Nach der militärischen Eroberung Zentralasiens durch die Rote Armee war die Sowjetmacht mit dem Problem konfrontiert, die errungene politische Machtposition auch gesellschaftlich zu verankern. Noch in der Zeit des Bürgerkriegs begann die Sowjetmacht, nicht-europäischen Minderheiten wie etwa den Tataren, Tschuwaschen oder Kasachen im Rahmen von Sowjetrepubliken national-territoriale Autonomie zu gewähren. Dies erfolgte nicht nur aus kurzfristig taktischen Gründen um die nichteuropäischen Minderheiten für die Revolution zu gewinnen, sondern war auch durch die Überzeugung führender Kommunisten angeleitet, dass „Nationen“ eine natürliche und wesentliche gesellschaftliche Entwicklungsstufe darstellen, welche die Herausbildung von kapitalistischem Klassenbewusstsein begünstigt und dadurch die fortgeschrittenen Entwicklungsstufen des Sozialismus und der internationalistischen klassenlosen Gesellschaft ermöglicht. Die Unterordnung des nationalen Prinzips unter dem des Sozialismus zeigte sich darin, dass dieses Prinzip nur zu einem administrativen Strukturelement des Sowjetföderalismus wurde und dass die Sowjetpolitik Nationalität nur der Form nach fördern wollten, um die ideologischen Imperative des Sozialismus verbreiten und weiten Bevölkerungsteilen die sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen durch die Alphabetisierung und Schaffung von volksnahen Literatursprachen kommunizieren zu können. Die nationale Teilung von 1924 führte dieses administrative Prinzip auch in Zentralasien ein, wo bisher dynastische, islamische und tribale Formen der politischen Identität vorherrschend waren.1
Durch die
Gründung der zentralasiatischen
Sowjetrepubliken wurden in der
Region staatliche Strukturen wieder errichtet. Wenn auch
Europäer die höheren
Positionen der Staatsapparate dominierten, konnten Einheimische, die
der
Kommunistischen Partei (KP) beitraten und sich für den Aufbau
des Sozialismus
einsetzten, hohe Partei- und Staatsämter innehaben. Auf
lokaler Ebene waren
weiterhin traditionelle Eliten tonangebend, die auch Einfluss in
lokalen
Parteizellen und regionalen Exekutivekomitees erlangten. Dadurch
gewannen
Zentralasiaten in der NEP-Periode wieder an politischem Einfluss, den
sie während
der zaristischen zivilen Militärverwaltung verloren hatten.2
Das größte
Ausmaß an externer Kontrolle wurde durch die
Säuberungen der Stalinzeit
erreicht. Diesen fielen prominente zentralasiatische Kommunisten wie
der
kasachische Historiker Turar Ryskulow, der kirgisische Vorsitzende des
Rats der
Volkskommissare B. D. Isakejew, die Vorsitzenden des Kirgisischen bzw.
Türkmenischen
Obersten Sowjets A. Orosbekow und N. Aitakov, die Vorsitzenden des
Türkmenischen
bzw. Usbeksichen Ministerrats K. Atabajew und F. Chodschajew und der
Erste
Parteisekretär der Usbekischen KP A. Ikramow zum Opfer.
Die Sowjetisierung Zentralasiens setzte in einigen Bereichen das
zaristische
Kolonialisierungsprojekt fort. Jene Landreform, die bereits von
Generalgouverneur von Kaufman in Turkestan durchgeführt worden
war, wurde in
den 20er Jahren in einer radikalisierten Form auf alle Gebiete des
sowjetischen
Zentralasiens ausgedehnt und begünstigte arme besitzlose
Bauern und Viehhirten.
Die Ansiedelung von nomadischen und semi-nomadischen Viehhirten in
Kolchosen ermöglichte
die Durchsetzung staatlicher Strukturen in den ehemals tribal
organisierten Bevölkerungsgebieten.
Diese Durchsetzung beruhte einerseits auf der Verfolgung von tribalen
und
islamischen Eliten als „Bais“,
„Kulaken“ und „Klassenfeinde“
und
deren Liquidation oder Verbannung nach Sibirien, andererseits auf der
Verbreitung sowjetischer Institutionen wie den titularsprachigen
Volksschulen,
den Kolchosen und Sowchosen, den Industrie- und Bergbaubetrieben, die
seit der
„Kollektivierung“ die Lebenswelt aller
Zentralasiaten formten.
Die physische Vernichtung muslimischer und tribaler Eliten ging mit
Bemühungen
einher, die russisch-sowjetische Kultur zu verbreiten und
muslimisch-traditionelle Lebensformen zu unterbinden. Dies betraf vor
allem die
patriarchalischen Familienstrukturen und die traditionellen
Geschlechterrollen.
Traditionelle Institutionen wie etwa die Polygamie, das Levirat, der
Brautpreis
(Kalym), die arrangierten Heiraten von minderjährigen
Mädchen, die Segregation
von Frauen wurden als „Verbrechen beruhend auf
Tradition“ gebrandmarkt und
unter Strafe gestellt. Durch die Verfolgung und Liquidierung tribaler
und
islamischer Eliten wurden nach Abschaffung der lokalen Gerichtsbarkeit
auch die
Träger der islamischen und tribalen Rechtskultur eliminiert,
sodass nur mehr
sowjetische Gerichte entsprechend den politischen Direktiven der KP und
den
oktroyierten Sowjetgesetzen Recht auslegten. Diese Zerstörung
lokaler
Rechtskulturen erweist sich als eines der schwierigsten Teile des
sowjetischen
Erbes, welches die Politik in den unabhängigen Republiken
trotz der formalen
Inkraftsetzung von Verfassungen in einem rechtsfreien Raum
belässt.3
Die Sowjetisierung Zentralasiens implizierte jedoch nicht nur
gesteigerte äußere
Kontrollfähigkeit und Einflussnahme auf die zentralasiatischen
Gesellschaften.
Wie bereits nach der Errichtung der zaristischen Kolonialverwaltung
passten sich
die Zentralasiaten den geänderten äußeren
Rahmenbedingungen an und
entwickelten politische Handlungsorientierungen, die ihren Zugang zu
wirtschaftlichen Ressourcen sicherstellten und sie vor staatlichen
Eingriffen möglichst
abschirmten. So nutzen einheimische Kommunisten ihren Zugang zu den
lokalen und
regionalen Exekutivkomitees dahingehend aus, ihre eigenen
Lokalgemeinschaften
bei der Landreform und bei der Neuverteilung von Wasserrechten zu
begünstigen.
Andererseits wurde die Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden
tribalen
Abstammungsgruppen in der offiziellen Sprache des Klassenkampfes
ausgetragen.
Zentral festgesetzte Planziele für Säuberungen im
Staats- und Parteiapparat
wurden dazu genützt, politische Gegner auszuschalten oder
führten oft zur
Denunzierung von Leuten mit geringem verwandtschaftlichen
Rückhalt und
Mobilisierungspotential.
In der Chruschtschow- und Breschnew-Ära wurde das Nomenklatura-System fest in Zentralasien verankert. Die ersten Parteisekretäre der zentralasiatischen Republiken demonstrierten gegenüber dem Generalsekretär der Sowjetunion bedingungslose Loyalität und befolgten nach außen hin Anweisungen, die aus Moskau kamen. In ihren Republiken hingegen verstanden sie es, Patronage-Netzwerke zu knüpften, durch die sie sich der Loyalität der regionalen und lokalen Wirtschafts- und Verwaltungseliten vergewisserten. Da Ernennungen der ersten Parteisekretäre von Republiken und Oblasti in Moskau entschieden wurden, war das Ableben oder die Ablöse des Generalsekretärs auch mit der Ernennung neuer erster Parteisekretäre in den einzelnen Republiken verbunden, die ihrerseits ein neues Klientelnetzwerk errichteten und die Kader im Verwaltungsapparat „erneuerten“. Wenn zentralasiatische Kommunisten wie etwa der Erste Parteisekretär der Türkmenischen SSR Suchan Babajew (1951-1958) die stillschweigenden Spielregeln der Herrschaftsausübung verletzten, konnten sie sich umgehend mit ihrer Abberufung konfrontiert sehen. Andererseits konnten erste Parteisekretäre als Mitglieder des Zentralkomitees oder des Politbüros der UdSSR erfolgreich für Investitionen der Union in ihren Republiken werben. So nützte der Erste Parteisekretär von Kasachstan Dinmuchamed Kunajew (1960-1986) seine Nähe zu Breschnew auch dafür, beträchtliche ökonomische Ressourcen für Kasachstan zu mobilisieren. In ähnlicher Weise taten dies die Ersten Parteisekretäre Usbekistans Scharaf Raschidow (1959-1983), Kirgisiens Turdjakun Usubalijew (1961-1985), Türkmenistans Muhhamednasar Gapurow (1969–1985) und Tadschikistans Dschabar Rasulow (1951–1982).
Die
Unterschiede zum vorsowjetischen Zentralasien erscheinen
gering, wenn man
die Formen der politischen Vergemeinschaftung innerhalb des politischen
Systems
untersucht. In vorsowjetischer Zeit beruhte politische Ordnung auf
persönlicher
Untertänigkeit und politischer Loyalität zwischen den
Begs und dem Chan bzw.
Emir oder zwischen den Militärkommandeuren und dem Zaren.
Ähnliche Loyalitätsbeziehungen
bestanden in den Republiken zwischen den Sekretären der Rayon-
und
Oblast-Parteikomitees, zwischen den ersten Sekretären der
Oblast-Parteikomitees
und dem ersten Parteisekretär der Republiken. All diese
Sekretäre zeigten
unbedingte Loyalität gegenüber dem
Generalsekretär der Union, dem sie ihre
politische Existenz verdankten und der mit Sorgfalt die Parteikader
auswählte.
Die Aufnahme von neuen Mitgliedern ins Zentralkomitee und
Politbüro der KPdSU
war mit heiklen Personalentscheidungen verbunden, da diese Gremien den
Generalsekretär abberufen konnten, wie dies Chruschtschow im
Jahr 1964
widerfuhr. Während die Tätigkeit von
Parteisekretären von höherer Stelle
kritisiert wurde, war Kritik von unten strikt untersagt und tabuisiert.
Gorbatschows Perestroika griff diese eingespielten Regeln patrimonialer
Machtausübung
frontal an, als er freie Medienberichterstattung förderte und
die gesamte Bevölkerung
aufforderte, bisher unantastbare Mitglieder der Nomenklatura zu
kritisieren.
Dadurch ließ er die Machtbasis der Partei erodieren und
untergrub die Integrität
zentralstaatlicher Strukturen. Die Einführung des
Präsidialsystems und die
Aufwertung des Obersten Sowjets schuf hingegen keine neue
Machtgrundlage. Die
Streichung des Artikels 6 der Breschnew-Verfassung über die
führende Rolle der
KPdSU, die Suspendierung der Tätigkeit der KPdSU und die
Auflösung der
Sowjetunion waren die letzten Meilensteine von Gorbatschows
Reformpolitik, die
aufgrund ihrer Westorientierung durch die systematische Missachtung
patrimonialer Herrschaftsregeln gekennzeichnet war.
Die Perestroika hatte jedoch geringe Auswirkungen auf die patrimoniale
Grundlage
von Politik in Zentralasien. Alle regierenden Präsidenten
Zentralasiens mit
Ausnahme des Präsidenten von Tadschikistan wurden
ursprünglich von Gorbatschow
für das Amt des ersten Parteisekretärs oder des
Exekutivpräsidenten
vorgeschlagen, um den Staatsapparat zu erneuern. Diese jedoch
gebrauchten ihre
Position dazu, ihre Stellung als „oberste
Herrscher“ zu festigen, eine
eigene Hausmacht aufzubauen und waren – in Gegensatz zu
Gorbatschow und seinen
Anhängern - weniger offen für westliche
Demokratiemodelle.
Der
Wegfall der zentralen Kontrolle durch den Zerfall der
Sowjetunion
bereitete dem Präsidenten Türkmenistans S. Nijasow
die geringsten Mühen, die
staatliche Einheit zu erhalten und regionalen Antagonismus zu
kontrollieren, da
in Türkmenistan selbst in der späten Perestroika-Zeit
keine oppositionellen
Gruppierungen zugelassen wurden. Der usbekische Präsident I.
Karimow duldete
zuerst die unabhängigen Bürgerbewegungen
„Erk“ und „Birlik“, verbat
diese jedoch nach dem Ausbruch des tadschikischen Bürgerkriegs
1992. Seitdem
baute er seine Machtposition aus und unterdrückte jede Form
von islamischer
Opposition. Selbst die Präsidenten Kasachstans N. Nasarbajew
und Kirgisiens A.
Akajew, die sich um ein demokratisches Image ihrer Staaten
bemühten und eine
vielfältige Parteinlandschaft entstehen ließen,
nahmen ursprüngliche
demokratische Reformen wieder zurück und regieren seitdem mit
marginalisierten
Parlamenten und staatlich kontrollierten Parteien- und
Medienlandschaften. Die
in allen Bezirken und Gebieten eingesetzten Hakime und Gouverneure sind
in ähnlicher
Weise dem Präsidenten politisch verpflichtet und
verantwortlich, wie dies zuvor
die sowjetischen Bezirks- und Gebietssekretäre
gegenüber dem Ersten
Parteisekretär waren.
Wenn auch die politischen Eliten der unabhängigen Republiken
die sowjetischen
Staatsstrukturen in unterschiedlicher Art und Weise umgestalteten, so
kann doch
festgestellt werden, dass auch nach der nationalen
Unabhängigkeit sich die Form
der Vergemeinschaftung der politischen Ordnung nicht änderte.
Politik beruht
nach wie vor auf persönlichen Herrschaftsbeziehungen und folgt
einer
patrimonialen Herrschaftslogik, nach der die staatliche Einheit durch
Patronage-
und Klientelbeziehungen zwischen dem Staatsoberhaupt und den
politischen Eliten
bewahrt wird und nach der Kritik am Staatsoberhaupt den politischen
Grundkonsens
in Frage stellen würde. Wie und für welche Politik
diese Machtstruktur
eingesetzt wird, hängt allerdings sehr stark von den
Fähigkeiten des
Staatsoberhauptes ab und kann im Extremfall zu einem Personenkult
führen, wie
er gegenwärtig in Türkmenistan zu beobachten ist.4
Freie politische Wahlen etwa um das Präsidialamt
hätten in diesem politischen
Kontext destabilisierende Auswirkungen, da der politische Machtkampf
weder - wie
etwa in Japan - durch Gesellschaftskonvention noch durch Rechtsbindung
reguliert
wäre.5 Aus diesem Grund werden in den
„liberaleren“ Staaten wie
Kasachstan und Kirgisien einerseits die Risiken von Wahlen durch die
dominante
Stellung der Wahlbehörden, die nach Belieben die Registrierung
von Parteien
oder Kandidaten verhindern können, eingedämmt,
andererseits werden
Volksvertreter aus allen Regionen in Parlamente gewählt,
welche politisch
einflusslos sind. Bisher wurden daher politischen Machtfragen nicht
durch Wahlen
entschieden. Diese dienen vielmehr der innen- und
außenpolitischen
Legitimierung von Regimen.6
Die normative Grundlage von Politik war hingegen einem beträchtlichen Wandel ausgesetzt. Die Sowjetisierung Zentralasiens implizierte zunächst einen Bruch mit islamischen und tribalen Traditionen, die von der Sowjetmacht bekämpft und deren Träger politisch verfolgt wurden. Andererseits mussten die Kommunisten der lokalen Bevölkerungen aber auch Zugeständnisse machen, damit die sowjetische Umgestaltung der Gesellschaft überhaupt funktionieren konnte. So konnte die sogenannte „Kollektivierung“ – dieser Begriff ist für Zentralasien nur zum Teil zutreffend - nur durchgeführt werden, indem tribale Abstammungsgruppen in das Kolchosensystem integriert wurden. Erweiterte Familienverbände begannen als Brigaden von Kolchosen zu arbeiten, oder bisherige ländliche Nachbarschaftsgemeinschaften wurden in Kolchosen umgewandelt oder in diesen zusammengefasst. Der Zugang zu staatlichen Ressourcen wurde vielfach für diese primären Solidaritätsgruppen genutzt. Die patriarchalischen Familientraditionen blieben daher auch unter sowjetischen Verhältnissen intakt, und Kinder lernten seit ihrer frühen Kindheit, Achtung und Respekt vor den Älteren zu wahren. Auch zwischen älteren und jüngeren Geschwistern wurden klar definierte Rangordnungen, Rollen und Pflichten vermittelt. Zwar beseitigten die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die Möglichkeit des Besuchs von höheren Bildungseinrichtungen und die neu geschaffenen Arbeitsplätze außerhalb der Familie die Absonderung vieler Frauen und Frauen begannen zunehmend im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen. Nichtsdestotrotz wurden überlieferte Regeln des Anstands und Schicklichkeit auch unter den neuen sowjetischen Lebensbedingungen anerzogen und befolgt.
Nationalität
wurde zum neuen Bezugspunkt der
gesellschaftlichen Verankerung
von Politik, deren Inhalte durch die ökonomischen und
gesellschaftspolitischen
Imperative des Sozialismus vorgegeben waren. Diese neue Form der
kollektiven
Identität sollte tribale, dynastische und islamische
politische Identitäten überwinden
und im propagierten Sowjetpatriotismus und Internationalismus aufgehen.
Durch
die Imagination von Nationalität als Abstammungsgemeinschaft
sollten Solidarität
und Vertrauen, die zuvor auf tribale soziale Beziehungen
beschränkt waren oder
nur zwischen muslimischen Glaubensbrüdern galten, auf alle
Mitglieder einer
Nationalität erweitert werden. Dadurch wurde Verwandtschaft
als Bezugspunkt für
Gemeinschaftsbindung auf die neu geschaffene Form kollektiver
Identität und
Solidarität bezogen und deren Ursprung durch die Konstruktion
von Ethnogenesen
und nationaler Historiographien weit in die Vergangenheit
zurückverlegt.
Andererseits blieben die mit Familienfesten verbundenen und im Islam
verwurzelten Lebensabschnittriten (Beschneidung, Hochzeit, Beerdigung,
Totengedächtnisfeier)
wichtige Bestandteile der kulturellen Identität und wurden
trotz sowjetischer
Strafandrohung und Unterdrückungsmaßnahmen als
nationales Erbe der Väter
geachtet und weitergepflegt.
Die Nationalitätenpolitik der 20er- und 30er Jahre
förderte aber Nationalitäten
nur als kulturelle Gemeinschaft. Durch die Interpenetration von
kulturellen und
gemeinschaftlichen Handlungsorientierungen war diese Form von
kultureller
Vergemeinschaftung weitgehend erfolgreich, wenn auch die entstandenen
kulturellen Identitäten keineswegs den Partikularismus
primärer Solidaritätsgruppen
(Familie, Mahallah, Kolchose, Abstammungsgruppe etc.) zu nivellieren
vermochten.
Die politische Vergemeinschaftung der multinationalen
Sowjetgesellschaft in
einem sowjetischen Staatsvolk blieb hingegen problematisch. Die
sowjetischen
politischen Bemühungen um ein Sowjetvolk (sowetski narod)
waren auch stark
kulturell ausgerichtet und seit Ende der 30er Jahre mit der
Russifizierungspolitik der nichtrussischen Nationalitäten
verbunden. Diese
Politik wie die Atheismuskampagnen richteten sich gegen die kulturelle
Identität
der zentralasiatischen Bevölkerung und verstärkten
Ressentiments gegenüber
Europäern und dem Moskauer Zentralismus. Diese Politik sowie
der Widerspruch
zwischen den universalistischen egalitären Inhalten der
Sowjetkultur und dem
inegalitären Partikularismus des patrimonialen politischen
Sowjetsystems
behinderte die Herausbildung von normativer politischer Ordnung. Da die
Sowjetmacht in Zentralasien Nationalität als kulturelle
Gemeinschaft
etablierte, führte die Schwächung der Union am Ende
der Perestroika-Zeit zunächst
auch nur zur verstärkten Artikulation von kulturellen
Anliegen. Diese wurden
von den regierenden Eliten noch vor der staatlichen
Unabhängigkeit durch
entsprechende Sprachgesetze aufgegriffen.
Die
nationale Unabhängigkeit konfrontierte die
zentralasiatischen
politischen Eliten mit der Notwendigkeit, dem Staat nach dem Untergang
des
Kommunismus als Herrschaftsordnung eine neue normative Grundlage zu
geben und
eine neue verbindliche Deutung der politischen Identität zu
finden. Angesichts
der Vorherrschaft des nationalen Prinzips in der internationalen
Politik und den
zunehmend öffentlich artikulierten Forderungen um die
Anerkennung des
kulturellen und historischen Erbes der Titularnationalitäten,
wurden Nationalität
und nationales Bewusstsein zum privilegierten Bezugspunkt des
politischen
Diskurses.7 Seitdem konnte in allen Republiken
eine Nationalisierung
von Staat und Gesellschaft beobachtet werden. Der tadschikische
Bürgerkrieg
veranschaulichte auch die gesellschaftliche Dynamik, die entstehen
kann, wenn
die regierenden politischen Eliten die normativen Implikationen ihrer
Machtausübung
ignorieren und versuchen, am Kommunismus als Herrschaftsordnung auch
nach dem
gescheiterten August-Putsch festzuhalten. Die mangelnde politische
Empfänglichkeit
der regierenden Eliten für die Neubewertung des Islams und des
nationalen Erbes
veranlasste regionale Eliten von politisch marginalisierte Regionen
Tadschikistans wie das Garmtal oder Kurgan Tube ihre Opposition zur
Regierung
islamisch zu deuten und zu legitimieren. Dies ermöglichte die
frontale
Mobilisierung der Landsleute aus diesen Regionen gegen die regierenden
Eliten
aus Chodschent und Kuljab.
Da in Zentralasien Gemeinschaftsstrukturen der ehemals tribal als auch
der
residenziell organisierten Bevölkerung8
im Islam verwurzelt sind,
wurde in allen Republiken dem Islam ein wichtigerer gesellschaftlicher
Stellenwert zuerkannt. Nationale Muftiate wurden eingerichtet,
religiöse
Bildungsinstitution etabliert und viele Moscheen wieder
geöffnet oder neu
gebaut. Da die regierenden Eliten an der säkularen
Staatsordnung festhalten,
dienen diese Einrichtungen – wie zu Sowjetzeiten - vor allem
auch der
staatlichen Kontrolle des Islams und sollen konkurrierende
politisierende
Deutungen des Islams und des islamischen nationalen Erbes unterbinden.
Aufgrund
der unterschiedlichen gesellschaftlichen Verankerung des Islams ist das
Politisierungspotential in Tadschikistan und Usbekistan, wo in
vorkolonialer
Zeit die Bevölkerung nach dem islamischen Recht (Scharia)
lebte, ungleich höher
einzuschätzen als in Kasachstan, Kirgisien und
Türkmenistan, wo vor der
Kolonialisierung tribale gewohnheitsrechtliche Traditionen die
Stammesgesellschaften prägten.9
Das Problem der Errichtung von normativer politischer Ordnung wird in allen zentralasiatischen Republiken stark mit der Aufgabe verbunden sein, die historische Kluft zwischen Staat und Lokalgemeinschaften zu schließen oder zumindest zu überbrücken. Aus interpenetrationstheoretischer Sicht gelingt dies nur, wenn die vorhandenen Formen der Gemeinschaftsbindung erfolgreich auf die Staatsinstitutionen bezogen werden. Die seit 1993 beobachtbare „Mahallisierung“ Usbekistans ist etwa ein solcher flächendeckender Versuch, die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft (Lokalgemeinschaften) zu verringern, indem der Staat zur Administration von staatlichen Sozialleistungen in allen Lokalgemeinschaften Mahallah-Büros errichtete. Jede Reformpolitik wird nicht nur an der Verringerung der ökonomischen und sozialen Probleme der verarmten Bevölkerung zu messen sein, sondern auch an ihrem Potential, den Islam politisch zu integrieren. In patriarchalischen Gesellschaften, in denen Aksakale ein hohes Ansehen genießen und über Konfliktregelungskompetenz verfügen, kann die Legitimität der Staatsordnung gestärkt werde, indem solche Instanzen der informellen Konfliktregelung in das staatliche Rechtssystem, etwa durch die Schaffung von Schöffengerichtsbarkeit einbezogen werden.10
Die oben resümierten Ergebnisse fassen einige Erkenntnisse zum sozialen und politischen Wandel zusammen, wenn dieser auf das Problem der Entstehung von normativer politischer Ordnung und auf die Formen und normativen Grundlagen der politischen Vergemeinschaftung bezogen wird.11 Trotz des bisherigen intensiven Literaturstudiums blieben viele für die Bearbeitung der Fragestellung relevante Themenkomplexe noch ungenügend berücksichtigt und sollten durch ergänzende Literaturrecherchen besser bearbeitet werden. Andererseits stieß der Bearbeiter bei seinen systematisch-vergleichenden Analysen auf wichtige Forschungsfelder, die überhaupt nicht oder nur sehr unzureichend erforscht sind. Dies betrifft vor allem den Bereich des sowjetischen „Gewohnheitsrechts“ und den Fragekomplex, wie sich residenzielle und tribale Formen der lokalen Gemeinschaftsbindung unter sowjetischem Einfluss wandelten. Bei den Forschungsaufenthalten in Türkmenistan und Kasachstan stellte der Projektbearbeiter fest, dass traditionelle Formen der Gemeinschaftsbindung (Verwandtschaft, Abstammungsgruppe) in vielen urbanen Gebieten und in Dörfern durch die gezielte Ansiedelung von Ortfremden stark geschwächt wurden und dass dadurch traditionelle Eliten wie etwa die Ältesten keineswegs mehr als informelle Streitschlichtungsinstanzen anerkannt werden.
Feldforschungen
vor Ort wurden bisher in einem bescheidenen
Ausmaß im
Oktober und Dezember 2002 in Türkmenistan und Kasachstan
durchgeführt. Der
Projektbearbeiter konnte erste Erhebungen einerseits zur regionalen
Verankerung
von turkmenischen Politikern zu Sowjetzeit und zur Zeit nach der
Unabhängigkeit
durchführen und andererseits Erkundigungen zu den Auswirkungen
der
Sowjetisierung auf Gemeinschaftsbindungen einholen. Bei der
Untersuchung der
regionalen Verwurzelung turkmenischen Inhaber von Spitzenpositionen in
Partei-
und Verwaltung – eine entsprechende Ämter- und
Personenliste wurde durch die
Auswertung der Angaben in den Jahresbänden der Bolschaja
Sowetskaja
Enziklopedija (1957-1990) angefertigt - stellte sich heraus, dass die
Moskauer
Parteizentrale es entgegen der in der Literatur vertretenen These
über die
Dominanz der Abstammungsgruppe der Achalteke in Partei- und
Staatsämtern sehr
wohl verstand, ein Gleichgewicht zwischen den politischen Eliten aller
türkmenischen
Regionen herzustellen und das die für die Sowjetzeit
festgestellte „Achalisierung“
des Verwaltungsapparats eigentlich erst seit Mitte der 90er Jahren
systematisch
von Präsident Saparmurad Nijazov betrieben wurde. Die ersten
Erhebungen über
den sowjetischen Einfluss auf Formen der Gemeinschaftsbindung erbrachte
den
Befund, dass Abstammungsgruppen überwiegend in
strukturschwachen
Abwanderungsgebieten erhalten geblieben sind. In ländlichen
Gebieten mit stärkerer
Zuwanderung von Arbeitskräften sorgte die freie Vergabe von
Grundstücken
innerhalb von Kolchosen für eine stärkere
Durchmischung der Bevölkerung,
welche die Grundlage für verwandtschaftlich strukturierte
informelle Formen des
Konfliktmanagements (etwa durch Ältestenräte)
erodierte. Die von Nijasow zur
Herrschaftslegitimierung neugeschaffenen Ältestenräte
(Maslachate) auf der
Etrap-, Welajats- und Republiksebene änderten nichts am
Bedeutungsverlust der
Maslachate zur Sowjetzeit. Viele von deren Funktionen wurden von
Sowjetinstitutionen wie der Kolchosenleitung, dem Kolchosensowjet und
der
Kolchosen-Milizija übernommen. Diese vom Staat geschaffenen
und kontrollierten
Ämter blieben jedoch offen für Einflussname durch
informelle
Beziehungsnetzwerke, die nicht mehr einzig auf Verwandtschaft, sondern
auch auf
Bekannt- und Freundschaften beruhen, die durch gemeinsame Schul- und
Universitätslaufbahnen,
durch Militär- und Arbeitsdienste, durch die Zusammenarbeit im
Berufsleben
entstanden sind. Diese informellen Netzwerke bestimmten auch den Zugang
zu
Ressourcen (wie Arbeitsplatz, Wohnung, subventionierte Mangelwaren,
Dienstleistungen) in den urbanen Zentren, die überwiegend von
Europäern
bewohnt wurden und die – im Gegensatz zu usbekischen und
tadschikischen
Mahallahs - keine lokalen urbanen Gemeinschaftsstrukturen
hervorbrachten.
Im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Kasachstan wurden vom
Projektbearbeiter
vor allem Erkundigungen zum Stand der Rechtsreformen in Kasachstan
eingeholt, wo
in den letzten Jahren durch die Gründung von
unabhängigeren
Wirtschaftsgerichtshöfen und der Etablierung eines nationalen
Grundbuchsystems
beachtliche Fortschritte im Bereich des Vertrags- und Eigentumsrechts
erzielt
wurden. Anhand von Experteninterviews mit Mitarbeitern der Food
Contract
Corporation, der halbstaatlichen Getreideankaufs- und Verkaufsagentur
zur
Regulierung des Inlandspreisniveaus in Astana, wurde untersucht, in
welchem
Ausmaß sich Vertragsrecht in Wirtschaftstransaktionen
durchgesetzt hat und ob
qualitative Änderungen im Rechtsschutz feststellbar sind.
Diese Fragestellung
ist zentral für die Entwicklung des Verhältnisses
zwischen Recht und Politik,
weil daran die Europäisierung der Wirtschaftsprozesse ablesbar
ist. Bei diesen
Recherchen wurde sichtbar, dass in den letzten 3 Jahren beachtliche
Fortschritte
bei der Schaffung von Rechtssicherheit für
Wirtschaftstransaktionen erzielt
wurden und dass die Nichterfüllung von Verträgen
durch vereinbarte
Bankgarantien auch zunehmend effektiv einklagbar ist. Dies wurde durch
die
Schaffung von unabhängigen Gerichten mit spezialisierten
Richtern möglich,
deren Tätigkeit durch die am Streitwert orientierten
Gerichtsgebühren auch auf
eine neue finanzielle Basis gestellt wurde. Diese freilich zur Zeit
noch sehr
schwache rechtliche Regulierung der Wirtschaft könnte
später aber
Kristallisationspunkte auch für erste Reformschritte bei der
rechtlichen
Regulierung von Politik und Verwaltung liefern.