Unwillkürliche Aufmerksamkeit

Die Selektion von Information ist ein Prozeß der Zuwendung von Aufmerksamkeit auf Ereignisse bzw. Reize, die Information liefern.

Man unterscheidet zwischen

Die unwillkürlich ausgelöste Aufmerksamkeitszuwendung bezieht sich ausschließlich auf den Vorgang der Selektion von Information, d. h. sie ist zwar extern kontrolliert (an exogene Ereignissen gebunden), aber impliziert ebenso interne (endogene) Faktoren, damit Selektion möglich wird.

Zwei unterschiedliche Selektionsprozesse können eine unwillkürliche Aufmerksamkeits-zuwendung auslösen:

Erklärungen für die Registrierung der situativen Abweichungen, die Aufmerksamkeits-prozesse auslösen, liefern sogenannte Pegelsprünge und Regelbrüche.

Ein Pegelsprung ist eine schlagartige Veränderung in einer Reizsituation, z. B. ein neuer Reiz erscheint oder ein Merkmal eines Reizes ändert sich und nimmt einen neuen Wert an (vor allem in der Akustik untersucht). Man vermutet dahinter einen einfachen sensorischen Mechanismus für die Registrierung der Abweichungen von einer momentanen Situation, der auf diskrete Veränderungen von sensorischen Merkmalen reagiert.

Ein Regelbruch tritt dann auf, wenn die Regelhaftigkeit einer zuvor bestehenden Ereignissequenz durchbrochen wird, z. B. ein tropfender Wasserhahn, der zu tropfen aufhört. Man nimmt an, daß ein komplexerer Mechanismus, der in der Lage ist, Abweichungen von einer zuvor bestehenden Ereignisstruktur zu registrieren, für diese Art der situativen Veränderung vorhanden ist.

Die zwei Mechanismen unterscheiden sich in ihrer Kodierung (sensorische Dimension vs. sequentielle Struktur) und in ihrer Zeitdauer (ein Pegelsprung wird schneller registriert als ein Regelbruch).

 

 

 

Pegelsprünge und unwillkürliche Aufmerksamkeit

 

Orientierungsreaktion

Def.: Eine Orientierungsreaktion (OR) ist ein Syndrom physiologischer und behavioraler Reaktionen, die eintreten, wenn es zu Veränderungen der Reizkonstellation kommt.

Zu diesen Reaktionen gehören z. B. die Alpha-Blockade im EEG, das Absinken des Hautwiderstandes, sowie Augen- und Kopfbewegungen in Richtung des Ortes, an dem die Veränderung stattfindet. Die OR ist ein Indikator dafür, daß aufgetretene Situations-veränderungen (z. B. Pegelsprünge) vom Organismus registriert worden sind.

SOKOLOV (1963) erklärt die Entstehung, die Habituierung (Gewöhnung) sowie Dishabituierung ("Ent-wöhnung") der OR mit seinem Konzept des "neuronalen Modells des Reizes". Eigenschaften eines permanenten oder sich wiederholenden Reizes werden in Form einer neuronalen Repräsentation des Reizes gespeichert (z. B. Intensität, Farbe, Reizdauer, etc.); wenn eine aktuelle Reizsituation nicht mehr mit der neuronalen Repräsentation übereinstimmt, erfolgt eine OR.

Ereigniskorrelierte Potentiale

Ereigniskorrelierte Potentiale sind hirnelektrische Potentialveränderungen, die in Verbindung mit bestimmten Ereignissen (z. B. Umweltreizen) auftreten. Die ERP- Forschung (ERP = event-related potential) liefert Befunde, wonach Pegelsprünge zu charakteristischen Veränderungen im ERP führen und mit unwillkürlicher Aufmerksamkeit in Zusammenhang stehen. Ein im Spannungs-Zeit-Diagramm abgetragenes ERP besteht aus mehreren negativen und positiven Maxima (zur Verdeutlichung: negative Auslenkungen befinden sich auf der positiven X-Achse, positive Auslenkungen auf der negativen X-Achse). Diese Komponenten werden durch Angabe ihrer Polarität (negativ oder positiv) und Zahl der Auslenkung in diese Richtung oder der Latenzzeit des Maximums der Auslenkung beschrieben. Nach einem Pegelsprung wird häufig eine N 1 (erste neg. Auslenkung) und anschließend eine P 2 (zweite positive Auslenkung) beobachtet. Dieses Erscheinungsbild spricht dafür, daß die im auditiven Cortex ablaufenden N 1-Generatorprozesse für die Auslösung der Aufmerksamkeits-zuwendung verantwortlich sind (NÄÄTÄNEN, 1990). NÄÄTÄNEN formulierte die Hypothese, daß auf z. T. subkortikalem Niveau bestimmte Reizeigenschaften extrahiert werden, die jedoch noch nicht bewußt wahrgenommen werden. Durch einen Pegelsprung werden Systeme aktiviert, die Interrupt-Signale an zentrale Verarbeitungsmechanismen senden, an denen N 1-Generatorprozesse, die eine Aufmerksamkeitszuwendung auslösen, beteiligt sind.

Reaktionszeitstudien

Aufmerksamkeitszuwendungsprozesse können nicht immer durch ein äußeres Verhalten, wie z. B. Augen- oder Kopfbewegungen beobachtet werden, da sie meist auf interne Vorgänge beschränkt bleiben. POSNER (1980) bezeichnet diese Prozesse als "verdeckte Orientierungen der Aufmerksamkeit" (covert orienting).

Zahlreiche Reaktionszeitstudien wurden durchgeführt, um die verdeckten Aufmerksamkeits-phänomene zu untersuchen. Mit der Frage, ob Personen die Richtung ihrer Aufmerksamkeit unabhängig von der jeweiligen Fixationsrichtung verändern können, beschäftigten sich POSNER, NISSEN & OGDEN (1978).

Experiment von POSNER, NISSEN & OGDEN:

Den Vpn wird ein Fixationspunkt im visuellen Feld vorgegeben. In diesem Bereich wird ein nach links bzw. rechts gerichteter Pfeil eingeblendet. Dieser dient als Hinweisreiz des nach einem variablen Zeitintervall dargebotenen Zielreizes, auf den die Person durch Drücken einer Taste reagieren soll. Die Kontrollgruppe erhielt keine Hinweisreize. Das Ergebnis war eine signifikant kürzere Reaktionszeit der VG auf Reize, die in der vorher durch den Pfeil signalisierten Richtung lagen, sowie eine signifikant höherer Reaktionszeit in der VG, wenn der Reiz in die entgegengesetzte Richtung der Pfeilspitze dargeboten wurde. Der Hinweisreiz (Pfeil) löste eine verdeckte Aufmerksamkeitszuwendung aus. Die Vpn richteten ihre Aufmerksamkeit bereits vor der Zielreizdarbietung in die vom Pfeil angedeutete Richtung.

Bei dieser Untersuchung handelte es sich um eine willkürliche Aufmerksamkeitszuwendung, da diese durch die Intention der Vpn ausgelöst wurde.

Experimente von YANTIS & JONIDES:

Um die situativen Auslöser unwillkürlicher Prozesse zu ermitteln, verwendetet JONIDES (1981) ein ähnliches Experiment. Die Vpn mußten aus kreisförmig angeordneten Buchstaben einen Zielreiz herausfinden. Ca. 100 – 50 msec vor Darbietung der kreisförmigen Buchstaben, wurde ein Hinweisreiz geboten, der sich in der Mitte des Displays (zentral) oder außerhalb des Kreises (peripher) befand. Das Resultat war überraschend: der periphere Hinweisreiz konnte willentlich nicht unterdrückt werden, selbst dann nicht, wenn die Instruktion gegeben wurde, den Hinweisreiz unbeachtet zu lassen. JONIDES & YANTIS zogen aus ihren Experimenten den Schluß, daß periphere Hinweisreize dann zum Auslöser für unwillkürliche Aufmerksamkeitszuwendungsprozesse werden, wenn sie abrupt erfolgen.

MÜLLER & RABBITT (1989) untersuchten den zeitlichen Rahmen, in dem sich unwillkürliche Aufmerksamkeitszuwendungsprozesse abspielen. Sie postulieren aufgrund ihrer Ergebnisse zwei unabhängige Aufmerksamkeitszuwendungsmechanismen:

Neuere Untersuchungen von YANTIS & JONIDES (1990) und THEEUWES (1991) widersprechen diesen zwei unabhänigen Mechanismen. Ein durch eine plötzliche Situationsveränderungen ausgelöster Aufmerksamkeitszuwendungsprozeß wird nicht vollständig extern gesteuert, sondern ist auch von internen Faktoren abhängig. Ihre Ergebnisse zeigen, daß ein abrupter Stimulus keinen unwillkürlichen Aufmerksamkeitszuwendungs-prozeß auslösen, wenn die Aufmerksamkeit durch einen vorangegangenen Hinweisreiz bereits gerichtet ist.

Zu klären bleibt, welche Zusammenhänge zwischen den situativen Variablen (zeitlicher Abstand zwischen Hinweisreiz und Zielreiz, Validität von zentralen und peripheren Hinweisreizen) und dem Grad der Aufmerksamkeitsfokusierung bestehen, und ob der Unterschied zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeitszuwendung nicht auf einen einzigen Prozeßmechanismus zurückzuführen ist, der auf Unterschiede in den auslösenden Bedingungen beruht.

Regelbrüche und unwillkürliche Aufmerksamkeit

Orientierungsreaktion

Eine OR erfolgt nicht nur auf Pegelsprünge, sondern auch auf Regelbrüche. Zu einem Regelbruch kommt es dann, wenn eine Abfolge von bereits dargebotenen Reizkombinationen verändert wird. Die Reizkombination kann aus verschiedenen Reizmodalitäten bestehen, wie z. B. einem Ton-Licht Paar. Eine Untersuchung von BADIA & DEFRAN (1970) zeigte, daß ein Regelbruch zu einer OR führt. Sie boten 15 mal einen Tonreiz gefolgt von einem Lichtreiz dar. Die 16. Darbietung, die nur entweder einen Tonreiz oder einen Lichtreiz enthielt, löste einen OR aus (vgl. Klassische Konditionierung von PAWLOW).

Diese Befunde implizieren einen Mechanismus, der in der Lage ist, Abweichungen im Kontext von regelmäßigen Ereignissen zu entdecken, d. h. in die Abfolge passende Reize von unpassenden Reizen zu unterscheiden.

Ereigniskorrelierte Potentiale

In Experimenten zur Untersuchung von Aufmerksamkeitsprozessen mittels ereignis-korrelierten Potentialen wird häufig das "Oddball-Paradigma" eingesetzt. Das ist die Darbietung von Reizsequenzen, die aus Standardreizen mit hoher Auftrittswahrscheinlichkeit und anderen Reizen (sog. Abweichler) mit geringer Auftrittswahrscheinlichkeit besteht. Unwillkürlich ausgelöste Aufmerksamkeitszuwendungsprozesse werden mittels passiven Oddball-Paradigma untersucht, wobei die Aufmerksamkeit der Vpn von den eigentlich interessierenden Reizen abgelenkt wird. Dies geschiet dadurch, daß die Vpn eine Aufgabe bearbeiten soll, die typischerweise eine andere Sinnesmodalität involviert (z. B. zu lesen und auditive Reize zu ignorieren, wenn auditive Reize untersucht werden).

NÄÄTÄNEN (1988) postuliert einen weiteren Mechanismus, der bei auditiven Reizen eine unwillkürliche Aufmerksamkeitszuwendung auslösen kann. Die MMN (mismatch negativy), ein Teil der N 2-Komponente, ist als Negativierung des abweichenden Reizes gegenüber dem Standardreiz sichtbar und kann bei diskreten Reizen deutlich besser zwischen Reizwiederholung und Reizwechsel unterscheiden. Der abweichende Reiz kann gegenüber dem Standardreiz Veränderungen in der Intensität, in der Reizdauer, im Ort des Schallsenders, im Interstimulusintervall oder in der Frequenz aufweisen. Eine mögliche Erklärung für das Auftreten von MMN liefert folgende Hypothese: die physikalischen Parameter eines Standardreizes werden zu einer neuronalen Repräsentation dekodiert, mit der jeder eintreffende Reiz verglichen wird. Wenn als Ergebnis eine Abweichung resultiert, tritt ein MMN auf, das wiederum eine OR auslöst. Die Situationen, die im passiven Oddball-Paradigma eine MMN auslösen, bedingen manchmal auch eine Positivierung nach etwa 300 msec (P 3).

Experiment ovn SQUIRES et al. (1977)

In dieser Untersuchung, in der kombinierte Licht-Ton-Reize dargeboten wurden (z. B. blaues Licht mit 1000 Hz Ton, orange mit 1100 Hz, blau mit 1100 Hz und orange mit 1000 Hz), ergaben sich bimodale Interferenzen. In einer Bedingung mußten die Vpn visuelle Abweichler zählen und akustische Reize ignorieren, und in einer anderen Bedingungen verhielt es sich umgekehrt. Erwartungsgemäß lösten die Abweichler in der gerichteten Modalität ein P 3 aus, aber auch Abweichler der nicht beachteten Modalität. Aufgrund dieser Resultate scheint es doch zu einer Aufmerksamkeitszuwendung durch handlungsirrelevante Abweichler zu kommen. Die P 3-Komponente könnte als Indikator einer Ablenkung der Aufmerksamkeit von der Primäraufgabe verstanden werden.

Mehrmals wurde die Wirkung von physischen und semantischen Abweichlern auf ERP-Komponenten untersucht.

BESSON & MACAR (1987) konnten in ihrem Experiment die Wirkung von Abweichlern von komplexeren Regelhaftigkeiten beobachten. Es wurden in 4 verschiedenen Bedingungen Reizserien zu je 7 Reizen dargeboten:

  1. 6- oder 7-Wortsätze, die wortweise visuell dargeboten wurden
  2. geometrische Muster von im Verlauf der Reizserie zunehmender oder abnehmender Größe
  3. Töne einer Notenskala mit im Verlauf der Reizserie zunehmender oder abnehmender Frequenz
  4. Phrasen aus bekannten Melodien

Versuchsdesign: 25 % der Reizserien endeten mit einem inkongruenten (nicht passenden) Reiz, wobei in

In den Bedingungen 2, 3 und 4 folgte auf inkongruente Reize nach 350 – 450 msec ein

P 3-Komplex. In Bedingung 1 wurde die P 3-Komponente von einer Negativierung der N 400 überlagert. Die Autoren vermuteten, daß es duch die ersten Wörter jedes Satzes zu einem semantischen Priming (Vorahnung) der Wörter kommen könnte, und daß voraktivierte Wörter leichter verarbeitet werden könnten. Kommt es nun zu einer Abweichung der geprimten semantischen Kategorie, schlägt sich das in einer N 400-Komponente nieder.

Das visuelle Suchen (siehe vorangegangene Referate) stellt einen kontinuierlichen Selektionsprozeß dar, in denen es zu Regelbrüchen kommt. Erwähnenswert ist hiebei nur, daß beim visuellen Suchen unspezifische Selektionsprozesse ablaufen, die auf internen Modellen beruhen. Diese Mechanismen sind aber noch weitgehend unbekannt.

Zusammenfassung:

Der Begriff unwillkürliche Aufmerksamkeit soll verdeutlichen, daß nicht die Intention einer Person zu einer Aufmerksamkeitszuwendung führt, sondern durch Reize der Außenwelt ausgelöst werden.

Eine spezifische Selektion führt zu einer willkürlichen Aufmerksamkeitszuwendung. Eine Selektion erfolgt unspezifisch, wenn Umweltereignisse durch ihre Beziehung zum situativen Kontext definiert werden, und sie ist Auslöser für unwillkürliche Aufmerksamkeits-zuwendungsprozessen.

So betrachtet, unterscheiden sich ein unwillkürlich ausgelöster Aufmerksamkeitszuwendungs-prozeß von einem willkürlichen, intentionalen lediglich in Bezug auf seine Ursache. Die Frage, ob es sich dabei um zwei unabhängige Mechanismen handelt, oder ob ein gemeinsamer Mechanismus durch vorhandene Reizklassen auf unterschiedliche Weise aktiviert wird, bleibt noch offen.