mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), N.4/Dezember

Aesthetica

1. Geschmack, Erhabenes und Mitempfindung. Das Politische der Ästhetik, 18. Jahrhundert IV: Schluß. Gefördert durch ein Stipendium der Wissenschaftsabteilung des Kulturamts der Stadt Wien und im Rahmen eines Projekts des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung der Republik Österreich. Dank an Franz Martin Wimmer und, für Hinweise, Wolfgang Pircher (beide Institut für Philosophie der Universität Wien). 8730 Zeichen.

Was ist die politische Differenz des Ästhetischen im 18. Jahrhundert? Eine Reihe von Antworten läßt sich geben: der öffentliche Zugang zu Parks und Gärten, die wiedergespiegelte soziale Freiheit in der Auffassung und Gestalt des englischen Landschaftsgartens, die allgemeine Aneignung landschaftlicher Natur durch die Erfahrung des Pittoresken, wie sie im Seeing natürlicher Sights zum touristischen Bestand wird. Hier pendelt sich eine ästhetischen Mittelstellung zwischen künstlich-geometrischer Ordnung und natürlicher, organisch kontingenter Unordnung der Natur ein, in der sich jedes Individuum nach seinem Belieben verortet und perzeptuell eine kontingente, unstabil bleibende Einheit mit der Natur eingeht. Neu ist die erkämpfte Zunahme der freien Meinungsäußerung auch in Sachen Ästhetik, der Bildung eines Publikums beziehungsweise schon spezieller Publiken. Das geht mit der Schaffung von vereinenden Kunstinstitutionen (dem Gemäldesalon, Museum, Konzert- und Schauspielhaus) und dem Auftreten der ersten freien Künstler einher: Lessing, Mozart und Beethoven, David und Goya.

Plausibel wird somit die gesellschaftliche Anerkennung der theoretischen Ästhetik im akademischen Bereich in dieser Zeit durch spezielle Professoralisierung und Disziplinstiftung und theoretische Kunstreformen (Baumgarten, Meier, Sulzer; Winckelmann, Lessing). Was aber macht das Politische eben dieser ästhetischen Theorie und philosophischen Ästhetik aus? In der politischen theorie war die Philosophie schon länger über ein Ordo-Denken hinausgegangen, das noch die Substanz (Wesen, Regeln) als vorgegeben und wiederzuerkennen voraussetzte. Im Denken des historischen, nicht-göttlichen Ursprungs und der Zukunft von Politik kommt den empirischen Ursprungsakten in Entdeckungs- aber auch Begründungsabsichten besondere Bedeutung zu. Neuzeitliche politische Philosophie fundiert dabei eine historisch anbrechende Epoche im Subjekt als der Instanz politischer Stiftung beziehungsweise Vereinbarung. Subjektivität spielt die Rolle des machiavellischen Techniker-Souveräns, der hobbesianisch sich selbst balancierenden Staatsmaschine, des rousseauistischen Volkswillens in seiner natürlichen Selbstaneignung und der von Locke über Montesquieu zu den Federalists reichenden bürgerlichen Selbstbestimmung über eine aufgabenteilende und kontrollierende repräsentative Demokratie.<106>

Für das Politische der Ästhetik wird zunächst klar, daß im 18. Jahrhundert die Frage fremd bleibt, ob Kunst politische Inhalte haben kann oder soll. Kunst und das Ästhetische überhaupt können auch weniger schöne "moderne moralische Themen" haben, so wie bei Hogarth etwa die programmatische Semiotisierung idealer Schönheit ab dem 18. Jahrhundert durchaus mit einem sozialkritsch sichtbar gemachten Häßlichen einhergehen konnte. Politische Inhalte jedoch, das heißt ausdrücklich als politisch bezeichnete Inhalte - deren Herausstülpung in einer natürlichen Repräsentation qua Imitation je nach Kunstform in Erscheinung tritt - sind für die Kunst politisch erst dann relevant, wenn die Arbeit an der Form, wie sie vom Problemstand der künstlerischen Tradition gefordert ist, eingelöst wird. Wie stark auch immer der Inhalt natürlich repräsentiert wird - , wenn der dargestellte Problemstand nicht zeitgenössisch, das heißt als historisch am fortgeschrittensten aufgenommen wird, dann können "politische" Inhalte die Kunst selbst nicht wirklich politisch machen. Die Autonomie der Kunst im Kunstwerk ist dabei die politisch garantierte conditio sine qua non. Die politische Bedeutung der Kunst besteht darin, daß sie in ihrer Tätigkeit zu einem Gegenstand führt, der in seiner Bedeutung, Erfahrbarkeit, Empfindbarkeit, Interpretierbarkeit und Denkbarkeit prinzipiell offen, also frei ist. Daher ihre Funktion einer radikalen Verhandlungsmöglichkeit für ein Gemeinwesen.

Der Gegenstand der Kunst ist Verkörperung von Bedeutung, ein Analogon zur menschlichen, sozialen Vernunft, frei mit Baumgarten gesprochen.<107> Doch zeigt sich die politische Dimension der Ästhetik des 18. Jahrhunderts an Cartaud de la Villate, Smith, Kant und ihren Kombattanten in einer mehrschichtigen Weise. Es handelt sich nicht um eine festgesetzte Relation zwsichen einer Theorie und ihrem Objekt, wie später in der mit der Ästhetik gleichgesetzten Kunstphilosophie. Die Eigenart des ästhetischen Sensoriums zeigt sich in zwei psychischen Entitäten und einer Eigenschaft in Nominalform: Geschmack, Mitempfindung sowie das Erhabene. Sind die psychischen Phänomene Geschmack und Mitgefühl weit über das Subjektiv-Individuelle hinaus gleichermaßen erstrebenswerte wie streitbare Objekt, die für den Begriff einer ganzen Gesellschaft wirtschaftlich, sozial und politisch wesentlich sein können, dann gilt für das Erhabene noch mehr, daß es über die Partikularität des Mentalen in eine sittliche Dimension hinausreicht, die noch vor jeder Bändigung in der Kunst eine politisch-geschichtlich tragende Rolle einnehmen soll.

Die klassische Wissensrepräsentation hatte in ihren verschiedenen Spielarten des Geschmacks jenen Punkt zu bestimen versucht, der dem Kontingenten - dem wirtschaftlich Überflüssigen - eine staatsstützende Rolle verordnen wollte. Mit dem Geschmack wird nicht nur kulturelle Kreativität, sondern auch jene Aufgeklärtheit frei, die prästabilierend die Einsicht in das symbolisch repräsentierte Gefüge der Souveränität höfischer Ordnung und die funktional repräsentierte, das heißt physiokratischer Ökonomie garantieren sollte (Cartaud de la Villate). Doch als die "psychologischen" Fundamente des Geschmacks in ihren je eigentümlichen, sich transnational emanzipierenden (Baumgarten), ja sogar auseinanderstrebenden Tendenzen mehr und mehr offenbar wurden - in der Sensibilität und ihrer Balancierung des Außen schöner Kunst - , mußte die Repräsentation natürlich piktoriell redefiniert und zuungunsten der Institutionen des Geschmacks etwa des Theaters durch die erkenntnisfördernde Nachahmung subjekteigener Qualitäten ersetzt werden. Wenn nun nicht mehr die repräsentierte "objektive" Passion, aber auch nicht mehr das repräsentierende, bloß subjektive Sentiment den Geschmack tragen, dann avanciert die Empfindung der Empfindung - das Mitgefühl - zur nicht nur gesellschaftlich, sondern politisch gehaltvollen Kategorie (Rousseau). Nicht nur, daß sich in allen Künsten soziale Einflüsse wie Mode, Brauchtum und Klassen zeigen und sogar die sozialen Interaktionen vom Nutzen der Gefühle der Schönheit begleitet sind. Das Sensorium des Mitgefühls ist wesentlich durch die subjektiv gewordene Repräsentation der Vorstellung bestimmt. Einerseits bewirkt die Imagination noch nicht gegenwärtigen Besitzes ökonomische Harmonie, andererseits entspringt der ästhetischen Anschauung dieser Harmonie sogar politisches Studium und Handeln, verhilft den Bürgern des Harmoniegebildes Staat zu einem moralischen Mitgefühl (Smith). Denn diese Einzelnen können nun ihre Nichtigkeit in der Gefahr des Selbstverlusts (Burke) als eine Erfahrung-an-sich in einem Effekt des erhabenen Gefühls zurückgewinnen. Nur insofern diese Natur als gesetzhafte Idee, also als moralisch vorgestellt wird, bedeutet das Erhabene einen sozialen Enthusiasmus, der eine Zurückweisung des Staates einschließt, ohne daß dieser zugleich zerstört werden müßte und des letzendlichen Nutzens durch die imaginierte Partizipation verlustig ginge (Kant). Einmal mehr wird so mit dem Erhabenen eine sentimentalische Ausrichtung ästhetischer Phänomene überschritten und die Richtung in eine Öffentlichkeit des Ästhetischen ohne Repräsentation gewiesen.<108>

<106> Werner Goldschmidt, Politik, in: Europäische Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaft, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Bd.3, Hamburg: Meiner 1990, S.337-393. - Die Analyse ästhetischer Aspekte der Hobbesschen Staatstheorie entgehen lasen hat sich Horst Bredekamp, Leviathan und Internet. Findet Thomas Hobbes' Machtmaschine im Cyberspace ihr Gegenstück?, in: Die Zeit, 3. Januer 1997, S.35

<107> Gerhardt Kapner, Autonomietendenzen der Kunst seit dem 18. Jahrhundert, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 1980, Nr.1, S.19ff., denkt Autonomie im wesentlichen von drei Momenten her: ökonomisch als Marktvergrößerung (der Übergang vom besoldeten zum freischaffenden Künstler, von der Kunden- zur Warenproduktion), gesellschaftlich als Auswirkung bürgerlicher Emanzipation auf Inhalt und Form der Werke und ästhetisch als Desintegration der Kunstfunktion (das Schöne nur mehr sein eigener Zweck). Während das zweite Moment auf einer vom Inhalt abgespaltenen Form beruht, wie sie als Auswirkung bürgerlicher Emanzipation nur im Verfall begreifbar ist, scheint allerdings das Ästhetische (bei Kapner nur das Schöne) als Selbstzweck und schlechte Kehr-Seite der Autonomie als lediglich unpolitisch mißverstanden worden zu sein.

<108> F. R. Ankersmit, Aesthetic Politics. Political Philsophy Beyond Fact and Value, Stanford-CA: Stanford University Press 1996, trennt in seinem Versuch, an Schiller anzuknüpfen (1. Kap.: Political Representation: the Aesthetic State, S.21-63), von der künstlerischen Repräsentation die ästhetische, deren wesentliches Charakteristikum der Geschmack, das heißt der intrinsische Diskussionscharakter ist und darin mit der politischen Repräsentation übereinstimmt (S.23). Die mimetische Theorie von Kunst wie Politik im 18. Jahrhundert sei von der ästhetischen der Moderne abgelöst worden (S.34-36 u.ö.). Noch stärker, entstehe politische Realität überhaupt erst durch Repräsentation (S.48). Man könnte vor dem Hintergrund des Ausgeführten zweierlei sagen: Entweder wird dem Ästhetischen (Diskussionsgegenstand ohne reale Existenz und äußere Normen) die Rolle der Fundierung für alle nicht-wissenschaftlichen Diskurse aufgebürdet, oder das Ästhetische verschwindet im Sog einer politischen Realität, die mit der künstlerischen Identifikation auf das Werk kurzgeschlossen wird.

Peter Mahr (c) 2000

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