mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.1/März

Rezension

9. Rosalind Krauss, "A Voyage on the North Sea". Art in the Age of the Post-Medium Condition, = Walter Neurath Memorial Lectures 31, London: Thames & Hudson 2000, 64 S., £ 7.95. 9851 Zeichen

Zwar liegt nur ein schmales Bändchen vor uns, und das wird noch in seinem Schriftraum von 45 minutiös gesetzten Illustrationen beschnitten. Und doch erscheint Rosalind Krauss's Lecture so umfangreich wie eine gehaltvolle Abhandlung mittlerer Größe. Krauss mag das von ihr selbst gewählte Thema als eine Herausforderung verstanden haben. Ist es doch der langjährige Mitstreiter in Sachen gesellschaftlich wie methodisch avanciert kritischer Geschichte der Kunst und zwar vornehmlich der nahezu zeitgenössischen gewesen, Benjamin B. Buchloh nämlich (vor wenigen Jahren ans vis à vis der Columbia University gelegene Barnard College berufen), der sich als einer der ersten mit dem Künstler von "A Voyage on the North Sea" beschäftigte. Doch genauer gesagt besteht der challenge mindestens so sehr in der Konzentration auf eine theoretische Struktur, an der Krauss selbst mehr oder weniger unaufhörlich seit fast 40 Jahren arbeitet.

In Tuchfühlung mit der Philosophie. Denn in diesem Essay beschäftigt sich Krauss mit nicht weniger als dem, was ein Medium überhaupt ist. Es war Maurice Denis, der 1890 sagte, daß ein Gemälde nichts weiter als eine in bestimmter Ordnung mit Farben bedeckte Oberfläche ist. Struktural gefaßt, läßt sich daran die rekursive Struktur von Medien hervorheben. Weiters ist ein Medium auch ein Genre. Von Cavell übernimmt sie denjenigen Aspekt technischer Träger, dessen in Gang gesetzter Automatismus eine Improvisation erlaubt. Musikalisch gesprochen, geht es nicht um die Improvisation einer Fuge, sondern einer musikalischen Bewegung innerhalb gelockerter Konventionen. Diese Konventionen sind auf Trägern enthalten, in Trägern geschichtet. Sie stellen sich einmal mehr als gemacht und nicht als gegeben heraus. Die Minimaldefinition von Medium lautet für Krauss daher: Einige Elemente der Struktur erzeugen die Regeln, die die Struktur herstellen. Medien, so betrachtet, gehören zu einer kritischen Postmoderne, insbesondere was ihre Möglichkeiten als Institutionskritik und Ortsbezogenheit betrifft.

Die Postmoderne paraphrasierend setzt Krauss zu einigen "Gegen"-Erzählungen an. Gegen Frank Stellas geforderte Flachheit der Malerei, gegen Donald Judd's "Specific Objects" wendet sie ein, daß Medien als spezifische verkürzt werden, das heißt verdinglicht, indem sie auf ihre physikalische Eigenschaften reduziert werden. Wie Krauss kurz an Joseph Kosuth's Stellung zu Judd zeigt, war diese modernistische Reduktion aber gar nicht spezifisch, sondern allgemein intendiert. Denn mit dem Zusammenbruch des Unterschieds von Malerei und Skulptur in den 1960er Jahren habe sich gerade nicht das spefische Besondere der Kunst, sondern ihr allgemeiner Charakter einer Kunst-als-Kunst-als-Idee gezeigt, wie dies Kosuth schließlich zur Strategie der Konzeptkunst erheben sollte.

Dagegen nun hält sie an dem belgischen Künstler Marcel Broodthaers (1924-1976) die Idee der Intermedialität von Bild und Text, von high und low sowie die Verschränkung der Ebenen Werbung und Kunst in Kunstmagazinen fest. Damit sind Intermedia von vornherein nicht nur auf das Zwischen von Bild und Text, sondern ebensosehr auf die Verquickung von Information und Markt bezogen. So verwendet Broodthaers, der in der Gegenwartskunstausstellung documenta x von1997 einen wichtigen Platz einnahm, nicht nur alle materiellen, mobilen Träger wie Bilder, Worte, Videos, Ready-Mades und Filme, sondern auch gezielt verschiedene Orte wie die Kunstzeitschrift, die Messekoje oder den Museumsraum. Krauss geht so weit, mit Broodthaers berühmten Adler-Arbeiten, etwa dem "Museum Moderner Kunst, Adler-Abteilung, Abschnitt Figuren (Der Adler vom Oligozän bis zur Gegenwart)" von 1972 kritisch ein Adler-Prinzip aufzustellen, demzufolge heute die Kunst wesentlich eine Installationskunst ist, Kunst in einem alle Grenzen der Medien verwischenden, postmedialen Zeitalter, eine Kunst, die wesentlich medienunspezifisch geworden ist.

Daran ist die zweite Erzählung geknüpft, die vom Einfluß der Portapak-Kamera handelt, jener handlichen Kamera, die in den frühen 70er Jahren eine ebenso narzißtische wie theoretisch inhomogene Videokunst auf den Weg gebracht habe. Dazu gehört für Krauss auch der Hinweis auf die Aktivitäten des New Yorker Film Anthology Archives mit Filmern wie Michael Snow, Hollis Frampton und Paul Sharits, die den Film als Aggregatmedium analysierten, während zur gleichen Zeit die Apparatus-Theorie den Film als einen Zusammenhang von Streifen, Kamera, Projektor, Lichtstrahl, Leinwand und Zuschauer begriffen. Krauss' erweitert daher ihre Definition von Medium, und zwar im Anschluß an Richard Serras Feld-Konzeption, derzufolge nach Jackson Pollocks Übersiedlung der Leinwand von der Wand auf den Boden - in Entsprechung zur Kippungsoperation für Ready-Mades - die Kunst die Vektoren zu artikulieren habe, die die Gegenstände mit den Subjekten verbinden. "Denn um künstlerische Praxis aufrechtzuerhalten, muß ein Medium eine tragende Struktur sein, generativ für eine Gruppe von Konventionen, von denen einige, indem sie den Charakter des Mediums selbst zu dessen Gegenstand erheben, zur Gänze medienspezifisch sein werden und somit eine Erfahrung ihrer eigenen Notwendigkeit produzieren." (S.26, Hervorhebung P.M.)

Nach einem knappen Abriß des Topos der Optikalität in den 1960er Jahren, die von Clement Greenberg als Medium der bildenden Kunst vorgeschlagen wurde, kommt Krauss zu einem dritten Punkt. Wenn es kein reines Genre (Derrida), kein reines Eigenes im property gibt, dann ist nicht nur das Ende der Trennung der Fakultäten erreicht, sondern auch eine interdisiplinäre Arbeitsweise gefordert.

Viertens erzählt Krauss, in Erläuterung der Figur des Sammlers, Broodthaers' Version der Umkehrung des Historismus des 19. Jahrhunderts, wie sie in Fluxus, Situationismus, aber auch im Kapitalismus anzutreffen ist. Es sind die Filme von Broodthaers ebenso wie die der Jahrhundertwende um 1900, die in einer Entsprechung zur Arbeit von Michael Snow zu sehen wären. Somit gilt es, gegenüber dem strukturalistischen Film das selbstdifferenzierende Medium als eine Schichtung von Konventionen hervorzuheben. Und es gilt angesichts des Komplexes der postmedialen Bedingung (Intermedia und Ende der Kunst) festzuhalten, daß das Kunstwerk unter der Reproduzierbarkeit der Reproduktion dieser immer ähnlicher wird und das Merdienspezifische verliert (wobei Fiktion/fiction als Meistermedium). Was Benjamin an der Photographie einklagt, Erlösung, gelte bei Broodthaers auch gegenüber dem Film. Baudelaires La Beauté werde im selben Zug durchgestrichen, wie Mallarmés Erfahrung sich als Quelle der modernen Kunst, des modernen Raums, des modernen Klangs herausstellt. Das führt Krauss schließlich zur Interpretation von "A Voyage on the North Sea" 1973/74, in welcher Arbeit Broodthaers unter anderem einen Film als ein Buch mit Seitenzahlen vorführt. Somit ist schon angedeutet, daß "Neue Medien" wie etwa Roboter und Computer altmodisch gewordene Medien als komplexe überhaupterst einmal zu begreifen erlauben. (Auch hier geht es um Fiction, um das Künstliche, in das die Erfahrung eingelagert ist, wie Krauss andeutet.)

Was Krauss wie aus dem Hemdsärmel geschüttelt vollzieht, sind theoretische Spekulationen, wie man sie sich in solch einer locker geknüpften Weise nur öfter wünschen kann. Es gibt den theoretischen Essay. Er ist eine Gedankenskizze, die wie ein Forschungsprojekt ausgeführt werden könnte oder punktuell schon ausgeführt wurde. Es ist wie die frei schwadronierende Lektüre, in deren Rausch wir von einem Buch in der Hand zum nächsten kommen und eine Reise durch unsere Buchsammlung unternehmen. Doch Krauss bleibt darin ihrer Disiplin treu. Und was gibt es Schöneres, als eine theoretische Konstellation, wie bei Adorno, an einer Arbeit oder einem kleinen, dafür aber sich als bedeutsam erweisenden Werkkorpus zu entfalten?! Was verhälfe besser einem Werk zu seiner immanenten Kritik als eine theoretisch rekonstruktive Kontextualisierung, die wie vom Standpunkt der Gegenwart unternommen ist?

Kraus schließt ihre theoretisch komplexen Ausführungen mit einer Bezugnahme auf Frederic Jameson. Dieser hat die Bildsättigung durch Werbung, ja insgesamt der Kommunikationsmedien bis hin zum Cyberspace als eine allgegenwärtige ästhetische Erfahrung kritisiert, für die es kein individuelles Kunstwerk, keine ästhetische Autonomie mehr gibt. Diese Erfahrung ist geradezu identisch mit dem Leben, der Wahrnehmung als solche geworden. Daraus läßt sich eine postmoderne Empfindung ableiten, für die es keine ästhetische Sphäre mehr gibt. Diese Sphäre läßt sich nun mit den erworbenen kategoriellen Mitteln präzisieren. Und schon setzt Krauss auf Künstler wie William Kentridge oder James Coleman, bei denen eine differentielle Spezifizität gewahrt sei, die das Medium als solches abgibt (wenn dies auch leider im Zusammenhang dieser Lecture nicht mehr ausgeführt wird).

Wie bekannt, gehen die allerletzten, kleineren Arbeiten von Krauss aus einer Reihe von Werken vorher, die der Autorin eine Meyer Schapiro Professorin of Modern Art and Theory an der Columbia University eingetragen haben. Die Bezeichnung mutet etwas seltsam an. So klingt "moderne Theorie" wie der Griff zur guten alten Moderne, die in Zeiten des postmodernen Theorieverfalls hochgehalten wird. Doch geht es auch nicht nur um eine offensichtliche Stärkung der Theorie innerhalb eines Department of Art History, die einer Installierung der Ästhetik außerhalb der Philosophie gleichkommt, dessen Department an der Columbia University personell jüngst in Richtung Musikphilosophie aufgewertet wurde. Die Konsonanz mit "aesthetischer Theorie" und "kritischer Theorie" (critical theory) ist unüberhörbar. Zieht man in betracht, daß im Angelsächsischen beide Theoriearten aufs Engste mit einer offen kunstkritischen wie kunsthistorischen Tätigkeit verbunden sind, ja diese geradezu vorantreiben, und weiß man, wie sehr diese ästhetisch-kritische Theorie seit Joseph Addison, Denis Diderot und E. T. A. Hoffmann die temps modernes, ja enger noch die Moderne mit ausmacht, dann wird man den ästhetisch-kunsttheoretischen Ton im Ausdruck "moderne Theorie" mithören. Krauss hat eine solche ästhetische Theorie in ihrer Kunstkritik der 60er und 70er Jahre umgesetzt, in "October" mit der Filmwissenschaftlerin Annette Michelson seit 1977 als Forum nicht zuletzt der ästhetisch-philosophischen Diskussion auf die Bahn gebracht, in "The Originality of the Avantgarde" zu einem Kampfmodell ausgebildet. Wie die Kunstgeschichte Riegls, Wölfflins und Panofskys ging hier die Entwicklung von Kunsttheorie und Kunsthistorie Hand in Hand, ohne daß die eine zur Handlangerin der anderen verkümmerte oder in die Schranken gewiesen werden konnte. Krauss führt damit eine weitere moderneTradition fort. Es geht um das Modell, ohne wissenschaftstheoretische Gängelung einen produktiven Zusammenhang verschiedener wissenschaftlicher Teilbereiche wie Theorie und Empirie zu knüpfen. Auch insofern klingt "Modern Art and Theory" gut. Evident, daß eine solche Kunstgeschichte für die Ästhetik, sprich philosophische Ästhetik, immer interessant sein wird. "'A Voyage on the North Sea'" ist dazu ebenso ein Beitrag, wie sie, diese Reise, das Ziel nicht nur des Panzerkreuzers Potemkin ins Gedächtnis ruft.

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

EDITORIAL

VISTA