mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.2/Juni

Übersetzung

11. L<amindo>. Pritanio <pseud. f. Lodovico Antonio Muratori>, Kapitel VI. Wo wir einige allgemeine Bemerkungen über das poetische Schöne vorausschicken. Was sich beim Schönen von selbst versteht. Zwei seiner Arten. Die Liebe, die dem Wahren angeboren ist, und seine Schönheit. Welches Wahres man in den Wissenschaften, den Künsten und der Poetik sucht. Einteilung der Dinge in drei Welten. Was sich zur Nachahmung von selbst versteht. Unterschied zwischen der Poetik und den anderen Künsten und Wissenschaften, übers. nach: ders., Della perfetta poesia italiana spiegata e dimostrata con varie osservazioni (1706) con le annotazione critiche die Antonio M. Salvini, Volume primo, Milano: Dalla società tipografica dei classici italiani, 1821, Capitolo VI, S.86-99. 19886 Zeichen.

Es besteht also der gute Geschmack im Kennen, Unterscheiden und Schmecken des poetischen Schönen, das heißt theoretisch wie praktisch im Wissen des Urteilens darüber, was in der Dichtung schön, was unförmig ist. Man muß es sich deshalb zum Beruf machen aufzusuchen, worin dieses Schöne wirklich besteht, und es so weit wie möglich in seinem Wesen und seiner Idee erklären. Unter schön verstehen wir gemeinhin das, was als Gesehenes oder Gehörtes oder Verstandenes erfreut, gefällt, hinreißt und derart in uns süße Empfindungen und Liebe verursacht. Das schönste aller Dinge ist Gott, er ist die Quelle aller Schönheit. Schön ist die Sonne, schön ist eine Blume, ein kleiner Bach, ein Gemälde, ein Klang von einem Musikinstrument, ein geistreicher Leitspruch, eine erzählte oder geschriebene, liebenswürdige Geschichte, eine tugendhafte Handlung. Unter den vielen und so verschiedenen Schönheiten, von denen die Natur voll ist, sind die einen körperlich, die anderen unkörperlich. Die ersteren gehören den Sinnen des Gehörs und des Gesichts an, und zwar als die Schönheit der Sterne und des Goldes, der Gärten, des schönen menschlichen Körpers, der Musik und Ähnlichem. Die zweite, obwohl ihre Wirkungen sie mitunter über die Sinne zum Verstand heben, gehören dennoch nicht den Sinnen an, sondern werden nur vom Verstand so richtig ausgekostet, und zwar als Schönheit Gottes, als Weisheit der Tugend, eines Gedichts, einer Rede und Vergleichbarem. Lassen wir die körperlichen Schönheiten bleiben, und beschränken wir uns auf die unkörperlichen, die wir die geistigen oder vernünftigen oder wie auch immer nennen.

Diese unkörperlichen Schönheiten lassen sich erneut in zwei Arten einteilen. Die einen beruhen hauptsächlich auf dem Wahren, die anderen hauptsächlich auf dem Guten. Die Schönheit der moralischen Tugenden hat ihre Grundlage auf dem Guten. Und dieses Gute, das von der Schönheit umhüllt ist und vom Verstand gelernt wird, schafft es, den menschlichen Willen zu erfreuen und gefangen zu nehmen sowie seine Schönheit - wenn irgendwie möglich - mit den Augen des Körpers anzuvisieren, was, wie Sokrates sagte, eine wundersame Liebe im Herzen des Menschen erweckte. Im Gegensatz dazu beruht die Schönheit der spekulativen Wissenschaften und der edleren Künste eigentlich und geradezu auf dem Wahren. Und dieses Wahre, wenn es schön ist und vom Verstand herkommt, erfreut und entzückt ihn auf sanfte Weise.

Um diese Lehre besser zu verstehen, müssen wir uns beim schönen Neuen daran erinnern, daß das Wahre und das Gute die zwei endgültigen Zwecke sind, zu denen die Begierden unseres Verstandes wie unseres Willens natürlich streben. Die Sehnsucht ist das erste Vermögen des Wissens in uns oder außer uns. Die andere Potenz ist, das zu erzielen, was die glückliche Güte für uns ausmacht. Nie werden diese wertvollen Begierden ruhen, wenn wir es nicht schaffen, die Erscheinung Gottes zu genießen, das heißt die Glückseligkeit, inder das höchste Wahre und das summum bonum vereint sind. Aber da in der gewöhnlichen Bindung an den Körper und die schlecht geborenen Affekte viele Hürden liegen, müssen wir den ganzen Tag diese beiden Hindernisse zu unterbrechen suchen, wiewohl sie für die Seele natürlich sind. Gott hat mit der Schönheit, die dem Wahren und Guten auferlegt ist, größtenteils der natürlichen Neigung unserer Seele helfen wollen. Wenn man das Vergnügen in der Betrachtung und Umarmung des Schönen prüft, dann geht man die Suche dieses Wahren und Guten, die an das Schöne geknüpft ist, umso mutiger und bereitwilliger an. Es ist die Natur, die zur verstärkten und angeregten Erhaltung des körperlichen Lebens die Nahrung, auf die wir durch die angeborene Begierde gestoßen werden, für die Tugend bereitstellt, indem sie mit Geschmack vergnügt. Deswegen ist eine solche Vergnügung so beschaffen, daß wir umso angespornter darauf aus sind, das Leben zu erhalten. Da wir aus Schuld unserer ersten Vorfahren hier unten sind, ist das Wahre von viel Finsternis und endloser Lüge umzingelt. Und da ebenfalls die guten, ehrlichen Streiter mit zahllosen anderen nicht ehrlichen befasst sind, hat Gott es gewollt, daß das Schöne den Gütern und den Wahrheiten aufdrückt ist, und zwar derart, daß jeder gesunde Verstand gut die einen unterscheiden und jeder Wille unter Mithilfe seiner stärksten Anmut die anderen begehren und lieben kann. Wenn wir aus Schwäche oder Vorsicht bei den uns beherrschenden Gefühlen, die schon einmal den Verstand blenden können, nicht das Schöne erkennen, wie es mit dem Wahren umhüllt ist, dann suchen wir nicht nur das Vergnügen am Wahren, sondern verderben es mitunter auch. Das kann man immer wieder in den spekulativen Wissenschaften bemerken. Es sind diese zweifellos sehr schön. Und doch ist ihre Schönheit bei der Mehrzahl der Menschen nicht so bekannt. Wenige schwitzen, um sie zu erreichen. Wenn ihre Schönheit einmal verstanden wird, dann verzeiht unsere Seele jede Mühe in der unterhaltsamen Eroberung. Dasselbe kann vom Guten gesagt werden. Wir bleiben oft bei den kleineren Gütern stehen, weil wir noch nicht dazu gekommen sind, die Schönheit der größeren zu verstehen, und weil jene für wen auch immer fortgesetzt auf die Probe stellen, wie sich an zahllosen Beispielen sehen läßt.

Gesetzt, wir verwenden unseren ganzen Eifer darauf, das Schöne zu betrachten, das hauptsächlich auf dem Wahren beruht und das unseren Verstand entzückt. Nicht das erscheint sonderbar, denn, so wie wir es sagen, ist die Schönheit der spekulativen Wissenschaften auf das Wahre gegründet. Obwohl die Poesie nicht das Privileg hat, zu den Wissenschaften gezählt zu werden, ist sie doch immerhin eine der edelsten Künste, die nicht weniger wie jene Wissenschaften zum Verstand spricht. Wenn sie schön ist, dann hat sie auch die Tugend, uns außerordentlich zu erfreuen und zu entzücken. Es läßt sich in ihr wohl ein Teil des Schönen finden, der dem Sinn des Gehörs angehört: die Harmonie und die Musik des Verses. Aber die so gemachte Schönheit ist ein oberflächliches Ornament, das wohl für die schöne Poesie notwendig ist, aber es nicht wirklich schafft, innerlich schön zu sein. Also ist die wahre und wesentliche innere Schönheit der Poesie jene, die der Verstand kennt und schmeckt. Beim Hören sowie beim Lesen eines schönen Gedichts zeigt sich unserem Verstand ein einzigartiges Vergnügen. Dieses entspringt aber nicht der Erkenntnis der Schönheit, mit der das innere Wahre des Gedichts nur geschmückt und verhüllt ist. Dennoch suchen wir danach, worin diese innere Schönheit der Poesie besteht, woher sie kommt und wie sie sich von der Schönheit der anderen Künste und Wissenschaften unterscheidet.

Natürlich bewegt sich unser Verstand, um das Wahre zu suchen. Und alle Dinge, alle Reiche der Natur sind ihm eigene Gegenstände, sofern sie das Wahre und das Falsche enthalten. In der Erkenntnis des Wahren empfindet er Vergnügen, dazu im Gegensatz flüchtet er das Falsche (und besänftigt es),weswegen jene Erkenntnis mit der Natur übereinstimmt, die als Bild Gottes zur Weisheit neigt und daher sich dem Falschen entgegenstelt. So mißfällt es, betrogen zu werden und in unseren Erkenntnissen zu irren, wenn wir von Natur aus als Nichtwissende ins Falsche hineintappen. Deshalb bemühen wir uns, das Wahre zu verstehen. Es ist eine äußerst süße Weide. Auf ihr gehen wir unaufhörlich den Spuren nach. So sagt Aristoteles den recht bemerkenswerten Satz, daß alle Menschen von ihrer Natur her zu wissen begehren . Und Tullio im Buch der Ufizi: Locus, qui in veri cognitione consistit, maxime naturam altingit humanam; omnes enim trahimur et ducimur ad cognitionis et scientiae cupiditatem, in qua excellere pulchrum putamus: labi autem, errare, nescrire et decipi, et malum et turne ducimus. Es gefallen uns also nicht die Sophismen, die Lügen, die Täuschungen und alle anderen Arten des Falschen, die dem Verstand zum Betrogenwerden gegeben werden. Sie gefallen uns nicht, weil sie uns zu Nichtwissenden machen oder uns als solche hinstellen. Und wenn sie uns manchmal auch gefallen, so erscheint es uns nur so, so werden sie nur unter dem Schein des Wahren vorgestellt. Wird dieser Schein des Wahren abgezogen, so zeigt sich mit Falschheiten hineinpfuschen. Der Verstand hat besser den Genuß des Aufdeckens von Betrugs und Falschem als den des Irrens oder Betrogenwerdens. In derselben Weise, wie der Wille nicht irgend einen Gegenstand mit Geschmack umarmt, außer wenn er unter die Form des Guten fällt, so umarmt der Verstand auch nicht irgend einen Gegenstand, es sei den in der Form des Wahren.

Zwei Ursachen machen also bisweilen aus, daß das Wahre einen nicht umgibt und entzückt. Die eine kommt von der Seite des Verstands selber, die andere vom Wahren. Wenn der Verstand verdorben oder nicht gut geregelt ist, wenn er leicht, von dummen Meinungen voll ist und wenn er von lasterhaften Mächten fortgerissen wird, dann gefällt das Wahre nicht, auch wenn es sehr schön ist, und es erreicht schließlich immer nur Mißfallen. Ebenso wenn das Wahre schlecht verhüllt ist, dunkel, rauh, schwierig zu erfassen, trivial, das heißt wenn es nicht irgend welche Empfehlungen der Schönheit mit sich trägt, dann geschieht wohl oft, daß es unserem Verstand kein Wohlgefallen vermittelt. Wenn der Wille ungesund, verdorben oder an unterste oder unehrenhafte Güter verloren ist, dann läßt er sich nicht dazu bewegen, den größeren oder ehrenhafteren zu folgen. Oder es gefallen ihm die besseren Güter nicht, weil sie nicht als Schmuck am hellen Anzug der Schönheit erscheinen. Wenn ich mir also ausmale, um jetzt mit gesunden und nicht von falschen Meinungen voreingenommen zu reden, so finde ich eben nur heraus, daß es das Schöne ist, mit dem sich das Wahre schmückt.

Ich sage, daß das entzückende Schöne, das den menschlichen Verstand mit Lieblichkeit bewegt, nichts anderes ist als ein Licht und ein glänzendes Aussehen des Wahren. Dieses Licht und Aussehen, falls es dazu gelangt, unsere Seele zu erleuchten und mit Süße die Unwissenheit zu verjagen (das heißt eine der schwersten Strafen, die uns unser erster Vater vererbt hat), verursacht in uns süßestes Wohlgefallen. Es besteht dann dieses Licht in der Kürze oder Klarheit oder Einsicht oder Energie, Neuheit oder Ehrlichkeit, Nützlichkeit, Großartigkeit, Proportion, Anordnung, Wahrscheinlichkeit und in anderen Tugenden, die das Wahre begleiten können und mit welchen es unserem Verstand vorgestellt wird. Erzählt man ein Ereignis, behandelt man irgend einen Punkt einer Wissenschaft, einen Satz, eine Reflexion (wenn diese Wahrheiten dem Verstand einleuchten) als neu, klar, ehrlich, kurz oder mit anderen ähnliche Eigenschaften, so werden sie alles in allem gefallen. Es kann sein, daß sich einer ehrlichen Person irgend eine der häßlichen und ekelhaften Beschreibungen anbieten, mit denen manche aus der Marinischen Schule die rohen Handlungen der Menschen geschildert haben. Dennoch wird das, was sich an ihnen als wahrerkennen läßt, nicht gefallen, weil ein solches trockenes Wahres nicht das schöne Licht der Ehrlichkeit trägt, weil es der gesunde Verstand verdirbt, wohl wissend, daß es verletzt werden kann. Zugleich wird mancher darauf von Dante im vierten Gesang des Fegefeuers lesen, und zwar die folgenden Verse:

Quando per dilettanze, o ver per doglie,

Che una virtù nostra comprenda,

L'anima ben ad essa si raccoglie,

Par che a nulla potenzia più intenda:

E quest'è contra quell'error che crede

Ch'un'anima sovr'altra in noi s'accenda.

Um nicht mit dem süßen Glanz der Klarheit umhüllt zu sein oder weil die Vorstellung schwierig und exakt wäre, bietet auch diese Wahrheit fürs Abenteuer keinen Genuß. Es sind andere Wahrheiten, die uns manchmal gefallen würden, sei es, weil sie sich als unnützlich erweisen, oder weil sie nicht neu, dunkel oder unwahrscheinlich sind, sei es, weil sie nicht das Trockene irgend einer der anderen Wahrheiten haben, von welchen wir gesagt haben, daß in ihm das Licht und der Aspekt (also die Schönheit) des Wahren besteht. Der Wahrheit mangelt an Schmuck jenes liebenswerten Glanzes, in dem sie sich nicht erblicken läßt, wie anziehend und natürlich die Kraft des Ergötzens der Verstande auch sei. Denn wenig wiegt jetzt zu wissen, daß diese Schönheit das Innen oder Außen des Wahren sein kann und daß der von der Vernunft gemäßigte Wille, so verdorben er nur sein mag, so sehr er auch mit Verstand verkleidet zu sein pflegt, bisweilen Gefallen oder Mißfallen am Wahren findet. Befreien wir uns doch zu den notwendigeren Erkenntnissen, die genügen um zu wissen, daß die Wahrheit auch das größere oder kleinere Schöne hat und haben kann und daß ein solches Schönes jenes ist, das entzückt und von unserer Seele Besitz ergreift. Wegen ihr die Wahrheit der christlichen Religion erscheint, dann ist das Erscheinen des Heiligen Augustinus den heiligen Märtyrern so liebenswert, daß selbst der Tod bei ihnen stark war, dem sie durch aufrechte Haltung begegnen. So sagt er in der neunten Epistel: Incomparabiliter pulchrior est Veritas Christianorum, quam Helena Graecorum. Pro ista enim fortius Martyres nostri adversus hanc Sodomam, quam pro illa mille Heroes adversus Trojam, dimicaverunt.

Alle Wissenschaften suchen, wie oben gesagt wurde, direkt oder indirekt ein gewisses Wahres. Unter den spekulativen Wissenschaften, die grundsätzlich das Wahre bezwecken, sucht und bezeichnet die Theologie das übernatürliche Wahre. Von der kontemplativen Mathematik läßt sich das abstrakte Wahre der Körper, Figuren, Zahlen und Klänge betrachten, von der Physik das Wahre der geschaffenen Natur. Die praktischen Wissenschaften, also die Moraltheologie, die Philosophie der Sitten, die Jurisprudenz, die Politik, die Ökonomie, sie suchen das Wahre der Sitten und der Handlungen, denen, ob gut oder böse, der menschliche Wille folgt oder die er flieht, um sich selbst oder die anderen gut zu beherrschen. Ebenso machen es jene edlen Künste, die zum Verstand sprechen, welche da sind die Rhetorik, die Geschichte, die Poetik. Auch sie haben das Wahre zum Gegenstand. Aber welches Wahres mit dem Guten auch verknüpft ist, welches Wahres dem Willen auch nützt - , sie sind, wie ich gleichfalls gesagt habe, die Töchter und Gesandten der Moralphilosophie. Mit Eloquenz überredet das Wahre, mit Geschichte beschreibt es, wie es geschehen ist, die Dichtung, wie es mit Wahrscheinlichkeit eintreten könnte oder sollte. Aber da nun einmal von uns gesagt wurde, daß die Dichtung unseren Seelen ebenso Vergnügen wie Nutzen verleiht, fügen wir jetzt hinzu, daß das Vergnügen dem poetischen Schönen entstammt, das auf dem Wahren beruht, und daß derNutzen vom Guten herrührt, das mit dem Wahren verknüpft ist. Das eigentliche Wahre der Dichtung, das mit der zu ihm passenden Schönheit geschmückt ist, vergnügt den Verstand, und das Gute, das am Sein Anteil hat und das mit diesem Wahren verheiratet ist, nützt dem Willen. Obwohl dann die Metaphysik zeigt, daß das Wahre und das Gute dasselbe sind, so unterscheiden wir doch noch lieber das eine vom anderen. Und an diesem bestimmten Ort allein, für den die Abhandlung des Guten und des Nutzens aufgespart ist, der von der Dichtung kommt, unternehmen wir es jetzt, das poetische Wahre und die Schönheit zu betrachten, die auf ihm beruht und von dem im eigentlichen Sinn das Vergnügen herrührt.

Zweitens kann dem System der menschlichen Natur gemäß unser Verstand nicht vergnügen, wenn er nicht von der Erkenntnis des Wahren herkommt oder von der Ähnlichkeit oder Ebenbildlichkeit des Wahren. Also paßt es zu sagen, daß auch die Dichtung durch das Wahre vergnügt oder auch nur durch ihre Ebenbildlichkeit oder Ähnlichkeit. Und weil das Wahre nicht, ohne schön zu sein, zu vergnügen pflegt, ist die Dichtung auch verpflichtet, das Wahre so zu verwenden und darzustellen, als ob es schön wäre. Aber, noch genauer gesagt, wie wahr, wie schön wird dieses denn sein? Zum ersten sagen wir, daß das eigentliche Wahre der Dichtung ganz dasjenige ist, das in den drei Welten oder Reichen geschildert, nachgeahmt und mit Bildern für die Augen des menschlichen Verstands dargestellt werden kann. Um diesen Satz besser zu erklären, hat man anzunehmen, daß angemessenerweise alle geschaffenen oder ungeschaffenen Wesen - also alles, was in der Natur der Dinge oder drei Welten war, ist oder sein wird - die Stimme der Welt für eine Einheit vielen Schmucks annehmen. Die erste Welt ist der Himmel; die zweite das Menschliche ; die dritte das Materielle. Unter materieller Welt, die auch die untergeordnete Welt genannt werden kann, verstehen wir alles, was von Materie oder vom Körper gebildet ist wie die Elemente, die Sonne, die Sterne, die menschlichen Körper, die Blumen, die Edelsteine und alles, was der Prüfung unserer Sinne anheimfällt. Die himmlische Welt, die auch die übergeordnete Welt genannt werden kann, umfaßt alles, was ohne alle Körper und Materie ist, also der Dinge erste Ursache, Gott, die Engel und die menschliche Seele, die von den Fallstricken des Fleisches losgelöst ist. Die menschliche Welt schließlich, die die Welt der Mitte genannnt werden kann, hat am Übergeordneten und Untergeordneten teil und umfaßt alles, was der Körper gleichermaßen wie die Seele an Vernünftigem an sich haben, also alle Menschen, die auf der Erde pilgern und in die materielle Welt eingeschlossen sind. Diese drei Welten oder Reiche der Natur enthalten eine Unendlichkeit von Arten und verschiedenen Wahrheiten. Und gerade diese Wahrheiten sind alle Gegenstand und Thema der Dichtung oder können es alle sein. In der Mathematik, der Physik betrachten wir, wie gesagt wurde, nur jene Dinge der materiellen Welt, von der Theologie jene des Himmels, von der Moralphilosophie jene des Menschen. Doch die Dichtung kann alle Wahrheiten dieser drei Welten behandeln. Mit ihr kann die übergeordnete Welt dargestellt werden, das heißt die Natur, die Größe, die Gnade, die Gerechtigkeit und tausend andere Gaben unseres Gottes, seine Glückseligkeit, die den ausgewählten Seelen im Himmel erscheint, die Weise, mit der er sich den Menschen und den Körpern vermittelt, das heißt den anderen zwei Welten. Es kann die Dichtung die Wahrheiten der Welt der Mitte beschreiben, indem sie die Handlungen, die Sitten, die Gedanken, die Empfindungen, die Tugenden und die Gefühle der Menschen darstellt. Sie kann schließlich in der materialen Welt alle Wahrheiten der himmlischen und irdischen, einfachen oder zusammengesetzten, natürlichen oder künstlichen Körper schildern. Hauptsächlich deshalb pflegt sie die Handlungen, die Sitten und Empfindungen des Menschen zum Thema zu nehmen, das heißt die Wahrheiten der Welt der Mitte.

Soweit das Thema oder der Gegenstand, wie sie der Dichtung zugestanden werden, die Dichtung von den Wissenschaften unterscheidet, dient dem Thema an jeder der Eigenschaften ein einzelner Teil dieser unendlichen Wahrheiten. Dagegen fallen alle unter die Rechtssprechung des Dichters, wenn sie sich nicht irgend ein Weniges nehmen, von dem wir noch sprechen werden. Deshalb unterscheidet sich zuletzt die Dichtung vor allem von den Wissenschaften. Die Wissenschaften betrachten das Wahre, um zu wissen und um zu verstehen, während die Dichtung es betrachtet, um nachzuahmen und zu schildern. Jene forschen, um zu erkennen, diese, um das Wahre darzustellen. Jetzt verstehen wir am Darstellen, Nachahmen und Schildern - mit welchen Handlungen das Wahre sich sozusagen mit Bildern umgibt oder in Empfindungen wie vage, sinnlich, neu, klar, evident oder passend an Wortwahl auch immer ausdrückt - , daß der Verstand besonders durch die Phantasie mühelos und mit besonderem Genuß es versteht und uns manchmal scheinen kann, als ob das Wahre gesehen wird. Wir nennen das das Schildern und Nachahmen der Handlung, mit welcher ein Maler an Farben und Schatten im richtigen Verhältnis eine Sache in der Weise kleidet, daß das Auge angeregt wird, die Sache selbst in jener Ebendbildlichkeit zu sehen. Was der Maler mit seinen Farben für das äußere Auge des Körpers macht, kann vom Dichter auch mit den Bildern für das innere Auge der Seele getan werden. Beide schildern, beide ahmen die Gegenstände nach, mit dem Unterschied, daß der Maler nichts anderes malen kann als das, was er sieht, also einen Teil der untergeordneten Welt, während der Dichter auch die Dinge malen kann, die nicht unter die Sinne fallen, mit einem Wort alle Gegenstände, die in den drei Welten oder Reiche der Natur enthalten sind, wenn sie nur fähig wären, gemalt zu werden.

Diese Nachahmung, dieses Schildern und Darstellen sind gerade das Wesen der Dichtung. Und aus diesem Grund ist sie Kunst, nicht Wissenschaft, verstanden als Nachahmung des Wahren, während die Wissenschaften verstehen, um zu wissen und zu erkennen, ohne sich um das Nachahmen zu sorgen. Wenn auch die Wissenschaften das Wahre mit Worten allem Verstand beschreiben und darstellen, dann schildern sie es deshalb noch nicht. Dieses Darstellen ist nicht ihr Wesen, sondern ein Werkzeug allein, um das Wahre jenen zu vermitteln, die suchen, kennen oder wissen, in welchem Wissen sein Wesen besteht. Aber die Dichtung, wie wir gesagt haben, hat jenes Beschreiben selbst zu ihrem Wesen, jenes Schildern und Nachahmen des Wahren. Daraus folgt, daß Wahrheiten, die nachzuahmen oder aller Phantasie zu schildern unmöglich ist, den Dichtern nicht angemessen sind. Es sind gewöhnlich die Wahrheiten der spekulativen Mathematik, der Metaphysik oder der Arithmetik, die so abstrakt sind, daß der Dichter sie nicht einmal dem rohen Volk mit sinnlichen Bildern und verständigen Worten schildern, darstellen oder nachahmen kann. Wenn wir mit dem Verstand der anderen durch Worte kommunizieren und mit dem Blick durch Zahlen und Linien, dann können wir es nicht durch Schildern, durch Einkleiden in jene Farben, die die Dinge für die menschliche Phantasie sichtbar machen.

Nachdem wir auf den Unterschied hingewiesen haben, den es zwischen dem Thema der Wissenschaften und der Dichtkunst gibt, müssen wir noch kurz jenen ansprechen, der durch die Poetik und die anderen beiden edlen Künsten geht, also die Redekunst und die Geschichte. Auch diese stellen nicht weniger als die Dichtung das Wahre dar. Aber die einen schildern es, um zu überreden, während die anderen es immer schildern, wie es ist, um immer zum Zweck anzuleiten und den Nutzen daraus zu ziehen. Im Gegenteil, die Dichtung schildert zum einen das Wahre und stellt es dar, wie es ist oder zumindest wie es hätte sein müssen oder werden können. Zum anderen schildert sie direkt mit dem Zweck zu schildern, nachzuahmen und mit dieser Nachahmung Vergnügen zu bereiten. Dabei erfüllt sie die Phantasie mit den schönsten, fremdesten undwunderbarsten Bildern. Nachdem wir diese Grundlagen errichtet haben, nähern wir uns wieder mehr dem, die Dichtung selbst anzusehen und die Gaben des poetischen Schönen abzustecken.

(c) Peter Mahr 2000

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