mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.2/Juni

Miszelle

8. Die Aufhebung des Fahrrads. 2512 Zeichen.

Da, ein Kinderluftroller, 60er Jahre, abgesperrt wie die "Großen", am Fahrradbereich eines Parkstreifens in Berlin Lichterfelde-West - seit einer Ewigkeit nicht gesehen! Doch ist im März 2000 das allgemeine Ereignis der Micro-Scooter, ein zusammenklappbarer Chrom-Roller für Erwachsene. Natürlich ist computergestütztes Design am Werk. Dabei handelt es sich weniger um cartesianische Orthogonalität der Figur, welcher die raffiniertesten Kurven anverwandelt werden können, wie die Autos der letzten Jahre bezeugen. Suggeriert wird vielmehr das Spielerische eines frühen MacIntosh-Programms, eine Figur, die von Kindern aus drei Streichhölzern gebildet wird. Der Spielraum von CAD zeigt sich - neben der jüngst gewonnenen Spiegelfähigkeit simulierter Objekte - wie ein Narzißmus des Objekts. Die Ironie der 80er Jahre findet eine Fortsetzung. Was mit Jeff Koons's aufblasbarem Bunny in Edelstahl begann, wird nun ein Objekt-in-Aktion. Genau genommen haben wir es mit einer stattlichen, aufstellbaren Fahrradpumpe zu tun oder einem Sprengstoffkatapult, beides Metonymien des Abhebens, des In-die-Luft-Gehens. Sodann eine Metapher: als ob sich das Objekt selbst aufbliese. Wundert es noch, daß dieser Blindgänger gerade nicht mit aufblasbaren Rädern ausgestattet ist? Schweben wir doch angeblich schon in der Luft, wie wir ohnehin schon mühelos durch den urbanen und den digitalen Raum surfen! Auch an der Disproportionalität der Teile im Vergleich zu den gewohnten Fahr-Rädern - die schwarzen Schaumstoffgriffe drei Mal so groß wie die Räder des Micro-Scooters, die kantig stählerne Stehfläche wie von einer Industrieleiter genommen - fällt die Hybridisierung auf. Sie bezieht sich auf die letzten dreißig Jahre Bicyclität, von der Klappbarkeit der Weekend-Räder der 70er Jahre, über die silbrigen motocrossgeeigneten Schüler-BMX der frühen 80er Jahre, den Roller-Skate-Rädern, der Bike-Griffkultur der 90er Jahre, dem eher selten anzutreffenden "Erwachsenen"-Steh-Fahrrad der jüngsten Zeit. Genau, für Erwachsene planend spekuliert der Produzent auf Kinder als die zweite, kommerziell wahre Zielgruppe. Zunächst waren ja junge Anzugträger mit dem mobilisierenden Accesoire zu sehen. Sie wollten die spiegelglatten, weiten, von marginalen Gruppen als ästhetische Störung befreiten Fluchten von Bürogebäuden, Shopping-Malls und öffentlichen Verkehrsbereichen schneller überqueren. Sie wollten ihre Fahrhilfe in den Kofferraum oder den Backbag stecken können, wenn ein Wachorgan dem über das absichtlich zu niedrig dimensionierte Gefährt infantil Gebückten das Fahren untersagte. Nun holpern vorwiegend die Kinder über die Gehsteige und Straßen. Eine Deklassierung, Pauperisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe durch Waren, die teuer genug sind. Und ich habe noch gelitten, als mir mein Vater damals keinen Luftroller kaufte!

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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