mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.1/

 

 

Commented Criticism

5. Metatanz um 1900. Loïe Fuller, beobachtet von Julius Meier-Graefe. 6516 Zeichen.

 

 

Ist sie ein Genie? Dann hätte sie etwas Abstoßendes, Ungewaschenes, Monströses, Häßliches, Unweibliches, nicht wahr? Um wen geht es? Das wird in einem langen Eingangsabsatz ausgewalzt. Alle Künstlerinnen bis dahin zusammengenommen, nur um gegen sie Loïe Fuller abzuheben. Wen? - Ein Name, nicht mehr, doch einer, der die moderne Qualität verbürgt, materiell technisch und immateriell ephemer zu sein. Elektrisches Licht, durch Tiffany-Glas hindurch naturalisisiert. So wie der französisch klingende Namen Tiffany eine amerikanische Prägung ist, so bringt das Omen "Loïe" die Steigerung von "Fuller".

 

Dann der erste Sprung - zum zweiten Absatz. Julius Meier-Graefe setzt den Namen und dessen Genie sofort mit einer Wahl gleich, mehr noch mit der Wahl eines Genres. Seine Behauptung ist, daß genau diese Wahl die Genialität gerantiert.

 

Doch was den deutschen Herrn Meier-Gaefe (1867-1935) nicht interessierte, was er zum Teil auch nicht wissen konnte, worüber er in seinem manifesthaften Rausch die Zeit zu schreiben gar nicht hat, ist, daß die in Paris ansässige Amerikanerin Marie Louise Fuller (1874-1928) die Wahl, ja die Erfindung ihrer Genres bis zur Genialität beherrschte. Dabei war ein Tanz in einem "orthopädisch" um riesige Schleier erweiterten Reformkleid Ausgangspunkt. The Serpentine Dance, Dramatic Composition 1892 - aus dem New Yorker Theaterstück "Quack M.D." entwickelt, in dem sie eine von einem Arzt hypnotisierte junge Witwe verkörperte - war ihr Durchbruch und auch schon das erste von vielen, auch bühnentechnischen Patenten (gelatinbeschichtete Glasscheiben, Projektionsraster, spezielle Farbmischungen für Lichtprojektion, Spiegelkonstruktionen, die noch Dan Graham anregen sollten).

 

Und auch das kommt bei Meier-Graefe nicht zur Sprache. Was ihr das Publikum 1892 zurief ("Schmetterling", "Orchidee") und was sie gelernt (Skirt Dance) und gesehen hat (Nautch Dance, ein indischer Schleiertanz), das treibt sie in den nächsten Jahren zur Kreation ganzer Gattungen von Tänzen, von sensationellen, mystischen, bacchantischen, Pantomime-Tänzen bis zu Tänzen "mit neuen Effekten". Aus ihnen gehen Subgattungen hervor, der Feuer- (mit Walkürenritt), der Radium-, Wolken- (Les Nuages, Debussy, 1913), der Lilien-, Veilchen-, der weiße Tanz.

 

Für den Kunstkritiker ist das "Genre" aber nur Auftakt. Denn das Genie hat seine Schuldigkeit noch lange nicht getan. Erst jetzt rückt der Autor heraus. Das Genie hat einen neuen Sinn; die Frau ist anders! Während früher der Mann selbst sich ohne weiteres als Genie definierte, zeigen sich jetzt Tugenden und Laster, die dem Mann unerreichbar sind. Das Genie hat einen Sinn von Schönheit, in dem die Frau ohne Tradition erscheint: Urstoff ohne Emanzipation, eine bewußtlose, naturhafte Genialität, die als bewußte nicht gebären könnte.

 

Fuller hat, was "wir" - womit wie selbstverständlich Männer gemeint sind - nie haben können. Tingeltangeldame, Kostümfrage, Gauklerin, Einfall, ein Symbol. Der Kritiker hat auch. Meier-Graefe war kein Unbekannter mehr, als sein mehrseitiger Pariser Tanzbericht Anfang 1900 in Die Insel, drittes Quartal, erster Jahrgang, erschien. Er hatte 1894 Munch der deutschen Kunstwelt erfolgreich vorgestellt, war an der Gründung der Künstlergenosenschaft Pan beteiligt und gab ab 1895 die gleichnamige Zeitschrift mit heraus. Von 1896 bis 1900 leitete er die einflußreiche, französische Zeitschrift L'art décoratif.

 

Der nächste Schritt im Text erfolgt sogleich. Die Rettung Meier-Graefes ist, daß er das Schweigen im Tun des tanzenden Menschen sofort nutzt, um der Tänzerin das Übermenschliche Nietzsches zuzusprechen. Wenn es lohnt, eine Künstlerin zu betrachten, dann ist dieses Schweigen präziser als das gewöhnliche, passive Schweigen der Frauen. Wer meint, daß, für Meier-Graefe, Frauen an sich immer schon Künstlerinnen waren, liegt falsch. Denn diese spezielle Schönheit ist eine Schönheit, insofern sie einsam, fern (wie Benjamins Aura) und graziös ist - wenn auch eine Grazie der Bestie!

 

Doch diese Kritik, die gleich neben dem "Beitrag zu einer modernen Ästhetik" steht, der in die dreibändige "Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst" von 1904 aufgenommen werden wird, kennt noch eine weitere Steigerung. Genial + Übermenschlich = Übergenial, und das, weil und indem so getanzt wird, wie die Fuller tanzt. Damit ist die Ausführung des Feuilletonisten in die Disziplin der Kunst des Tanzes eingeschrieben. Doch gleich bringt Meier-Graefe einen rhetorischen Zweifel an. Ist es überhaupt Tanz, wenn es gerade um das Unsinnliche, das Seidenschleierhafte geht. Der Affekt kann jedenfalls nicht der einer leiblich stillbaren Sehnsucht sein. Tatsächlich erscheint das Körperliche bestenfalls im Elementarischen (der Art von Debussys La mèr), das das Material des Raums in einer neuen Idee von Bewegung aufschließt.

 

Somit folgt - geschickt entpuppt sich Meier-Graefe erst allmählich zur Fürsprecherin Loïe Fullers - eine sensualistische Charakterisierung in Wörtern und Wortgruppen, die die Erscheinungen und Materialien wiedergeben, um sogleich gegen die Relativierung Einspruch zu erheben, daß alles nur Bühneneffekt aus Licht und Spiegel wäre. Meier-Graefe überspringt den drohenden Einwand, daß man den unschlanken Körper der Fuller sehe, indem er betont, daß es gerade das ist, was man als Ahnung hinter den Phänomenen verspüren müsse. Doch er denkt nicht an den körperlichen Kraftakt der raumgreifenden Bewegungen, sondern an die vorgebliche Banalität von Fullers Existenz. Dieser Umstand kann nur das Symbolische der neuen weiblichen Übergenialität unterstützen. Denn was man will, ist ja gerade, nichts Körperliches zu sehen, sondern nur die Augen, weil sie für Meier-Graefe zu den (hervorgehobenen) bewegten Licht-Punkten unter dem "Haufen Tüll" zu zählen sind.

 

Noch ein weiterer Anlauf sensualistischer Beschreibung, diesmal auf dem deklarierten Boden impressionistischer Bilder, die vom Entfachen einer Flamme durchbrochen werden, dem Feuertanz, von dem allein erloschene Materie bleibt. (Auch vor fluoreszierendem Radium ist Loïe Fuller nicht zurückgeschreckt.) Schon hat die Kritik zur abstrakten bildenden Kunst allgemein übergeleitet, was den großen Schub für den Tanz des 20. Jahrhunderts bringen sollte. Truc. Ein weißer Berg, auf dem das Engelköpfchen thront, sich allmählich in Hügel verwandelnd. Daß die Tänzerin auf einer Kiste steht, egal. Dagegen sollte ihr langsam langer Rhythmus von einem ägyptischen Pyramidenchoral begleitet werden. Das ist das einzige, was Meier-Graefe punkto Musik sagt.

 

Daß der deutsche Vermittler nichts von Fuller als Person sehen will, hat noch einen anderen Grund. Er will die Tänze, das, was Fuller an Farben und Formen erzeugt, rein für sich sehen und genießen. So ist ihr plötzliches Verschwinden im "Mystischen Tanz" willkommen, nachdem eben noch die aufsteigenden und herabfallenden Schleier zu sehen waren, indem sich die Erscheinung sogar vom Menschen in seiner reinen Bewegung ablöst. Vollständige Dunkelheit, einzig "glühende Punkte, die tanzen". So löst sich der Körper der Tänzerin ins reine, ananthropomorphe Ornament auf, mehr noch, ins Atom, dessen komplexe innere und äußere Bewegung die Mystik der Zeit ist. Statt Körper also Licht, statt Materie also Welle (Gabriele Brandstetter). Der Tanz ist in die Metapher aufgehoben, zum Metatanz geworden.

 

Erobert Jeanne d'Arc die Philosophie des Geldes in Linie and Form anstatt bei der Métro-Station im Luftschiff, sodaß sie in der Luzidität des Glühstrumpfs einen Reigen von Wirkungsquanten tanzen kann?

 

 (c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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