unterzubringen. Das sind Indie/Alternative, House, Heavy Rock, Hip Hop, wobei Techno und "Liquid Radio" ausgeklammert blieben. Was herauskam, war folgende Play-List:

1. Nirvana - Smells Like Teen Spirit

2. Massive Attack - Unfinished Sympathy

3. Beck - Loser

4. Beastie Boys - Sabotage

5. Underworld - Born Slippy

6. Björk - Human Behaviour

7. Pulp - Common People

8. Blur - Song 2

9. Portishead - Sourtimes

10. Radiohead - Creep

11. Fatboy Slim - Rockafeller Skank

12. Stereo MCs - Connected

13. Nine Inch Nails - Closer

14. Tricky - Black Street

15. KRS One - Sound of the Police

16. Smashing Pumpkins - Today

17. Verve - Bittersweet Symphony

18. Cornershop - Brimful of Asha

19. Red Hot Chili Peppers - Under the Bridge

20. Daft Punk - Around the World

21. A Tribe Called Quest - Can I Kick It?

22. The Breeders - Cannonball

23. Rage Against the Machine - Killing in the Name Of

24. Dee Lite - Groove Is in the Heart

25. Cypress Hill - Insane in the Brain

26. Soundgarden - Black Hole Sun

27. Console - 14 Zero Zero

28. Goldie - Innercity Life

29. Tocotronic - Die Welt kann mich nicht mehr verstehen

30. Filter - Hey Man Nice Shot

31. REM - Losing My Religion

32. Roni Size - Brown Paper Bag

33. The Prodigy - Out Of Space

34. Stardust - Music Sounds Better With You

35. Suede - Animal Nitrate

36. Gang Starr - Step in the Arena

37. Nick Cave - Ship Song

38. Eins Zwo - Danke Gut

39. KLF - What time Is Love

40. Die Sterne - Widerschein

Es handelt sich - hier spricht nicht nur der parteiische, FM4-weichgespülte Hörer - um eine hervorragende Auswahl (zur Feier des Moments wurden die Nummern zur Gänze ausgespielt): repräsentativ, abwechslungsreich, punktgenau moderiert, in der Abfolge wie eine Geschichte der 90er Jahre klingend.

Martin Pieper selbst ist - persönlich, wie er betont - nicht so begeistert. Die Jahrzehnt-Charts seien eine Festschreibung von Meisterwerken, die letztlich an die konservative Geschichtsschreibung der Old-Timer-Paraden anknüpfe, besonders der 60er und 70er Jahre. Dagegen würde man sich schwer tun, die Rockgeschichte der 70er, 80er Jahre umzuschreiben. Man müsse das Unbekannte, das Verkannte entdecken, müsse zumindest die Stars relativieren. Schon aus dem Abstand heraus von einem Jahr würde er bestimmte Songs wieder herausnehmen.

Die andere Sache ist, so Pieper, daß mit Charts der Musik nicht entsprochen werde. Entsprechend der angesichts eines so großen, für die meisten SenderedakteurInnen altermäßig sogar einzig möglichen, überblickbaren Zeitraums von 10 Jahren erstaunlichen Konvergenz der Urteile gehe die Grundtatsache unter, daß nämlich jede/jeder schon mehr oder weniger gewußt habe - man könnte verstärken: wissen hat müssen - , was ihm wertvoll und bedeutend war. Zwar habe man zwischen Tür und Angel das eine oder andere diskutiert. In der Runde sei es aber nur mehr um die besagten Einzelheiten gegangen.

Man weiß oder muß wissen, daß FM4 hervorragende Bereichsredakteure hat. Welcher Sender kann sich zwei Redakteure wie Eva Umbauer und Robert Rotifer zu einem einzigen Bereich wie Indie und Alternative leisten? Wer kann auf einen sternenstaubsaugenden und -filternden House-Experten wie BTO Spider zurückgreifen. Wer hat gleich zwei erfahrene langdienende Komoderatoren für (Post-)Heavy-Metal wie Christian Fuchs und Hannes Eder zur Verfügung? Ähnlich der ständig Breakbeat/Freestyle-Neuland entdeckende Werner Geier, Hans Wu oder Smash/Slack Hippie für Drum & Bass/Electro, abgesehen von den zahlreichen Haus-DJs. Da ist die Arbeit schon getan, wenn es ans Resümieren geht.

Natürlich, räumt Pieper ein, befinde sich FM4 im Mediengeflecht von Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Man sei mehr oder weniger stark Einflüssen ausgesetzt, wenn FM4, liesse sich hinzufügen, nicht selber Einflüsse gewollt produziert. Überhaupt wirkten die Industrie oder die Medien auf die internationalen Communities von Hip Hop oder anderen ein. Zu ihnen zähle (sich) der oder die einzelne Hörer/in. Dazu kommen die regelmäßig berichteten Musikanbindungen Film, neue Medien, Gender, Life Style. Nicht nur deswegen könnte sich FM4 mit einigem Recht als Kultursender verstehen. Ganz wichtig - ob für die HörerInnen oder RadiomacherInnen - seien aber die musikalisch einprägsamen Momente der Sozialisation, die Songs, durch die hindurch sich die bis oder ab 20 Jahre alten Jugendlichen mit Communities identifizierten. Diese Identifikation erfolge aber stark aus der eigenen Biographie heraus. So gesehen verfälschten oder verdeckten - ergänzt: dekontextualisierten - Charts die Wertigkeiten, indem sie eine Abfolge von selbstgenügsamen einzelnen Stücken präsentieren.

Wenn auch das Gespräch mit Pieper zum möglicherweise gar nie erreichbaren Kern der Sache vordringen konnte: Worin besteht nun der musikkritische Prozeß, der den Charts vorhergeht, insbesondere den FM4-90erJahre-Charts. Dem Sachverhalt angemessen, vorsichtiger gefragt: Wie bilden sich Präferenzen aus, die über das eigene Gemüsebeet von Vorlieben, persönlichen Erfahrungen und Genrezugehörigkeiten hinaus den allgemeinen Konsens finden. Warum finden die ersten der Top Ten die Zustimmung aller? Wieso konnte Nirvana mit "Smells Like Teen Spirit" von allen als "Sieger" bestätigt werden? Weil, wie Pieper sagt, der Song für eine ganze Generation steht? Oder war nicht doch der Medien-Hype um die sagenhaften Konzerte des Trios um Kurt Cobain mindestens so ausschlaggebend für den Erfolg, von seinem Selbstmord einmal abgesehen?

Nein, das erklärt mit Sicherheit oder vielleicht das Vorkommen des einzelnen Ereignisses, nicht aber, wieso, angemessenerweise, Daft Punk vor Stardust oder "Closer" vor "Hey Man Nice Shot" rangieren. Wie überhaupt wird Qualität detektiert? Piepers Antwort: "Musik klein, Bedeutung groß." Nicht Qualität, sondern Bedeutung sei ausschlaggebend - eben die, die sich im gesamten biographischen und kulturellen Prozess herauskristallisiert.

Was aber könnte das genau heißen? Ein Klang hat eine gewisse Bedeutung. Er hat sie von seiner Farbe, Höhe, Gestalt aus biologischen, individuellen, biographischen, sozialen, mikro-, makro-, sub- und hochkulturellen Gründen. Er hat Bedeutung im Kontext von Melodien, Harmonien, Rhythmen, Geräuschen, Räumen, Beleuchtungen, Stimmungen, Bewegungen, Handlungen. Er hat Bedeutung innerhalb mehr oder weniger abgeschlossener Gebilde von anderen Klängen, Songs, Stücken, Mixes, Sendungen. Er hat Bedeutung, die wir ihm zuschreiben, die wir in ihn als eine mehr oder weniger eigene oder fremde Sprache interpretieren: Gefühle, Message, Ausdruck, Zeichen, Zitat.

Doch halt. Geht es nicht einfacher? Versteht man die Top 40 als die vierzig besten Songs - ja, keine Instrumentals, selbst auf "Around the World" sind die Worte des Titels noch im vocoderverarbeiteten Gesangssample hörbar - dann ist doch alles von den Song Lines her verstehbar, und alle Klänge wären nur Extensionen der Liedzeilen, des Refrains, des Narrativs. Dann wären die Songs schon von ihrer gesungenen Aussage her verstehbar. Sung Poetry aber ist nicht, worum es geht.

Die Bedeutung muß also zwischen der gesanglich ausgedrückten sprachlichen und der musiksprachlichen Bedeutung liegen. Dazu kommt noch die persönliche Bedeutung: die der Musik-ErfinderInnen. Auf sie wird in den Features während der tagtäglichen Kleinarbeit von FM4 mehr oder weniger genau Bedacht genommen und, ohne klar davon getrennt zu sein, auf die Bedeutung der KonsumentInnen: Was sagt die Musik aus? Doch damit ist "Bedeutung" noch nicht ausgeschöpft. Denn, was die Musik mir und nicht nur für mich bedeutet, ist gerade in der Popmusik wesentlich: die Widmungen von Songs in den Anrufsendungen oder die privaten CD-Geschenke an andere, die oft eine Kommunikation des Innersten versucht. Auf schönste Art wird hier eine ganze Musik zur impliziten, vielleicht nicht einmal von der die Botschaft "sendenden" Person ganz verstanden.

Dennoch und noch immer, da wir musikalisch nicht mit Klängen, sondern mit Klanggebilden leben und diese eine eigene Gestalt ausmachen, die als solche betrachtet und abgewogen werden kann (einschließlich der gesanglich ausgedrückten, wortsprachlichen Bedeutungen) - was macht die Qualität der Klanggebilde, Stücke, Tracks aus? Hier, gesteht Pieper zu, geht es um ästhetische Urteile - wie sehr auch immer sie angesichts der strukturellen Bedeutungsvielfalt im Ranking eine partielle Rolle spielen. Dee Lite! Ließe sich nicht die bündige Mischung aus rockig leicht discomäßigem Rhythmus, den gekonnt eingesetzten Gasangssamplescratches, dem lässigen Duo-Rap, der partyabbildenden, "mehrstimmigen" Multikulturalität New Yorks, liessen sich nicht der duftig instrumentierte Track und die nicht zuletzt ebenso zarte wie ins Mark gehende Stimme von Dee Lite's "Groove is in the Heart" als Komposition analysieren, die über Sound, Einfall und sprachliche Bedeutung hinausgeht? Möchte man nicht hier wie bei anderen "Große Kunst!" ausrufen? Und ließen sich diese Ausrufe nicht in allen Details begründen?

Es ist zur Kenntnis zu nehmen: Noch nie hat es Musikkritiker-Runden auf BBC gegeben, die ein ausdiskutiertes gemeinsames Urteil gefällt hätten, das von den Produzenten, den Musikern und Konsumenten überprüfbar ernst genommen worden wäre. Das scheint vielleicht im Literarischen Quartett gegeben, wiewohl die spätbürgerliche Bildungseinrichtung den möglichen und notwendigen literaturkritischen Prozeß nicht nur durch das Familien-Setting eher zu verdunkeln scheint, als zu enthüllen in der Lage zu sein. Natürlich gibt es die Institution des kontinuierlichen Diskurses. Sie fand auf Papier statt, etwa in Robert Schumanns Neuer Zeitschrift für Musik ab 1834. Und Zeitschriften wie Spex tun nichts anderes. Aber findet bei Spex noch Diskussion statt, die der Musik nahe ist, vom Song ausgeht oder auf ihn hinsteuert? Und ist das überhaupt wichtig angesichts der kulturell per definitionem komplexen Semiose, mit der die Volksmusik oder Popmusik seit Mitte des 20. Jahrhunderts gemacht und verstanden wird?

Man macht ein Jahrzehnt nur einmal. Dann aber gründlich. Es leuchtet ein, die Arbeit der Jahrzehnt-Charts hätte nicht in Angriff genommen werden können, wenn die musikkritische Arbeit erst zu leisten gewesen wäre. Doch im Unterschied zu den wöchentlichen Charts lösen sich, wenn nicht in den Jahres-Charts, dann in den Jahrzehnt-Charts die Bedeutungen heraus - wohl auch im Sinne des Bedeutungsvollen: ob es dann auch noch einem Ranking unterzogen wird, ist egal.

Bleiben einige Konkretisierungen, Vorschläge und Einwände. Sollen Titel oder Künstler oder Labels gereiht werden? Ja, vielleicht Titel, aber dieser Anlauf wäre noch einmal einmal kontrollweise von den Labels her zu unternehmen. Ich kann zuerst auswählen, dann reihen oder, etwas schwieriger, auch umgekehrt: ich reihe einfach ein paar - vier oder fünf - , wie sie sich zufällig gruppieren, nehme andere zufällige Gruppierungen vor und achte darauf, daß jeder Titel mindestens einmal in den zu reihenden Gruppen vorkommt. Ob die Tätigkeit von Wettbewerbs- oder Preisjurys (Grammys) eine Rolle spielen könnte - die Arbeit eines Musikredakteurs sieht wohl so aus: 1., Gruppierung aus dem, was sich zum Beispiel in einer Woche angesammelt hat, was irgendwie brauchbar ist. 2., Auswahl - the survival of the fittest - , sie wird bei einem großen Sample zur Entscheidung und zwar insofern sich die Aufmerksamkeit auf einzelne Titel zu richten beginnt, gleichzeitig ziehen Entscheidungen mit Gewicht (40 aus 500) die Aufmerksamkeit automatisch auf den einzelnen Titel auf sich, für den Präferenzen zu haben oft nicht begründet werden kann. 3., die Reihung, sofern sie nicht nur eine numerierte Anordnung ist (wie bei den House Club Essentials), sondern eine Rangordnung ergibt - evident, daß die Arbeit mit "1." und "2." erfüllt sein kann, was nicht nur eine formale Frage ist, sondern inzwischen auch mit Genres zu tun hat, etwa mit den Genres der musikalischen Übergänge (DJ-Culture). Es würde nicht nur hölzern wirken, eine Hitparade der besten Techno-Tracks Nummer nach Nummer zu moderieren, es hätte auch die gereihte Abfolge der "besten" Tracks (wenn überhaupt die gleiche Geschwindigkeit gegeben wäre) gemischt musikalisch einen etwas befremdlichen Effekt.

Die Musik der 90er-Jahrzehnt-Charts - wenn sie auch von manchen nur für die Flüchtigkeit des Jugendalterd mit Bedeutung versehen wird - ist nicht nur für den Tag gemacht. Es geht wie bei jeder Kunst um den absoluten Moment, um das, was in die eigene Geschichte eingeht, die immer auch die einer Gruppe oder die einer ganzen Generation ist. Musik wird nicht nur gepusht, wie das Powerplay auch auf FM4 nahelegt. Musik wird nicht nur durch Werbung vom und im Fernsehen hinaufgehoben. Es braucht die kritische Sensibilität. Sie aber ist ein gesamtkultureller Prozeß.

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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