mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.2/Juni

Miszelle

9. Akustische Attacken, Ästhetik-Kommissionen . 2400 Zeichen.

Badinerie, Toccata, Strangers in the Night; die versuchsweise Beschallung von Wiener U-Bahnsteigen mit klassischer Musik; im Radio die Unterlegung von Wortstrecken mit Musik (die Musizierung, Orchestrierung, Harmonisierung, Melodisierung von Motoren) - all das macht die neulich zunehmenden Eingriffe in die offenen oder halboffenen Klangumgebungen aus. Was nun die individualisierend akustische Duftnote, was den gutgemeinten Werbe-, Erziehungs-, Antikommerzeinsatz sowie die dekorativ gemeinte Unterlegung von Rede vereint (die Message: es würde uns ja langweilig werden, wenn wir jemanden zuhörten!), ist der Eingriff in den seelischen Innenraum, der die moderne, bislang moderat gehaltene oder haltbare Klangstrukturschwelle zu überschreiten im Begriff ist. Laute Straßen und Fabriken, leise Hintergrundmusik in Restaurants, Kaufhäusern und anderen halböffentlichen Bereichen mögen noch zu einer Anpassung geführt haben, worauf eine Musique d'ameublement, die Music for Airports oder Komponisten wie John Cage reagierte. Doch Handysignal, öffentliche E-Musik und Redehintergrund stören nicht im gewöhnlichen Maß. Hier wird die innere Stimme unterlaufen, besetzt, ausgehebelt. Jene mehr als begleitenden Stimmen halten einige Minuten länger unsere Aufmerksamkeit fest, mögen öfters noch am selben, vielleicht noch nächsten Tag einfallen und belegen so die Melodien eigener Tätigkeit oder Erinnerung. Auch artikulierte "U-Bahn"-Musik wie Brahms' Vierte greift ein in die inneren Stimmen des Nachdenkens, Sichsammelns, Lesens oder vielleicht sogar ins Kommunizieren, während wir auf den nächsten Zug warten. Und noch für weniger Musikalische oder Empfindliche ist es schlicht eine Beleidigung, wenn selbst bei semantisch mäßig konzentrierten Nachrichten der oft noch unverhältnismäßig laute Hintergrund die simultane neuronale Verarbeitung schneidet. Das alles sind nur wenig merkliche Attacken auf den inneren akustischen Haushalt, auf die musikalische Binnenstruktur unserer individuellen Atmosphäre. Grenzen der Ästhetisierung werden deutlicher. Es könnte sein, daß mit den neuen Handy-Hörapparaten die anästhesierenden Funktionen des Walkman stärker in den Vordergrund rücken, daß allgemein ein nächster Schub kultureller Evolution ansteht. Sollten je Ästhetik-Komissionen einberufen werden, dann werden daran wohl Humanmediziner und PsychökologInnen ebensosehr teilnehmen wie ÄsthetikerInnen - was immer auch die politische und juristische Agenda einer solchen Komission sein kann und soll. Was das für die theoretische Ästhetik bedeutet, ist noch nicht auszumalen. Auch hier könnte das 17. Jahrhundert ein Comeback feiern. Regelpoetik, mir graut vor dir! Aber was wäre die Alternative?

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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