Frei von Strafe - Die Vision

Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de   Nicole Lieger über die Infragestellung des Strafrechts und über allgemeines Wohlwollen (oder bedingungslose Liebe?) als Gesellschaftskonzept. Einleitung zur Lehrveranstaltung an der Uni Wien, März 2009.

Audio-Files zum Reinhören oder Runterladen:

                                                Teil 1    (30 min, MP3, 6 MB)

                                                Teil 2    (40 min, MP3, 10 MB)



Wollen wir wirklich strafen?

"Die Geschichte der Strafe ist für die Menschheit in vielem nicht weniger beschämend als die Geschichte der Verbrechen", sagte einmal der italienische Rechtsphilosoph Giorgio del Vecchio. Angesichts dieser Geschichte sind wir wohl gut beraten, extrem vorsichtig umzugehen mit den Befugnissen, die wir staatlicher Zwangsgewalt zubilligen. Die Idee, jemandem absichtlich Leid zuzufügen, um damit vermeintlich in einem größeren Kontext Gutes zu bewirken, hat in einem humanistischen oder allgemein menschenfreundlichen Zugang Argumentationsnotstand. Vor allem, wenn der Leidzufügung wenig positive und sogar deutlich negative Wirkung nachgewiesen werden kann (wie etwa der Gefängnisstrafe), und statt dessen wesentlich humanere Alternativen bestehen, die zudem auch     noch bessere Ergebnisse bringen (wie etwa Restorative Justice Programme in Bezug auf die Prävention).

Wenn wir ein staatliches System einrichten, haben wir zum Glück Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken. Wir müssen nicht spontan oder im Affekt handeln und haben die Gelegenheit, es an unseren höchsten Idealen auszurichten. Selbst wenn wir im Alltagsgewusel unseren höchsten Idealen selber nicht immer gerecht werden: Wenn wir unser System daran ausgerichtet haben, wird es uns helfen, auch im Einzelfall unseren Idealen gemäß zu handeln.



Allen soll es wohl ergehen, allen

Zu meinen Idealen gehört ein generelles Wohlwollen den Menschen gegenüber. Ich finde Menschen kostbar und möchte, dass es ihnen gut geht. Auch dann, wenn sie einmal etwas machen, was wirklich nicht gut ist (das passiert bei Menschen meiner Erfahrung nach öfters). Ein Abbild dessen, was für manche vielleicht die bedingungslose Liebe Gottes oder des Universums ist, möchte ich auch als Leitbild für unsere Gesellschaftsgestaltung heranziehen. Wo wir Fehler machen dürfen, und die Antwort darauf immer eine Hilfestellung ist, ein gemeinsamer Versuch, Schaden zu reparieren und für eine bessere Zukunft zu sorgen.

Auch wenn unser gesellschaftliches Bild der bedingungslosen Liebe vermutlich deutlich blasser ausfallen wird als das Original: In diese Richtung möchte ich gehen. Umfassendes Wohlwollen: Allen soll es wohl ergehen, allen.

Das heißt keineswegs, dass es tatsächlich immer allen gut geht. Das wird wahrscheinlich nicht der Fall sein. Der springende Punkt ist für mich die Absicht: Ich will niemandem absichtlich wehtun. Es ist spannend für mich, dieses Bild vor mich hinzustellen und zu sehen, wie es mein Alltagsleben verändert, in dem ich ja manches Mal auch ganz anders empfinde.


Gandhi / wikimedia 


    





     Einem Feigling ist es unmöglich, Liebe zu zeigen,
     das ist das Vorrecht der Mutigen.
                                 Mohandas Gandhi



Wäre es denn möglich, auf Strafe vollständig zu verzichten?


Das weiß ich nicht. Ich muss es aber auch nicht wissen. Was ich weiß, oder mir zumindest deutlich erkennbar scheint, ist, dass es eine ganze Palette von Ansätzen gibt, mit denen wir uns in die gewünschte Richtung bewegen können. Keiner von diesen Ansätzen ist, alleine betrachtet, ein Allheilmittel. Der eine hilft hier, der andere da - und insgesamt können sie unsere Gesellschaft ein gutes Stück weiter bewegen. Von dieser neuen gesellschaftlichen Situation aus eröffnen sich wieder neue Perspektiven und Möglichkeiten. In Österreich regte ja schon Justizminister Broda in den Siebzigerjahren die Diskussion zur gefängnislosen Gesellschaft an. Der Weg entsteht beim Gehen, und mögliche erste Schritte, für uns hier und jetzt, gibt es in Füllle.



Knie. Borea Giovanni / pixelio.de




Wenn die Hand ins Knie schießt:  eine Parabel


Angenommen, ich schieße mir mit der rechten Hand ins linke Knie. Ein Gewaltverbrechen ist passiert: das Knie, das Opfer, ist schwer verletzt und blutet. Der Täter ist die Hand: das ist eindeutig. Es gibt Zeugen.

Was nun?

Nun könnte ich mir zum Beispiel in die Hand schießen. Um die Hand zu bestrafen. Denn die war's. Sie hat ein schweres Verbrechen verübt, und um deutlich zu machen, dass das so nicht geht muss sie bestraft werden. Außerdem dient das der Prävention: Diese Hand schießt sicher nicht nochmal irgendwo hin. Kann sie nämlich gar nicht, weil sie selber zertrümmert ist.

Damit ist also das Verbrechen hart bestraft, der Gerechtigkeit Genüge getan und die Gesellschaft geschützt.

Das ist gut; denn nur dieses Gerede von "wir sind alle eins" bringt uns nicht weiter. Es stimmt halt auch einfach nicht: die Hand ist nicht das Knie, das ist offensichtlich.

Und das Knie...? Ach ja, das Knie. Richtig. Daran haben wir ja gar nicht mehr gedacht. Das ist schwer verletzt. Es hat seine Zeugenaussage gemacht, blutend, in unserem Verfahren zur Schuldfeststellung. Und dann haben wir es nach Hause geschickt, blutend. Man hätte ja auch das Knie verbinden können, vielleicht. Sogar als allererste Maßnahme, vielleicht. Und dabei kann die Hand, unzertrümmert, sogar richtig hilfreich sein



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