Tanz / Ritual -
Integrität und das Fremde

Copyright (C) Marianne Nürnberger 2001
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5. Teil


Vom Ritual zur Bühnenkunst ?

Günstige gesellschaftliche Bedingungen. Postkolonialer Nationalismus; Reimport und Revival 'nationaler' Tanzformen. Soziale und formale Neuorientierung.

 

Die Angehörigen vieler Kulturen gehen auch heute noch davon aus, dass sich nur in ihrem eigenen Kulturkreis eine hohe Zivilisation und Kultur mit entsprechender Tanzkunst entwickelt hat, während alle anderen Kulturen und auch ihren Tänzen Kennzeichen von Primitivität eigen sind. Dieser Sachverhalt legt selbst schon Zeugnis gegen die Wahrscheinlichkeit der Realität solcher Annahmen ab. Das Ritual ist keineswegs als gesicherter Ursprung der Tanzkunst aufzufassen, ebensowenig wie wir behaupten könnten, dass Kunst oder Spiel die Wiege der Religion sei,  - ein Umstand, der allein schon das Fragezeichen hinter dem Titel dieses Kapitels rechtfertigt. Die Bedingungen, die die Herausbildung virtuoser Tanzkunst fördern können, sind so vielgestaltig, dass eine transkulturelle Sichtung den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen würde. Es handelt sich hier keineswegs um lineare Entwicklung, ja noch nicht einmal um Entwicklung im Sinne einer Pendelbewegung zwischen Ritual und Bühnenkunst, sondern um einen sehr vielschichtigen und vielgestaltigen Prozess, der hier beispielhaft in seiner Komplexität erhellt werden soll. Im Hinblick auf die Herausbildung von Bühnentanz in westlichem Sinn, also als einer virtuosen Tanzform, die von Spezialisten aufgeführt in erster Linie der Unterhaltung eines passiven, bloß konsumierenden Publikums dient, die als Kunstform nicht per se auf eine spezielle Gesellschaftsschicht von Zusehern oder Akteuren beschränkt ist, sondern in öffentlichen Theatern und Ausbildungszentren relativ frei zugänglich ist, lassen sich jedoch einige Tendenzen aufzeigen, die häufig im entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit Bedürfnissen feudaler Gesellschaftsformen und/oder einer Etablierung im Gefolge der Herausbildung bürgerlicher Gesellschaftsformen stehen. In den nichtwestlichen Staaten entwickeln sich einige Besonderheiten in der kolonialen Epoche im Zusammenhang mit dem Import an gesellschaftlichen Voraussetzungen, in der postkolonialen Epoche mit der Bedeutung des Tanzes in der Selbstwertfindung der neuen Nationen.

 

 

Günstige gesellschaftliche Bedingungen

Hofkultur, Religion und das Fremde. Verbürgerlichung, Marktwirtschaft und Kolonialismus.

 

 

Hofkultur, Religion und das Fremde

 

Der Feudalismus war in den heute bekannten Ausprägungen nahezu überall auf der Welt die Wiege technisch anspruchsvoller unterhaltender Kunsttanzformen. Er förderte über unterschiedliche Patronatssysteme die Herausbildung von Spezialistenklassen, die ihre Kenntnisse und ihre Trainingsmethoden weitervererben und über Generationen verfeinern und verbessern konnten. Dies geschah oft Hand in Hand mit der Entwicklung aufwendiger religiöser Tanzriten, wobei sich Hofkultur und religiöser Ritus oft mehrfach berührten, besonders dort, wo sich die Herrscher selbst sakrale Verehrung zukommen ließen. Klerus und Feudalherrschaft standen jedenfalls meist in enger gegenseitiger Abhängigkeit.

Mit einigem Recht kann man zumindest einige der asiatischen Religionen, wie den Hinduismus, den Shintoismus, den Buddhismus, den Taoismus oder Zen als eigentliche Wiege von Kunsttanzformen bezeichnen, schwerlich jedoch das abendländische Christentum, das sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder recht radikal von Tanzdarbietungen distanzierte und auch nicht den Islam, dessen Derwischorden zwar heute als mystische Tanzorden einige Bekanntheit erlangen konnten, aber in historischer Perspektive als Tanzphänomen wohl nur als Randerscheinung von relativ geringer künstlerischer Bedeutung eingestuft werden können. Die Hofkulturen des Islam wie des Christentums, Moghule wie Kaiser, waren hingegen bisweilen sehr aktive Förderer der Tanzkunst und trugen wesentlich zur Entwicklung von Kunsttanzformen bei, indem sie Tanz mit all seinen ästhetischen, ideellen, repräsentativen, erzieherischen, unterhaltenden, emotionalisierenden, erbauenden und prunkvollen Möglichkeiten zu einem Teil der Hofkultur und des Hofrituals machten.

Die Entstehungsgeschichte des europäischen Balletts ist eng mit der sakralisierenden Form von Hofkultur verbunden, die der französische Absolutismus hervorbrachte. Hofballette wurden im Zeitalter des Barocks zu pompösen Inszenierungen unter Einsatz von Bühnenmaschinerien, Feuerwerken, prächtigen Kulissen, illustrativer Begleitmusik und phantastischen Kostümen und Masken. Immer wieder wurden in der Geschichte der europäischen Ballettkunst fremde kulturelle Einflüsse wirksam, wie sie im Kapitel 'Tanz und das Fremde' bereits angedeutet wurden. Die dort bereits als eine aus Fremdeinflüssen geborene Tanzform beschriebene Moreske gilt als wichtige Ursprungsform des Balletts, weil sich aus ihr um 1550 die ersten Intermezzi entwickelten, die an italienischen Höfen als Balletti, in Frankreich als Ballets, in geschlossener dramatischer Tanzszenenabfolge mit Gesang und Rezitation gezeigt wurden. Aus diesen Balletti, später Ballet de Cour (1572), entwickelten sich die verschiedenen Erscheinungsformen des Balletts als Tanzgattung (Ettl 1992b:122). Insofern als die Moreske auch Ausdruck der Konkurrenz zwischen Islam und Christentum war, belegt sie die mittelbare Art des Zusammenhangs zwischen Religion und Tanzgeschichte im christlich-islamischen Begegnungsraum, deren Kämpfe sich in den späteren Inhalten und Formen des Balletts niederschlugen.

Impulse erhielt das Ballett im Zeitalter des Barock auch von der Praxis der Jesuiten, die mit Hilfe von Theateraufführungen und ganz besonders mittels Ballett, das Volk der Kirche zuzuführen bestrebt waren. Aus dieser Praxis entwickelte sich das sogenannte Jesuitenballett, das in den katholischen Ländern Europas verbreitet war, und das sich in regem kulturellen Dialog mit den Tanz- und Theaterformen der Kolonien entwickelte. So sind zum Beispiel durch Leims (1990) Auswirkungen des Jesuitentheaters auf die Entstehung des japanischen Kabuki untersucht worden.

Am europäischen Hof wurden vorerst in erster Linie Volkstänze in ihrer zum Gesellschaftstanz verfeinerten Form getanzt. Vor allem unter Ludwig XIV wurden diese Inszenierungen dann zu mehrstündigen Darbietungen erweitert, in denen er sich selbst als Gottkönig verherrlichen ließ. Er inszenierte sich und seine Gefolgschaft in aufwendig choreographiertem Zeremoniell auf Empfängen und in eigenen Balletten, in denen er selbst als tanzender Sonnenkönig Apollo auftrat (z.B. Jonas 1993:73-82, Liechtenham 1993:41-52). Er begründete 1661 die erste staatliche Tanzschule Europas, die Académie Royale de Danse, weil er befand, dass die adligen Amateure, welche die Hofballette tanzten, den technischen Anforderungen nicht weiter zu genügen vermochten.

Weiter oben wurden bereits an Motivationen für die Vorliebe von Herrschern, wie Ludwig XIV, zum Tanz neben der performativen Eignung zum Herrscherkult und Gründen der politischen Ablenkung auch Erziehung und Disziplinierung genannt. Diese Motive wurden auch in Zusammenhang mit der tänzerischen Praxis am Hof von Java beschrieben. In Java kann man in ganz besonders deutlicher Ausprägung die Bedeutung des Tanzes in Hinblick auf die Pflege eines spezifischen Ehrenkodex des Hofes, in der Verbindung von Herrschaft, Religion und Disziplin, studieren. Sein Ethos beinhaltete außer der genannten erzieherischen Komponente auch eine Ideologie, die die Dienste an den Sultan - zu denen höfischer Tanz zählte - als Angelegenheiten der Ehre über den und in deutlichem Kontrast zum Bereich der minder geachteten kommerziellen Transaktionen stellte. Seinen Ausdruck findet dieser Ehrenkodes auch in dem spezifischen ästhetischen Konzept Javas, indem - ähnlich wie in dem bereits beschriebenen indischen - das Wort 'rasa' zentrale Bedeutung erlangt. In Java tritt dabei der Faktor der Vereinheitlichung der Gefühle und Gestimmtheiten von Performern und Publikum in den Vordergrund und mithin ein Faktor des aristokratischen Zusammengehörigkeitsempfindens (Hughes-Freeland 1979b:478). Auch in China und Korea war die höfische Tanzkunst ein Hort der Disziplin und Ethik, deren Ausdrucksformen dem Ordnungsgefüge des Konfuzianismus als herrschender Staatsphilosophie entsprachen (Odenthal 1998: 44).

Nach Liechtenham (1993:44,194) war das Hauptmotiv des Kaisers von Frankreich für die höfische Pflege der Tanzkunst die Körperschulung seiner Soldaten als Voraussetzungen für den Kampf. Der Tanz des französischen Barock bewies großes Verständnis für die Gesetze der körperlichen Bewegung. Die Regeln des klassischen Tanzes, die an der Akademie Ludwigs XIV kodifiziert wurden, nutzten nach Liechtenham bereits alle Möglichkeiten, den Organismus zu stärken, die Reaktionsfähigkeit zu steigern und den Körper leistungsfähiger zu machen (ibid.: 44). Auch in anderen feudalen Kulturen, wie etwa in jener der Rarotonga auf den Cookinseln (Jonas 1993:110), wurden athletische Formen von Tanz dazu benutzt, Krieger fit zu halten.

In Sri Lankas Tanzriten haben erst relativ spät akrobatische Tanzfiguren Eingang gefunden, die ihren Ursprung in den Darbietungen der Tanztruppen der Marine, des Heeres und der Polizei in Sri Lanka haben, die selbst erst im Zuge der postkolonialen Nationalbewegungen entstanden (Feldnotizen d.A. 1980). Der südindische Tanztheaterstil des Kathakali wurde hingegen bereits früh in seiner Entwicklung eng mit dem Hallenkampfsport Kalaripayattu verbunden, der militärischen Ursprungs ist. Dieser Kampfsport wurde durch die Nayars praktiziert, eine Kaste von Kriegern, die die Göttin der Schlachtfelder, Mahakali, verehrten. Sie hielten ein anspruchsvolles Training an speziellen Orten, die Kalari genannt wurden, ab. Nach und nach entwickelten sich aus diesen Übungen mit akrobatischen Bewegungsanteilen die Tanzformen des Kathakali, dessen Übungsplätze bis heute ebenfalls Kalari genannt werden. (Rao & Devi 1993:46, Zarilli 1995b: 178f ). Auch Kathakali Tänzer rekrutierten sich traditionell großteils aus miteinander verwandten Familienangehörigen der Nayar. Kathakali entstand möglicherweise im 16 Jh. als eine Reaktion auf die Erstarrung der Sanskritschauspiele. Es wurde zu einem kraftvollen Ritual für die Gemeinde und wandte sich gegen die Aggressionen fremder Völker ebenso wie es eine Bestätigung des Status der Nayars und auch der Nambudri-Brahmanen, unter deren Aufsicht die Kathakali-Dramen entstanden, darstellte. Darüber hinaus bestätigte Kathakali vielleicht auch maskuline Werte in einer Gesellschaft, die Abstammung und Wohnsitz maternal regelte (Manjusri Chaki-Sircar und Parbati K. Sircar, zitiert in Hanna 1983: 161). Der Kathakali-Stil enthält bis heute Elemente des militärischen Körpertrainings Keralas, Kalaripayattu oder kurz Kalari. Die Nayars, die die Schauspieler des Kathakali stellten, waren auch als Landarbeiter und Soldaten der herrschenden Familien und reichen Landbesitzer tätig. Das unglaubliche Durchhaltevermögen der Tänzer bei den mehrstündigen Aufführungen gehört zum Bereich des militärischen Ethos des Kathakali.

Die ersten bekannten Tanztheatergruppen Japans entstammten Familien, deren Aufgabe es war, Gagaku-Musik zu Bugaku-Tänzen an den japanischen Höfen aufzuführen. Ihre Tradition läßt sich mindestens bis in das frühe 8. Jahrhundert zurückverfolgen. Während der Blüte der Heian-Periode wurden viele künstlerischen Beschäftigungen populär, es kam zur Entstehung von Spezialisierungstraditionen in vielen Familien. Die daran anschließende mittelalterliche Periode brachte eine mehr formale Etablierung der Überlieferungslinien mit sich, welche sich auf einigen Gebieten, wie der Kunst des Blumenarrangements oder eben auch des No-Dramas und der Kunst seiner Begleitmusiker, bis heute erhalten haben. No wurde während der Tokugawa-Periode durch militärische Führungskräfte gefördert, die das hierarchische und stark familiengebundene sogenannte iemoto-Lehrsystem unterstützten und formalisierten (Hendry 1994:154). Am Hof des Kaisers von Japan, des Tenno, der als Mittler zwischen Gott und Mensch aufgefasst wird, spielt die Familie Tadamaro Onos seit 39 Generationen und fast zwölfhundert Jahren eine herausragende Rolle als Gagaku-Musiker. Präzision, Klarheit und Selbstbeherrschung sind die durch den ursprünglich exklusiv höfischen Tanz Bugaku verkörperten Ideale. Da ein Verziehen des Gesichts als Verstoß gegen die höfische Etikette galt, wurde der Gebrauch von Masken notwendig, um dramatische Inhalte zu gestalten. Diese bislang für die Allgemeinheit verborgene Kunst ist erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg öffentlich geworden, indem innerhalb des Palastbereichs ein Theater gebaut wurde, das die Tänze auch der Allgemeinheit zugänglich macht. Die Inhalte des Bugaku widerspiegeln die priesterliche Auffassung des Kaiseramtes in der prunkvollen Interpretation kosmischer Harmonisierungskonzepte (Jonas 1993: 99-102). Die kaiserliche Familie, die politische und religiöse Ämter vereinigt, erhebt den Anspruch von der Sonnenkönigin Amaterasu abzustammen. Jonas (ibid.: 102) gibt den Ursprungsmythos japanischen Tanzes wie folgt wieder:

Ame-no-uzume wurde die Schutzherrin von Tanz und Musik in Japan, dem Land der aufgehenden Sonne. Der Tanz wurde Bestandteil der Shinto-Rituale. Später wurden buddhistische Tanztheater-Prozessionen, Bankette mit prachtvollen Kostümen aus China und koreanische Tänze am japanischen Hof eingeführt. Über die Jahrhunderte hinweg entwickelte sich unter unterschiedlichen Einflüssen, die immer auch in einigen Aspekten als Entlehnungen deutlich sichtbar blieben, schließlich der Bugaku.

Während die genannten militärischen, repräsentativen, ethischen und politischen Vorteile einer höfischen Tanzdisziplin immer wieder eine tragende Rolle bei seiner Förderung durch den Hof gespielt haben, begründete sich die Entwicklung des städtischen Kunsttanzes letztlich auf dem standesgemäß bürgerlichen ethischen und Unterhaltungswert der Vorführungen.

 

 

Verbürgerlichung, Marktwirtschaft und Kolonialismus

 

In vielen außereuropäischen Ländern wurde erst im Gefolge der Kolonisationen ein Prozess der Verbürgerlichung der Gesellschaft eingeleitet. Als der Imperialismus und Kolonialismus seinen Verwaltungsapparat mitsamt der Geld- und Warenwirtschaft in bislang auf Tauschhandel basierende oder feudalistische Ökonomien brachte, entstand in den betroffenen Gesellschaften ein neues Bürgertum, das seine eigene Unterhaltungsindustrie hervorbrachte und nährte. Importierte Technologie und ausländisches Kapital brachten zusätzlich zu den Kolonialbeamten und Lehrern, Beamte und Angestellte als Angehörige einer neuen Mittelschicht hervor, die sich zumeist an kulturellen Vorbildern der Kolonisatoren orientierten. In diesem Umfeld entstand ein Bedürfnis nach städtischen Formen von Bühnenkünsten auch dort, wo sich noch keine derartige Unterhaltungsformen entwickelt hatten. Hier fand das bürgerliche städtische Theater mit seinen spezifischen Unterhaltungsformen seinen Nähr- boden und konkurrierte oder verdrängte bestehende ältere rituelle, volkstümliche und aristokratische Theaterformen.

Dies galt für europäische Länder ebenso wie für außereuropäische. In Ungarn bedeutete das Ausbleiben einer bürgerlichen Revolution nicht nur das Nebeneinander einer untergehenden regierenden einheimischen Aristokratie mit einer aufstrebenden deutsch und jüdisch dominierten Industrie, sondern über das fehlende Bürgertum auch fehlende bürgerliche städtische Theaterkultur bis ins 19. Jahrhundert. Die erste Blütezeit des städtischen ungarischen Theaters fand erst um die Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts statt. Die antibürgerlichen Bestrebungen des Faschismus und des Stalinismus brachten weitere Phasen der Verzögerung. In der Neuzeit brachte erst die relative Öffnung nach der Revolution von 1956 dem ungarischen Theater die Möglichkeit, sich voll zu entfalten (91).

 

Es war letztlich die technologische Entwicklung Europas, welche die Unterjochung weiter Teile der Erde ermöglichte. Die essentiell agrarische Kultur Indiens wurde durch die 'maschinelle Zivilisation' Europas besiegt. Mulk Raj Anand (1963: 59) weist darauf hin, dass sich diese Tatsache auch auf die Tanzkunst Indiens auswirkte, indem die Orientierung der Kunst hin zu einer Besänftigung der Natur gestört wurde. Die Veränderung der kreativen Formen fand in den Städten stets rascher ihren Ausdruck als auf dem Land. Vorerst trug die Tatsache, dass der Westen in Indien durch eine Macht vertreten wurde, die eine strikte Trennung ihrer Repräsentanten von den Einheimischen betrieb, dazu bei, dass es auch zu einer kulturellen Separation kam. Britische Beamte tanzten Walzer in der Viceregal Lodge, während die indischen Kulis dem Nautch in den offenen Bazarhöfen zusahen. Erst als die Reichen der indischen Oberschicht, die 'Brown Barons' und 'Big Babus', in die Gesellschaftszirkeln der Kolonisatoren, in den 'British drawing room', zugelassen wurden, begannen die Privilegierten unter den Indern die kulturellen Formen, die von ihren Patronen favorisiert wurden, zu imitieren (ibid.: 59f).

Entgegen der im Westen oft kolportierten Sichtweise ist die heutige Respektabilität des Tanzes jedoch nichts Neues in der Geschichte Indiens. Sie war zahlreichen Veränderungen unterworfen, sowie auch Status und Geschlecht der Tänzer stets Wandlungen ausgesetzt waren. Der Kuchipudi-Stil gehört zu jenen Tanzformen, die ursprünglich von männlichen Tänzer/Schauspielern der Brahmanenkaste gepflegt wurden. Irgendwann lehrten sie ihre Kunst in Gilden, die auch Frauen darin unterwiesen. Heute sind Frauen für Weitergabe und Aufführungen dieses Stils allein verantwortlich (Hanna 1983: 65f).

Die alten Tanztraditionen Indiens und der gesellschaftliche Status der Tänzerinnen waren zur Zeit der englischen Kolonisation jedenfalls gefährdet. Aus verschiedenen Gründen waren die Tänzerinnen als Konkubinen und Prostituierte in Verruf gekommen, wozu auch der Verfall der alten Patronatssysteme unter der Kolonialherrschaft beitrug. Die Briten sahen sich aufgrund ihrer Unkenntnis des kulturellen Werts der Tanztraditionen und ihrer viktorianischen Moralvorstellungen um die Jahrhundertwende dazu veranlasst, eine 'anti-nautch Kampagne' zu lancieren, um das Verbot des Tempeltanzes und der Rekrutierung von Mädchen zur Tanzausbildung durch die Göttertempel zu erwirken. 'Nautch' war die pejorative Bezeichnung, die die Engländer dem indischen Tanz gegeben hatten. Misra (1993:18 f.) ist der Ansicht, dass sich das Wort ursprünglich auf künstlerisch heruntergekommene Kathak-Darbietungen durch Kurtisanen (tawaífs) bezog. In jedem Fall wurde der Ausdruck 'nautch' bald unterschiedslos auf alle Tanzstile Indiens angewandt. Der südindische Tempeltanz vermochte als hochentwickelte indigene Proszeniumskunst (Gheerawo 1997a: 48) erst in der postkolonialen Phase das Erbe der westlich inspirierten Bühnenkunstformen in den städtischen Theatern anzutreten.

 

In Japan hatte es schon vor der Industrialisierung und Kapitalisierung Theater gegeben, die durch die höheren Ränge des Militärs patronisiert wurden. Japans Eintritt in die Moderne brachte einen Verfall des alten Patronatssystems. Die militärischen Patrone verloren Reichtum und Macht und die gesamte ökonomische Basis des Systems veränderte sich. Bühnenkünstler begannen vom Geschmack eines bürgerlichen Publikums abhängig zu werden und viele Künste wurden dadurch am Leben erhalten, dass amateurhafte Schüler für den Unterricht bezahlten. Das iemoto-System der Lehrtradition erhielt sich in einigen Kunstgattungen besser als in anderen und O'Neill (1984: 643) (92) hält unter anderem den Faktor der jeweiligen Kreativität und Entwicklungsfreudigkeit für ausschlaggebend (93).

In Sri Lanka war vor der englischen Kolonisation der Handel größtenteils ein Vorrecht der moslemischen Händlerschicht und auch der beiden vorangehenden Kolonialmächte, Portugals und Hollands gewesen. Die umfassenden strukturellen Änderungen unter den Briten brachten indes eine singhalesisch-tamilische Schicht von Händlern und Unternehmern hervor, die sich aus den wohlhabenderen Kasten rekrutierten. Diese konstituierten bald beträchtliche Teile des neue Bürgertums, das sich vor allem in der wachsenden Metropole Colombos konzentrierte. Unter ihnen entstand das Bedürfnis nach standesgemäßer Unterhaltung gemäß dem Vorbild der Kolonisatoren, wozu Ballveranstaltungen und Theaterbesuche zählten. Autochthoner Tanz bekam auch in Sri Lanka erst im Zuge der Befreiungsbewegung Bedeutung, als die Förderung der eigenen Kultur in einer Abgrenzung gegen die Kultur der Kolonisatoren notwendig erschien.

 

 

Postkolonialer Nationalismus

 

Als Reaktion auf den Export gesellschaftlicher Voraussetzungen und Kunstformen des Westens in die Kulturen der Kolonialländer werden zwei Kräfte nacheinander oder auch nebeneinander sichtbar. Einerseits wird der Geschmack der Eroberer in vielerlei Hinsicht zum Geschmack der Besiegten. Nicht nur weil es einem psychophysischen Bedürfnis nach Imitation der Mächtigen entspricht, sondern auch weil Ästhetik und Geschmack gewisse funktionale Kriterien haben, die von gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängen. So hat der Kolonialismus in vielen Regionen eine bürgerliche Gesellschaftsschicht hervorgebracht, die sich Unterhaltung wünscht und leisten kann, wobei das Unterhaltungsbedürfnis Vorlieben, die Zweck, Dauer und Ort der Darbietung betreffen, hervorbringt, wie ich noch näher ausführen werde. Die zweite Tendenz ist die Wiederbelebung jener Tanztraditionen, die die Eroberer abgelehnt oder pejorativ belastet hatten, in einer Gegenbewegung zur Erneuerung nationaler Werte und unabhängiger Kultur. Gerade in Ländern, in denen über Tanz durch dessen zentrale kulturelle Bedeutung auch stark Identität transportiert wurde, litt dieser oft besonders unter kolonialer Unterdrückung. Dies betraf nicht nur höfische Traditionen, sondern auch etwa den Tanz der Exorzismus- und Fruchtbarkeitsriten Sri Lankas oder schamanistischen Tanz in Korea. Aus Korea wird in diesem Zusammenhang berichtet, dass die Japaner Anfang diesen Jahrhunderts die heiligen Berge, die als Kraftzentren des Schamanismus galten, mit Eisenstangen durchbohren ließen, um den Widerstand der koreanischen Bevölkerung zu brechen (Odenthal 1998:42). Gerade ritueller Tanz ist oft Ausdruck und Träger der Autarkie und Selbstbestimmtheit eines Volkes, wird als solcher von Eroberern unterdrückt und erlangt in der Befreiungsphase neue Funktionen.

In Sri Lanka musste der entwertete Tanz der ländlichen therapeutischen und religiösen Riten erst einige Umformungen erfahren, um als Kunsttanz auf städtischen Bühnen nationalbürgerliche Akzeptanz zu erlangen. Zuerst waren es indische Vorbilder die als asiatische Pendants zu englischer Unterhaltung gepflegt wurden (94). Einigen engagierten Künstlern, allen voran Maurice Dias Chitrasena und seiner Gattin Vajira Dias, gelang es, den singhalesischen Tanz aus seinem rituellen Rahmen herauszulösen und zu einer anspruchs- vollen Bühnenkunstform umzuwandeln. Anders als in Indien erschien hier das rituelle Element in der Nationalbewegung als Gefährdung für den 'Wert' der Kunst. Ja, die eigentliche Kunsthaftigkeit und Virtuosität der singhalesischen Tanzstile konnte, aufgrund der spezifischen ideologischen Konditionierung durch den Rationalismus der Briten und die von ihnen beeinflusste rationalistische Ideologie des modernen Buddhismus, erst in der Entkleidung vom Ritual öffentlich sichtbar gemacht werden. Das war auch Ausdruck der bestehenden Widersprüche zwischen der herrschenden Religion, dem Theravada-Buddhismus, und einem synkretistischen und in Misskredit geratenen Volksglauben, mit magischen, vorhinduistischen, hinduistischen und buddhistischen Elementen, auf dessen Boden die Tanzrituale erwachsen sind (95). Anders als in Indien kam es in Sri Lanka auch nicht zu einem Reimport von verwestlichten Elementen indigenen Tanzes, denn singhalesischer Tanz war - und ist im übrigen bis heute, trotz einiger postkolonialer Tourneeaktivitäten von srilankischen Tanzensembles - weltweit wenig bekannt und erschien wohl auch aus westlicher Sicht als künstlerisch von geringerem Interesse als die kodifizierteren indischen Formen. Rituelle Inhalte wurden für die städtischen Bühnen Sri Lankas weitgehendst durch jene der indischen und singhalesischen historischen Epen und Erzählungen ersetzt. Nur sehr marginale Teile der Bühnenaufführungen behalten zuweilen bis heute zu einem geringen Grad rituelle Funktionen. Den größten Entwicklungsschub nahm der Bühnentanz nach der Unabhängigkeit Sri Lankas, als ein Bedürfnis für Repräsentation des neuen nationalen Selbstbewusstseins Nationaltanztruppen ins Leben rief, die auf Tourneen in die Welt hinaus geschickt wurden. Vor allem in diesem Kontext wurden Volkstänze und Teile von Riten in farbenprächtige Bühnenfolklore verwandelt, die bis heute dem Bedarf nach Repräsentationszwecken entgegenkommen.

Mehr als in Sri Lanka kam es in Japan und in Indien zu regen Befruchtungsprozessen zu Entlehnungen, Importen und Rückimporten, zwischen westlichen und indigenen Tanzschulen und -ensembles. In Japan wurde der Tanz von Avantgardisten der Fünfziger- und Sechzigerjahre durch den Butoh bereichert, der in späteren Kapiteln noch ausführlicher besprochen wird. Dieser Stil muss einerseits als eine Gegenbewegung zur Verwestlichung der japanischen Gesellschaft analysiert werden, andererseits steht seine stilistische Entwicklung so wie jene des japanischen Modern Dance in engem Zusammenhang mit gegenseitigen Befruchtungsprozessen zwischen Japan und westlichen modernen Tanzformen.

In Indien kam es früher als in Sri Lanka im Zuge der nationalen Befreiungsbewegung zu einer Rückbesinnung auf den eigenen Tanz. Wie ich im folgenden darlegen werde, kam es hier zu Prozessen der Umformung und teilweisen Neuerfindung von Tanz'tradition', um den neuen Bedürfnissen eines ebenfalls in erster Linie bürgerlichen und städtischen Publikums der höheren Gesellschaftsschichten gerecht zu werden. Diese Gesellschaftsschicht hatte mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten der Kolonisatoren auch deren Puritanismus übernommen, der einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der künftigen 'Nationalkunst' Tanz ausübte.

 

 

Reimport und Revival 'nationaler' Tanzformen

 

Nationalismus wird von Ethnologen als eine Art von kulturellem Selbstbewusstsein (Spencer 1990: 283) und einer Form von Kultur (Smith 1991: 94) beschrieben. Spencer spricht von Nationalismus als einem Stil kultureller Produktion, Hutchinson (1992: 108) von kulturellen Nationalisten, welche die missionarische Rolle moralischer Innovatoren in Krisenzeiten wahrnehmen, in denen die Gesellschaft zwischen Traditionalisten und modernen Gruppen polarisiert ist, um neue Matrizen für kollektive Identität und neue Richtungen kollektiver Aktionen zu entwerfen (Quellen zitiert nach Geanà 1997: 202).

Zu Anfang dieses Jahrhunderts waren in vielen westlichen Kulturen Künstler wie Philosophen auf der Suche nach neuen Leitbildern für eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befand, in die Fremde und ins Exotische ausgewichen. Ähnlich erging es jedoch auch den Kulturen des Ostens, deren Identität durch den Einbruch des Westens erschüttert worden war. Vor dem zweiten Weltkrieg begannen Japaner nach Deutschland zu reisen, um unter den Vertretern der Moderne, zum Beispiel unter Mary Wigman, Max Terpis oder Harald Kreuzberg zu studieren. Andere fuhren nach Amerika und lernten bei Martha Graham. Am Beispiel der Graham lässt sich sehr schön veranschaulichen, dass die Annäherung zwischen östlichem und westlichen Tanz in vielen Fällen durchaus gegenseitig war und auch zur Höherbewertung des Tanzes im westlichen Kulturraum beitrug. Bei den Gegenwirkungen zwischen Graham und dem japanischen modernen Tanz ist es von Interesse festzuhalten, dass Martha Graham ihrerseits bereits als Schülerin von Ted Shawn und Ruth St. Denis mit fernöstlichen und anderen außereuropäischen Tänzen konfrontiert worden war. Denis und Shawn verwendeten nichtwestliche Elemente nicht nur wegen ihrer exotischen Anziehungskraft, sondern auch um ihre Ideen über einen spirituellen und ethischen Wert des Tanzes zu transportieren, Ideen, die für die allmähliche Höherbewertung des Tanzes im Westen von Bedeutung wurden. Wie viele andere ihrer Zeit fühlte Graham jedoch bereits, dass die Auseinandersetzung mit einer großen Anzahl verschiedenen Arten von Tanz, wie dies Denis und Shawn praktizierten, wenig Zeit für eine tiefergehende Erforschung und Würdigung der einzelnen Stile übrig ließ. Einige ihrer Stücke griffen dennoch ebenfalls rituelle Themen außereuropäischer Tänze auf, dazu gehörte "Primitive Mysteries" (1931), das auf gewissen religiösen Zeremonien der Indianer des amerikanischen Nordwestens basierte und "Dark Meadow" (1944), das sich mit den universellen Zyklen von Geburt, Tod und Wiedergeburt auseinander setzte und eine thematische Brücke zwischen ihrem früheren Werk und späteren Arbeiten darstellte, in denen sie Themen der griechischen Mythologie, der Geschichte und des alten Testaments als Illustrationen universeller Züge behandelte. Martha Graham hatte außerdem jedoch noch eine andere und spezielle Verbindung zu Japan, bevor sie es selbst bereiste und bevor sie von japanische Studenten entdeckt wurde: Ihr 1935 uraufgeführtes Ballett "Frontier" markierte den Beginn ihrer langen und produktiven Zusammenarbeit mit dem japanischen Designer Noguchi, dessen sparsame und elegante Kulissen die Stimmungen ihrer Ballette, wie "Appalachian Spring", perfekt unterstrichen und so wesentlich zu ihrem Erfolg beitrugen (Steeth 1982: 208f). Nach dem zweiten Weltkrieg kamen einige Graham-Tänzer nach Tokyo, um dort am American Cultural Center zu unterrichten. Martha Graham selbst bereiste in den Fünfzigerjahren Asien. Sie hatte Vorführungen unter anderem auch in Sri Lanka und Tokyo und beeinflusste dort die modernen Tanzkünste. Unter den vielen anderen westlichen Truppen war es neben Martha Graham besonders das Bolschoi-Ballett dessen Auftritte in Asien neue Vorstellungen von Potential und Form von gruppenchoreographischem Bühnentanz prägte (Haerdter und Kawai 1988: 11-13, Nürnberger 1994:165, Wakamatsu 1995:209). Schon während des Krieges entstanden Tanzvorführungen, die westliche Elemente miteinbezogen, z.B. durch die große Tanzkompanie Toho oder den japanischen Choreograpen Baku Ishii. Letzterer war ein prämoderner Tänzer, der einen japanischen erzählenden Tanz unter Einbeziehung westlicher Musik und Pantomime begründete. Unter ihm lernten viele Tänzer unter anderem auch Tatsumi Hijikata (1928-1986), der als einer der Väter des modernen Butoh-Stils gilt. Nach 1945 übte der Wigman-Stil erneut einen bedeutenden Einfluss auf japanischen Tanz aus. Unter dieser zweiten Generation befanden sich Kuni Masami und Nobutoshi Tsuda an hervorragender Stelle, bei denen Miki Wakamatsu lernte (Wakamatsu 1995: 209f.). Kazuo Ôno, Altmeister und Virtuose des Butoh, verhalf dieser su

bkulturellen Tanzkunst 1977 zum Durchbruch und sorgte auch für das Entstehen eines europäischen Publikums für diesen Stil, der sich in seinen Ursprüngen gegen die Verwestlichung der japanischen Kultur wandte.

 

Zu Beginn dieses Jahrhunderts kam es auch in Indien nach und nach zu gegenseitigen Prozessen kultureller Befruchtung mit dem Westen. Schon als die Rajas in den Zwanzigerjahren in Indien im Sinne der britischen Kolonisatoren die ersten Schritte einleiteten, um den klassischen Tempeltanz zu eliminieren, begann sich in der Welt außerhalb Indiens ein erstes Verständnis und Interesse für die ästhetischen Vorzüge indischer Tanzformen zu regen (Academy 1983:6). Um 1947, dem Jahr des Sturzes der Rajahs, wurde dennoch aufgrund der Verordnung von Madras der Tempeltanz verboten. Der indigene Widerstand gegen diese Entwicklung blieb jedoch nicht aus. Basierend auf den noch erkennbaren Resten und Ruinen der Tanzkunst und auf den Erinnerungen der noch lebenden Künstlerinnen und Künstler hatte bereits zur Zeit des Inkrafttretens der Verordnung des Verbotes von Tempeltanz ein steter Wiederaufbau begonnen. Viele Tänzerinnen und Tanz- forscher bemühten sich in der Folge um die Rekonstruktion und Revitalisierung möglichst altertümlicher Formen des indischen Tempeltanzes, indem sie schriftliche Überlieferungen, aber auch ikonographische Darstellungen, Skulpturen und Reliefs der alten hinduistischen Tempel (96) analysierten. Zu ihnen zählt als eine der bemerkenswertesten Künstlerinnen und Natyashastra - Forscherinnen Padma Subrahmanyam, die eine Technik rekonstruierte, welche auf spezifischen karanas, als tänzerischen Einheiten, basierte, die eine größere Bandbreite an Bewegungen als die zeitgenössische klassische Tanzkunst des Bharata Natyam erlauben. Subrahmanyam nannte diesen rekonstruierten Stil, den sie an ihre Schülerinnen weitergibt, Bharata Nrityam (Gheerawo 1997:52).

Die Renaissance des Tanzes brachte eine Menge an Innovationen mit sich. Töchter und auch Söhne der gehobenen Mittelschicht und auch aus Brahmanenfamilien begannen verschiedene indischen Tanzstile zu kultivieren, die zuvor Vertretern bestimmter Schichten und bestimmten Geschlechts vorbehalten waren. Hochschulen nahmen sich des neuen Tanzes an und auch im Theater, bei Privatveranstaltungen und vor allem beim Film begann man - wenn auch vorerst meist seichte - Versionen des Tanzes zu zeigen.

Der Beginn dieser Entwicklung wird im allgemeinen mit dem Wirken von Anna Pawlowa in Indien gleichgesetzt. Es sind ihre Aufführungen um 1929 in Indien, denen das Wiederaufleben des indischen Interesses an Tanz oft zugeschrieben wird. Sie verblüffte Indien nicht nur durch ihre künstlerische Eigenart und oft als ätherisch beschriebene Anmut, sondern auch weil ihre Stücke auf indischen Themen basierten, ihre Choreographien und Tanzbewegungen von dem Beitrag ihres Tanzpartners, des jungen Inders Uday Shankar zeugten. Sogar ihre Ballettmusik war in halbindischem Stil von Cemelata Bannerjee-Dutt komponiert. Sie stellte den Indern durch jede ihrer gefeierten Vorstellungen und auch im Gespräch die Frage: "Und wo ist Euer Tanz?" (Hanna 1983:63f.). Sie ermutigte Uday Shankar, Menaka und Rukmini Devi dazu, sich der indischen Tanzkunst zuzuwenden, Künstler, die heute alle als Pioniere des neuen indischen Tanzes gelten.

Anna Pawlowa ist die bekannteste, aber nicht die einzige Tänzerin des Westens, die zu der neuen Blüte der Tanzkunst in Indien beitragen konnte. So werden Ragini Devi, geboren 1896 als Esther Sherman in Michigan, USA und die Amerikanerinnen La Meri und Ruth St. Denis, heute in Indien aufgrund ihrer Beiträge zur modernen indischen Tanzkunst ebenso gewürdigt (Misra 1992:2,5). La Meri gilt überdies als Entdeckerin des Tänzers Ram Gopal (Misra 1992: 68, Massey 1997:22), der ähnlich wie Uday Shankar indische Tanzkunst nach Britannien und in den Westen brachte. Die Tochter von Ragini Devi, Indrani, soll die erste professionelle Tänzerin gewesen sein, die den Kuchipudi-Tanz außerhalb Indiens vorführte. Sie unterrichtete Kuchipudi auch in den USA (Hanna 1983:69). Doch wie groß ist dieser allseits betonte Einfluss westlicher Künstler auf die indische Revitalisationsbewegung des Tanzes wirklich?

Die sogenannte 'Entdeckung' Uday Shankars - einer der Wegbereiter modernen indischen Tanzes - ging nicht so vor sich, dass Anna Pawlowa der alleinige Verdienst daran gebührt. Der Vater Uday Shankars organisierte während seines Aufenthaltes in London von 1914-1924 in Eigenregie Programme von "Hindu Balletten, Stücken und Konzerten", um in England indischer Kultur zu einem neuen Stellenwert zu verhelfen. Uday Shankar, der in London eigentlich Malerei studierte, involvierte sich als noch laienhafter Tänzer immer mehr in die kulturellen Aktivitäten seines Vaters und erwarb sich so bereits einen ersten künstlerischen Ruf. Anna Pawlowa hörte aufgrund dieses bereits bestehenden Rufes von Uday Shankars tänzerischem Talent als sie 1921/22 in London lebte. Sie besuchte einige seiner privaten Tanzabende und bat ihn schließlich, ihr bei der Choreographie von zwei indischen Themen, "Radha and Krishna" und "The Hindu Marriage" zu helfen. Diese Aufführungen passten gut in die Sehnsucht der Periode nach Exotischem und zeitigten zu Anna Pawlowas Nutzen sofortigen Erfolg. Anna Pawlowa entschloss sich deshalb, Uday Shankar auch zur anschließenden USA-Tournee mitzunehmen (Misra 1992:30), die ebenfalls in erster Linie ihrem eigenen Ruf zugute kam, bevor sie miteinander Asien bereisten.

Es darf nicht übersehen werden, dass das Revival der indischen Tanzkunst in erster Linie durch die aufopferungsvolle Weitergabe der traditionellen Tanztechniken trotz widrigster gesellschaftlicher Umstände in Indien selbst ermöglicht wurde. Die Bewahrung der Tanzkunst erscheint so vor allem als Verdienst einiger weniger traditioneller indischer Tänzerfamilien und Tanzlehrdynastien (Rebling 1981: 229-238). Gegen Ende des 19. Jh. begannen eine nachkommende Generation der mit den Kolonisatoren kollaborierenden indi- schen Mittelklasse gegen die billige Imitation der Kultur der Herrschenden zu revoltieren. Die fortschrittliche indische Intelligenz und unter ihnen an hervorragender Stelle die Familie der Tagores, initiierten ein nationalistisches Revival, das sowohl Protest gegen die Bürden der Briten als auch Anstrengung zur Wiederentdeckung indischer Traditionen war.

Der Dichter und Kulturpolitiker Rabindranath Tagore war weder für eine Ablehnung östlicher Formen noch für ihre Annahme. Er suchte eine Synthese auf einer Ebene tieferer Interaktionen zwischen beiden. In den 82 Jahren seines Lebens demonstrierte er nach und nach auf allen Gebieten der Kunst, Dichtung, Tanz, Musik Malerei und Handwerk, eine Methode, das indische Empfindungsvermögen in die neuen Techniken des Westens zu integrieren. Die wahre Bedeutung dieser Fusion wurde jedoch von der neuen indischen Intelligenz nicht immer ganz verstanden. Die indische Mittelklasse erging sich stattdessen in ad hoc Kombinationen verschiedener Kulturbestandteile in der Bekleidung, Ernährung, dem Ausdruck von Gefühl und Bewegung ebenso wie in den Denkgewohnheiten. Dies lies ihre Angehörigen, um mit Mulk Raj Anands (1963:60) Worten zu sprechen, sich 'in seltsame Montagen von indischen und europäischen Motiven' verwandeln. Aber es gab einige sensiblere Menschen, die sich 'der geborgten Federn' entledigten und die einen Prozess der 'beidseitigen Entdeckung' in der Art, wie sie Tagore angedeutet hatte, fortsetzten. Bis heute findet man in Südasien dieses Nebeneinander zweier kultureller Muster. Zum einen ist da ein wildes Nebeneinander von Artikeln der westlichen Zivilisation bis zu handgefertigten indigenen Produkte. Zum anderen findet man ausgereifte Produkte rhythmischen Empfindungsvermögens und der Absorption jener Techniken, durch die ein hoher Ausdruck auf der verinnerlichtesten Ebene von Achtsamkeit kommuniziert werden kann. Diese Entwicklung hat besonders auf dem Gebiet des Tanzes stattgefunden (ibid.).

Nach den ersten Innovationen des indischen Tanzes durch Uday Shankar, in denen klassische Formen auf neue Gebiete und Themen übertragen und zu diesem Zweck auch verändert wurden, war es vor allem die Truppe Ram Gopals, die auch im Ausland eine Welle der Begeisterung für indischen Tanz auslöste, als sie zum erstenmal 1939 in London auftrat (Academy 1983: 6). Indien reflektierte den wachsenden Status indischen Tanzes in der Welt mit intensivierter Erforschung seltener Tanzformen im eigenen Land und mit der Gründung von Hochschulen und anderen Lehrinstituten, die es ermöglichten, Tanz in großem Maßstab und auch mit staatlicher Finanzierungshilfe zu unterrichten. Dadurch wurde zum einen eine wichtige Alternative zur traditionellen Unterrichtsweise (guru-shishiya parampara) entwickelt, in der ein distinguierter Künstler als Lehrer (guru) sein Wissen an einen auserwählten Schüler (shishiya) weitergab, der mit ihm und seiner Familie eine Anzahl von Jahren gemeinsam lebte. Zum anderen gelang es, unbekannte oder seltene Formen wie den Chhau, der erst Ende der Siebzigerjahre außerhalb Bengalens gezeigt wurde, oder das Kudiyattam, das bis zur selben Zeit kaum jemals aufgeführt wurde, soweit wieder zum Leben zu erwecken, dass sie um 1982 populäre Bestandteile des Festivals of India in England waren (ibid.).

 

Soziale und formale Neuorientierung

Änderungen des Sozialstatus. Formale Neuentwicklungen. Wandel der Formen und Inhalte der Tanzlehre. Karriere.

 

Änderungen des Sozialstatus

Soziale Wertung der Tänzer. Soziale Funktion des Tanzes.

 

Soziale Wertung der Tänzer

 

Die soziale Wertung einer Tanzkunst drückt sich zum einen in der kulturellen Rolle aus, die sie der jeweiligen Kunstform gewährt, zum anderen im Status des Tänzers. Der gesellschaftliche Status von Tänzern ist weltweit sehr unterschiedlich. Obwohl die Wurzeln des europäischen Kunsttanzes in der Hofkultur des Absolutismus zu finden sind und sich die ersten Balletttänzer aus den Reihen der Adeligen rekrutierten, waren und sind Berufstänzer und -tänzerinnen aufgrund der Marginalisierung des Tanzes durch kartesische Vorstellungen und christliche Vorbehalte im Westen meist geringer geachtet als alle anderen professionellen Künstler.

Noch Rudolf von Laban (1989:85) schrieb über seine Berufswahl, er hätte sein Herz an den verachtetsten Beruf der Welt gehängt. Er war darum bemüht, dem Tanz eigenständige Bedeutung in Gleichrangigkeit zur Musik zu verschaffen und ihn aus seiner Funktion als bloße Illustration oder visuelle Begleitung von Musik zu befreien. Laban und seine Schüler tanzten deshalb gelegentlich auch ohne Musik oder bloß zu einfacher rhythmischer Begleitung. Laban drehte die übliche Unterordnung von Tanz unter die Musik sogar um. Nur wenige Jahre nachdem Isadora Duncan ihrem neuen Tanz gerade durch seine Verwendung als Illustration von ernster Musik seine Berechtigung als Kunst erkämpfen konnte, wurden bei Laban Rhythmen und Klänge von einem Ursprung als "hörbare rhythmische Gebärde" hergeleitet, wurde Musik solcherart zu einer Subform von Tanz. Er bezog sich dabei in seiner Argumentation auf die Kunst der sogenannten "Primitiven", die er gleichermaßen als "Naturzustand" des Menschen anzusehen scheint (Laban 1989: 112f) (97).

Dem Tanz einen gebührenden Platz unter den Künsten einzuräumen, war dann auch wichtigstes Ziel des 1. Internationalen Tänzerkongresses der im Rahmen der Deutschen Theaterausstellung 1927 in Magdeburg stattfand. Neben Rudolf von Laban waren auch andere zeitgenössische Größen des Tanzes, wie Anna Pawlowa, Mary Wigman und Oskar Schlemmer, Mitglieder des Organisationskomitees.

Die niedrige Wertung der Tanzkunst läßt sich bis heute anhand unserer Pflichtschullehrpläne ermessen. Im heutigen Österreich etwa hat dort Tanz - im Gegensatz zur Musik - keinen Platz. Dennoch gilt es in Mitteleuropa als unschicklich, überhaupt nicht tanzen zu können. Gesellschaftstänze können jedoch auch dann Bestandteil der Erziehung sein, wenn Tanzen als Beruf wenig geachtet ist. Auch heute lernt fast jeder Wiener irgendwann seinen Walzer tanzen. Der Besuch der Tanzschule ist für Angehörige der Mittelschicht lange Zeit ein fester Bestandteil des Erwachsenwerdens gewesen. Dem Tanz hat man in Mitteleuropa und in seinen Einflussgebieten oft hohen Wert für die Sozialisation zugesprochen. An diese Tradition konnte Laban, als einer der Begründer des Deutschen Ausdruckstanzes, für seine pädagogischen Vorstellungen anknüpfen. Sein erzieherisches Anliegen bezog sich dabei vor allem auf die Selbstwerterfahrung des Einzelnen in gemeinschaftlichen Feiern, die den Einzelnen über die Grenzen des Alltags hinaus erheben und ihm ethische und soziale Werte näher bringen können (Laban 1989:108f.). Laban half nach seiner Emigration nach England den modern educational dance (98) an englischen Staatsschulen und Lehrerausbildungsstätten (colleges of education) als Lehrfach einzuführen (ibid.: 245). Moderne indische Tanzorganisationen in England setzen sich heute, in Anlehnung an diese durch Laban mitbegründete Tradition, mit dem Bereich education (Erziehung) als eigenem Anwendungsbereich des indischen Tanzes auseinander, wie dies im vorangegangenen Kapitel "Multikulturalität und Tanz" dargelegt wurde.

In Amerika waren die ersten Bewegungskünstlerinnen und Balletteusen entweder aus der Arbeiterschicht gekommen, oder wie die Performancekünstlerin der Jahrhundertwende, Loie Fuller, in die Theaterwelt hineingeboren worden. Sie hatten nur wenig Chancen zu einem sozialen Aufstieg wegen der sozialen Stigmatisierung die dem schaustellerischen Tanz anhaftete. Als Duncan und später St. Denis es wagten, dem amerikanischen Publikum ihre Körper in leichter Bekleidung, in Anlehnung an Vorlagen vor allem aus dem griechischen und orientalischen Raum, zu zeigen, waren die Frauenkörper der amerikanischen Mittelklasse noch fest in Korsetts geschnürt und das trotz der modischen Leidenschaft für Radfahren und Gymnastik in den 1890ern und trotzt der Aktivitäten der Bekleidungsreformer. Zwischen 1911 und 1930 fand auf diesem Gebiet eine große Veränderung statt: quer durch Amerika wurden nun junge Frauen, die der Mittelklasse entstammten, Darstellerinnen in Theater, Film und Tanz. Die meisten dieser Tänzerinnen wählten ihren Beruf darüber hinaus nicht aus ökonomischen Gründen, wie dies noch für Duncan und St. Denis der Fall war. Tanz war einfach populär geworden. Es erforderte keine besondere Motivation mehr, von der Ausbildung in den Beruf einzusteigen, und das war ein Ergebnis der Pionierarbeit von Tänzerinnen wie Fuller, Duncan und St. Denis. (Thomas 1995:80 f.). Einiges zu dieser Entwicklung trug auch die allmähliche ideologische Höherbewertung des Tanzes über Einflüsse aus den tanzfreundlicheren Kulturen der Fremde bei, die von diesen Pionierinnen als Vorbilder verwendet worden waren.

In außereuropäischen Kulturen, besonders in asiatischen und afrikanischen Einflussgebieten genoss Tanz von alters her einen zentralen kulturellen und religiösen Stellenwert und hatte auch stets besonders vielfältige soziale Bedeutung. Dennoch sind auch hier die Tänzer und Tänzerinnen selbst keineswegs immer von hohem sozialen Status. In Sri Lanka war fast der gesamte Bereich des Ritualtanzes mit seinen drei großen Stilgruppen, Hochlandtanz, Tieflandtanz und Sabaragamuwa, auf Männer beschränkt, die der relativ niedrigen Kaste der Trommler angehörten (99). Für singhalesische Frauen aller Kasten, auch für die Frauen der Tänzer- und Trommlerkaste galt tanzen als unschicklich. Singhalesische Frauen, die öffentlich außerhalb von Bühnensituationen tanzen, begeben sich überdies bis heute in Gefahr, als von Dämonen besessen angesehen zu werden. Männern droht dieses Schicksal zwar weniger, aber auch unter ihnen war es bis vor wenigen Jahrzehnten hauptsächlich Vertretern der Kaste der Trommler (berava, von beraya: Trommel) vorbehalten, professionell für öffentliche Anlässe und in Ritualen zu tanzen, die nicht nur ihre eigene Kaste betrafen. Dort wo Tanz eng mit dem Ritualwesen verbunden ist, wie in Sri Lanka, kann man, wie bereits erwähnt wurde, als soziologisches Phänomen eine temporäre Statusumkehr beobachten. Für den Zeitraum des Rituals erfährt der ansonsten niedrigkastige oder sozial verachtete Tänzer eine Statuserhöhung, die ihn über die Masse aller anderen Anwesenden hinaushebt und ihm Würde und auch Befehlsgewalt über Angehörige höherer Gesellschaftsschichten verleiht. Durch die Einflüsse der modernen Bühnenkunst wird das Phänomen der Statusumkehr und jenes der Beschränkung auf bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgeweicht. Der Status der modernen Unterhaltungstänzer ist nicht mehr in der traditionellen Form ambivalent - das heißt hoch zu den zeremoniellen Anlässen, bei denen getanzt wird, und tief im Alltagsleben -, sondern hängt allein von Erfolg und Popularität ab.

Wie ich im folgenden noch darstellen werde, kam es in Indien, Sri Lanka und in Japan zu einer Entwicklung, die dem Tanz eine bedeutende Rolle in der Sozialisation vor allem von weiblichen Angehörigen der Mittelklasse zukommen ließ. Obwohl die wenigsten von ihnen professionelle Tänzerinnen werden, so bilden sie doch ein Publikum von Kunstkennerinnen, die dem Bühnentanz indirekt eine neue ökonomische Basis geben können, indem sie sowohl selbst ein gebildetes und interessiertes Publikum darstellen als auch als Erzieherinnen Einfluss auf Bildung und Interessen ihrer Kinder nehmen.

Die wichtigste Persönlichkeit des singhalesischen Hochlandtanzes in der Öffnung der Bühnentanzkunst für Frauen war Vajira Dias, Frau des berühmtesten Bühnentänzers des Landes, Chitrasena, die ebenso wie ihr Gatte der höchsten Kaste des Landes angehört, der Kaste der Landbesitzer (goyigama). Sie wurde zur ersten vollprofessionellen Bühnentänzerin des Landes. Heute eifern ihr Hunderttausende Tanzschülerinnen nach, die größtenteils nicht mehr der Kaste der Tänzer entstammen. Der überwiegende Teil dieser neuen Darsteller gehört der Mittelschicht an.

Die srilankische Kultur misst dem Tanz seit der Entwicklung des Bühnentanzes im Zuge der Nationalbewegung erneut eine besondere Bedeutung bei. Er wurde die nationale Kunst per se. Nachdem sich singhalesischer Tanz als national repräsentative und bürgerliche Kunst etabliert hatte, begannen staatliche Ausbildungsstätten die alte Tradition der Wissensweitergabe zwischen einem Lehrmeister und seinem Schüler (paramparawa) abzulösen (100). Diese staatlichen Bildungsanstalten waren im Gegensatz zu den alten Lehrformen allgemein zugänglich. Seit Anfang der Sechzigerjahre etwa unterrichtet eine wachsende Anzahl von Lehrern und vor allem Lehrerinnen eine große Menge vor allem an weiblichen Pflichtschülerinnen in den Grundkenntnissen srilankischen Tanzes. Tanz ist ein Pflichtfach des Grundschulunterrichts und ein Wahlfach der höheren Stufen der allgemeinbildenden Schulen (101) geworden. Diese Entwicklung im Gefolge der Bühnenkunst bewirkte eine weiterreichende Auflösung der gesellschaftlichen Beschränkungen des Zugangs zu tänzerischen Berufen.

In letzter Zeit kommt es, nach dem Eindringen von Männern aus nicht traditionell mit Tanz beschäftigten Kasten nun sogar zum Eindringen von Frauen in das vormals ausschließlich männliche Metier bestimmter Kasten, der auf die Heilung von Individuen ausgerichteten Exorzismustanzriten vom Typus der Südküstenregion (102). Frauen stellen den überwiegenden Teil der Bühnentanzbesetzung und der Tanzlehrer im Unterrichtswesen Sri Lankas, während in den traditionellen Tanzriten Männer bis heute in der Regel sogar die Frauenrollen einzelner Episoden tanzen. Die nationale Repräsentation in Tanzshows im Ausland und auf Empfängen durch Tanztruppen, die sich überwiegend aus Frauen zusammensetzen, wurde schon in den späten Fünfzigerjahren jedoch keineswegs mehr als widersprüchlich empfunden. Es wurden vor allem durch die Aktivitäten der Chitrasena School of Dance eigene Übungs- und Bühnenkostüme für Frauen in Anlehnung an die rituellen Männertrachten entwickelt, in denen heute in allen drei Lokalstilen auf der Bühne und in Schulen getanzt wird. Erleichtert wurde diese Entwicklung auch durch die Etablierung von sogenannten 'orientalischen Balletten' in denen von Anfang an Frauen Frauenrollen und Männer Männerrollen übernahmen.

Auch in Indien hat der Unterricht in indigenen Tanzstilen nach der Unabhängigkeit und im Gefolge der Entwicklung zur Unterhaltungskunst große Popularität erlangt, wobei die Einbeziehung in den Pflichtschulunterricht jedoch bislang nicht erfolgte. Die Entwicklung der Bühnenkunst brachte auch dort Änderungen in Bezug auf die Herkunftsgruppen. Heute tanzen sowohl Männer als auch Frauen Bharata Natyam, der sich aus dem Dasi Attam oder auch Sadir genannten südindischen Tempeltanz der Frauen, entwickelt hat. In Südindien tanzten einst nur initiierte Frauen diesen Stil. Andere Formen waren anderen sozialen Gruppen vorbehalten. So wurde schon erwähnt, dass nur Männer der Nayars den Kathakali-Stil der südindischen Tanzdramen tanzten.

Ähnlich, wenn auch nicht so dramatisch wie der Bharata Natyam erfuhr auch der Kathakali-Stil eine Serie von Veränderungen. Als Reaktion auf den Verfall des Kathakali unter dem Einfluss der britischen Kolonisation, der Verwestlichung und Industrialisierung im frühen 20. Jahrhundert kam es zu einer Wiederbelebung des Kathakali durch Mahakavi Vallattol Narayana Menon gemeinsam mit Manakkulam Mukunda Raja Tamburan um 1930 (Manjusri Chaki-Sircar und Parbati K. Sircar, zitiert in Hanna 1983: 161). Sie etablierten das Kerala Kalamandalam, eine Schule mit der Aufgabe der Weitergabe und Bewahrung der traditionellen Künste, die gegenwärtig staatlich unterstützt wird. Heute konkurrieren nicht miteinander verwandte Männer und auch schon vereinzelt Frauen um die Plätze an öffentlichen Tanzschulen dieses Stils. Abkömmlinge der berühmten Schule Kerala Kalamandalam errichten bereits ihre eigenen Kathakali-Schulen und unterrichten auch im Ausland. Die Vorführungen finden wie früher zuweilen anlässlich von religiösen und häuslichen Feiern als kostenlose Unterhaltung für die Bevölkerung der umliegenden Landstriche Keralas statt. Aber es gibt auch schon von Klubs arrangierte Vorstellungen bei denen Eintrittskarten verkauft werden (Hanna 1983: 157-158, 161, 165). Früher wurden Kathakali-Aufführungen durch die Könige der wenigen mächtigen Reiche von Kerala patronisiert (ibid.: 160).

Schon La Meri (1977:117) berichtet von Veränderungen in Aufführungen im Kathakali Stil. Außerhalb von Kerala würden seit kurzer Zeit Frauen die weiblichen Rollen der Tanzschauspiele überlassen. Frauen mit außergewöhnlichem 'Background' (es bleibt unklar ob La Meri auf Training oder Familie anspielt) würden an Kathakali-Schulen aufgenommen. Eine der zeitgenössischen Pionierinnen des Kathakali ist Vijayambigai (Interview 1994), die seit einigen Jahren in London ansässig ist. Das spartanische physische, moralische und intellektuelle Training der Kathakali-Tänzer, dass sich aus dem militärischen Training Kalari entwickelte, so berichtet sie, lässt sich nicht ohne weiteres auf den Unterricht von Frauen übertragen. Auch die aufwendige Schminkarbeit ist kräfteraubend. Vijayambigai führt zwar keine Tanzdramen in diesem anstrengenden Stil auf, verwendet aber Elemente desselben in ihren Stücken und Tanzschauspielen. Einige Frauen tanzen heute gewisse kleinere und profanere eigenständige Teile des Kathakali-Repertoires, wie z.B. den prächtigen Pfauentanz (kekiyattam), der in Amerika schon früh von der Tänzerin La Meri (La Meri 1939: 9) gezeigt worden war.

Während sich in Indien mit der Entwicklung öffentlich zugänglichen Tanzschulen unter finanzieller Unterstützung durch die Regierung Tanz zu einer anerkannten Beschäftigung vor allem für die Töchter der neuen Mittelklasse entwickelte, blieb die Akzeptanz von Tanz unter der indischen Emigrantengemeinde in Großbritannien bisweilen weit dahinter zurück. Noch 1983 beklagte Tara Rajkumar, dass zum Beispiel viele in England ansässige Punjabi-Familien den aus Nordindien und Pakistan stammenden Kathak immer noch mit dem Nautch, dem Tanz der Prostituierten, verbinden und ihn für ihre Kinder deshalb als nicht angemessen ansehen. Tara Rajkumar betont deshalb, dass eine Weiterbildung der Erwachsenen in der Emigration notwendig wird, um den Nachfolgegenerationen einige veraltete Vorurteile ihrer Eltern zu ersparen (Academy 1983:6).

Tanz war auch in Japan auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen beschränkt. In Japan tanzten seit dem 18. Jahrhundert nur Männer den Kabuki, obwohl der Überlieferung nach Okuni, eine Frau, den Tanz in der Wende zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert begründete. Es gab jedoch enge Verbindungen zwischen Kabuki und Prostitution (Hanna 1983:114), denen man mit der Vermännlichung der Kunst zu entgehen suchte. In Japan hieß die erste Pionierin des modernen weiblichen Kabuki-Stils Kumehachi (1845-1913). Ritsu-ko Mori war dann die erste Frau aus einer 'guten' respektablen Familie, die auf der Bühne tanzte. Die Wiedereinführung weiblicher Tänzer auf der Bühne ist durch den westlichen Einfluss und hier wieder einmal insbesondere durch das Auftreten Anna Pawlowas (während ihrer Japan-Tournee 1922) unterstützt worden (Hanna 1983:117, Wakamatsu 1995:209). Erst 1966 wurde das Nationaltheater Japans mit dem Zweck gegründet, gefährdete Formen wiederzubeleben. Dazu zählte auch der Kabuki, der sich vorerst zu einer exklusiven und teuren Unterhaltung hin entwickelt hatte, welche nur den obersten Klassen zugänglich war. Heute gilt Tanz auch in Japan als respektable Beschäftigung mit erzieherischem Wert. Etwa eine Million Kinder beiderlei Geschlechts, die größtenteils aus der Mittelklasse stammen lernen an über 200 Schulen klassisch japanisch tanzen (Wakamatsu 1995: 118).

 

 

Soziale Funktion des Tanzes

 

Das Überleben der Tänzer als Künstler hängt in westlichen und anderen kapital- und marktorientierten Kulturen weitgehend von dem Grad ihrer Bekanntheit ab. Das drückt sich am Offensichtlichsten in den ökonomischen und sozialen Mechanismen des Starkults aus. Wird keine Korrektive durch kulturpolitische Maßnahmen gesetzt, wie sie im folgenden Kapitel über die Erneuerung ritueller Funktionen der Tanzkunst näher behandelt werden, so bestimmt nicht ihre Funktion für die Gesellschaft den Wert der Künstler und Künstlerinnen, sondern der Grad der Verkaufbarkeit, d.h. in erster Linie der Unterhaltungswert ihres Kunstproduktes. Entsprechend wurde und wird immer wieder auf anspruchsvolle Inhalte zugunsten anziehender 'Verpackungen', Originalität, Kostümierung oder inhaltsentleerter Virtuosität, verzichtet.

Demgegenüber tritt in außereuropäischen Gesellschaften die Bedeutung der sozialen und religiösen, der moralischen und ethischen Funktion des Tänzers oft deutlicher in den Vordergrund. Technische Gewandtheit kann z.B. gesellschaftlich weniger geschätzt sein als die jederzeitige Verfügbarkeit des Künstlers, seiner Gemeinschaft zu dienen (Diallo und Hall 1989: 47). Der Tänzer und auch Musiker ist in vielen Gesellschaften für die Wiederherstellung sozialer Harmonie und für die Vermittlung von Spiritualität durch ein kollektives Erlebnis mit sakraler Bedeutung verantwortlich. Dies gilt besonders dort, wo Konzepte von einer Möglichkeit der Besessenheit existieren, entweder als ein pathologisches Modell, verursacht durch übelwollende Geister, Dämonen oder Götter, oder im Sinne einer Kommunion zwischen Mensch und Heiligem, dem Willen der Ahnen, Geister und Götter, im Sinne eines sakralen und harmonisierenden Ereignisses. Rhythmische und tänzerische Bewegung kann aber auch zum Beispiel gezielt dazu eingesetzt werden, das Arbeiten in Gruppen zu erleichtern und zu verschönern, wenn etwa das gemeinschaftliche Stampfen des täglichen Korns im Mörser durch die Begleitung eines Musikers gewohnheitsmäßig in einen rhythmischen Stößeltanz der Frauen transformiert wird.

Ganz im Gegensatz zu den Erfordernissen kommerzialisierter Kunst sind Starkulte gegenüber solchen älteren gesellschaftlichen Funktionen oft geradezu kontraproduktiv. Anonymität muss nicht, kann aber durchaus die Regel sein. Berühmtheit als 'Kunstarbeiter' - denn außerhalb der westlichen Einflusssphäre existiert seltener ein von der 'normalen' Arbeitswelt losgelöstes Konzept von Kunst - bedeutet dann oft nicht so sehr materiellen Besitz als gesellschaftliche und moralische Verpflichtung, welche mit einer gelebten sozialen Vorbildshaltung einherzugehen hat.

Als Interaktion offenbart gestische Bewegung Kultur. Tanz ist mehr als interaktive gestische Bewegung. Tanz ist auch im Westen Ritual in dem Sinn, als er in einer umfassend weltanschaulichen, ideologischen und kosmologischen Weise kulturelle Identität offenbart und konstruiert und ein erhöhtes Erleben derselben ermöglicht. Tanz hat wie das Ritual 'indexikalischen Wert' (Hanna 1987: 3f, Tambiah 1979:119). Er bedeutet, dass Tanz so wie Ritual in vielfältiger und redundanter Weise auf Kultur und Kulturerklärung verweist. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Tanz ebenso wie Ritual auf kosmologischen und ideellen Konstrukten beruht, diese unterstützt, verändert, erzeugt und so perfektester Ausdruck der 'Verkörperung von Kultur' ist. Deshalb hat Tanz auch ein gewisses explosives Potential, indem er zu Neuem drängen kann und Normen infrage stellen kann.

Die rituellen Aspekte und Funktionen von Tanz verschwinden in der Entwicklung eines profanen Kunsttanzes nicht zur Gänze (siehe auch Kap. 5), treten aber doch im Zuge der Verbürgerlichung und Vermarktung hinter dem Unterhaltungsaspekt zurück. In Indien verschwanden rituelle Traditionen nicht nur rein sachlich nicht, sondern deren Wandelzustände wurden durch die postkoloniale nationalistische Ideologie auch noch in bemerkenswerter Weise in einem Prozess der Erfindung von Tradition mythisiert. Der zuvor 'Dasi Attam' oder auch 'Sadir' genannte Bharata Natyam ist aller Wahrscheinlichkeit nach 'nur' etwa 300 Jahre alt. Er ist damit gewiss nicht so alt wie das dem Weisen Bharata zugeschriebene Natyashastra. Ein konstantes Repertoire wurde nach Jeyasingh (Academy 1994:7) erst im 18.Jhd. von vier Hofmusiker in Südindien festgelegt. Die vier Hofmusiker hatten den Sadir damals zu einer Form höfischen Unterhaltungstanzes weiterentwickelt und neukodifiziert. Jeyasingh (ibid.) schreibt:

Dieser Tanz wurde nicht von ungefähr in 'Bharata Natyam' umbenannt. Der Name 'Bharata Natyam' war ein Symbol für eine neue Elite und für eine neue Ideologie des angehenden 20. Jahrhunderts. Die Namensänderung, die den ehemals so verfemten südindischen Tempel- und Prostituiertentanz zu einem Nationalsymbol ersten Ranges machen konnten. Er wurde benannt nach dem legendären Autor des Natyashastra, Bharata Muni, damit er zu einer 'ursprünglichen, traditionellen' und vor allem 'heiligen' indischen Tanzkunst erhoben werden konnte. Seine Ursprünge wurden in dieser ersten Zeit seiner Umbenennung hypothetisch und noch mehr als dies de facto schon der Fall war in den rituellen Bereich verpflanzt, um ihn dann wenige Jahre später desto glorreicher in eine neue postkoloniale und marktwirtschaftliche Zukunft des Bühnentanzes und entritualisierten Kunsttanzes transformieren zu können, der als der neuen Zeit gemäß erachtet wurde.

Das Natyashastra (Bharatamuni, undat.) belegt zum einen die ursprüngliche Verbindung von Tanz und Theater, zum anderen von Ritual und künstlerischer Unterhaltung im südasiatischen Raum. Es beschreibt eine Tanzform, wie sie noch vor der Trennung zwischen der profanen höfischen, der sakralen Tempeltanzformen und verschiedener heute bestehender Stile und Volkstanzformen bestand, der ein breites Spektrum an Darbietungen von Solos bis zu tanzdramatischen Interpretationen durch mehrere Tanzschauspieler umfasste. Es ist daher irreführend von einem Primat einer rituellen Soloform bereits in der frühen Geschichte der Entwicklung des Stils des südindischen Tempeltanzes auszugehen.

Nilima Devi und Werner Menski (Interview am 22.3.1994 in Leicester) erklären, dass die Erfindung sakraler Wurzeln ebenso wie die Betonung der Verbindung zu den Königshöfen für die modernen Förderer des Bharata Natyam die Funktion hatte, diesen Tanzstil über andere Tanzformen, auch über andere Formen indischen Tanzes, zu erheben. Seine unmittelbare Nähe zu dem im Natyashastra in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit beschriebenem Tanz wurde postuliert und alle anderen Tanzstile mehr oder minder zu Varianten dieses 'Urstils' erklärt, so wie überhaupt die Vielfalt ehrwürdiger Tanztraditionen lange Zeit gering geachtet wurde (Bharucha 1995: 39 ff.):

Der klassische Tanz der devadasis, der Tänzerinnen der südindischen Tempel, der viele Generationen lang von der Mutter auf die Tochter weitergegeben worden war, galt nicht als ein Thema, dass gebildete Inder in Gegenwart ihrer Kinder diskutiert hätten. Hochkastige Hindus hätten ihren Töchtern in keiner Weise erlaubt, mit einem Tanz in Kontakt zu kommen, der von Prostituierten praktiziert wurde. Es war, wie bereits dargelegt wurde, der bengalische Dichter, Rabindranath Tagore, der als einer der ersten dieses gesellschaftliche Tabu brach. Er gründete um 1901 mit Hilfe des englischen Pädagogen Leonard Elmhirst, dem Begründer der Dartington Hall in Devon (Großbritannien), das Bildungszentrum Shantiniketan in Bengalen. Tagore betonte die Rolle von Musik, Tanz, Theater, Malerei und Bildhauerei im Unterrichtsprozess und überredete führende Musiker, Tänzer und andere Künstler in Shantiniketan zu unterrichten. Später, um 1930 etablierte der Dichter Vallathol Menon das Institut Kerala Kalamandala in Kerala, um dem Kathakali-Tanzstil zu fördern. In Madras hielt die Stigmatisierung des Tempeltanzes lange an und erst als die beiden Angehörigen der Brahmanenkaste, E. Krishna Iyer und Rukmini Devi ihren Tanzkreuzzug starteten, wurde der Dasi Attam nach und nach respektabel und in diesem Prozess in Bharata Natyam umbenannt. (Massey 1997:20)

Die Tatsache, dass sich die 1928 gegründete Music Academy in Madras dieses Stiles besonders annahm, kann als politische Gegenbewegung zu jener den Tempeltanz ablehnenden Haltung verstanden werden, welche schließlich 1947 zur Prohibition des Tempeltanzes durch den Madras Devadasi (Prevention of Dedication) Act führte. Zu den Unterstützern dieses Gesetzes, das die Rekrutierung neuer Tempeltänzerinnen unter Bestrafung stellte, zählten auch Anhänger der alten Kolonialregierung. Ihre Anhänger galten als die 'Progressiven'. In der Gegenbewegung der 'Traditionalisten' deren Protagonisten brahmanische Repräsentanten der indischen Nationalbewegung waren, nahmen nur einzelne Europäer aktiv teil - zum Beispiel Mitglieder und Begründer der Theosophischen Gesellschaft, allen voran Annie Besant. (Bharucha 1995: 41, Gaston 1996:42-45)

In den Zwanzigerjahren, als sie Indien und den fernen Osten bereiste, übernahm Anna Pawlowa ihre Rolle im indischen Tanzrevival. Pawlowa inspirierte Menaka dazu, die erste Exponentin des nordindischen Kathak-Stils zu werden, die keine bai oder tavaif (Kurtisane) war. Vor Menaka hätte sich kein ehrenhafte Hindu, Moslem oder Sikh-Familie mit Kathak abgegeben, der nach gängiger Ansicht in den Bereich der Kothas, der Freudenhäuser, gehörte. Die berühmteste Person, die durch Pawlowa inspiriert wurde, war Uday Shankar, dessen Begegnung mit ihr bereits weiter oben diskutiert wurde. Pawlowa war es auch, die Rukmini Devi dahingehend beriet, ihr Studium des russischen Balletts an den Nagel zu hängen und stattdessen das tänzerische Erbe ihres eigenen Landes zu erkunden. So wurde Rukmini Devi zur ersten und bedeutendsten südindischen Tänzerin die keine devadasi war.

Die Madras-Bewegung war nicht nur als Unabhängigkeitsbewegung überaus erfolgreich, sondern auch, indem sie dem Bharata Natyam zum indischen Nationaltanz hochstilisierte und ihm zu einer ungeheuren Popularität verhalf. Die indisch-nationalen 'Traditionalisten' trugen indes ebensoviel dazu bei, dass die Überlieferungs-Tradition der Tempeltänzerinnen zum erliegen kam, wie die kolonial orientierten 'Progressiven', indem sie die Kunst aus den Händen der devadasis in jene der Brahmanen und später in die der Mittelklasse legten (Bharucha 1995:46, Gaston 1996:45). Darüber hinaus brachte die Madras-Bewegung eine bemerkenswerte Begriffskonfusion mit sich: Die amerikanerische Tänzerin und Tanztheoretikerin La Meri, mit dem bürgerlichen Namen Russel Meriwether Hughes, die in dieser Zeit Indien besuchte, glaubte aufgrund der kursierenden Ideologien, dass Bharata Natyam neben der Bezeichnung für einen Lokalstil auch allen indischen Tanz bezeichnen könne, was, wie sie meinte, zu einiger Verwirrung beitrage und fährt in einer ihre Unkenntnis entlarvenden Verwechslung von Ursache und Wirkung fort:

Bharata Natyam wurde für den politischen Zweck der nationalen Unabhängigkeit funktionalisiert. Dafür musste er jedoch von den Vorwürfen der Tugendlosigkeit gereinigt werden, indem das ungeliebte 'Kapitel' der Tempelprostitution zu einer späten Degenerationserscheinung erklärt und solcherart 'geschlossen' wurde. Gaston (1996) erklärt eindringlich, wie der Tanzstil in der Folge eine, keineswegs widerspruchsfreie, Phase der 'Reinigung' von erotischen Konnotationen durchlief. Der performative Anmutungszustand der Verliebtheit, shringara rasa, der ein essentieller Bestandteil des Sadir der hinduistischen Tempel und der Königshöfe war (104), wurde für die moderne Brahmanisierung der Tanzkunst durch bhakti, als eine von erotischen Elementen gereinigte hingebungsvolle Verehrung Gottes, ersetzt. Gegner dieser Bewegung, wie Balasaraswati, die aus einer traditionellen devadasi-Familie stammte, argumentierten, dass shringara rasa ein Element von bhakti sei (ibid.: 48 f). Bharata Natyam erhielt jedenfalls erst durch diese komplexe und teilweise fiktionsorientierte Kulturpolitik das Potential, sich zu einem städtischen Bühnentanz und in der Folge zur beliebtesten Form künstlerischer Sozialisation für Frauen zu entwickeln. Nilima Devi versicherte mir, dass Bharata Natyam sich infolge dieser nationalen Kampagnen unproportional weit über sein ursprüngliches Gebiet hinaus verbreitete. Auch im Gujarat, in ihrem Heimatland, hat der Bharata Natyam längst an Popularität dem dort eigentlich ansässigen Kathak-Tanzstil den Rang abgelaufen (Interview vom 22.3.1994 in Leicester).

Die sozialisierende Funktion des Tanzes dominiert heute in Südasien wie auch in der südasiatischen Diaspora in mancher Weise über seiner künstlerischen Bedeutung. Mittelklassetöchter indischer oder srilankischer Herkunft erlernen Tanz, weniger um später als professionelle Tänzerinnen zu arbeiten als um sich bessere Heiratschancen zu sichern. Künstlerischer Tanz ist so zu einem weitverbreiteten Mittel insbesondere weiblicher Sozialisation geworden. Die indischen und srilankischen Mittelklassefamilien investieren beträchtliche Summen in den Tanzunterricht ihrer Töchter. Der erste öffentliche Auftritt, die auch eine Art Abschlussprüfung darstellt, das Arangetram, kostete 1995 in England dann noch einmal um die 8.000 engl. Pfund. Mira Kaushik (Interview 1995), Direktorin der Academy of Indian Dance in London, erklärte mir den gesellschaftlichen Zwang, der sich dahinter verbirgt. Denn Mittelklassetöchter absolvieren ihr Arangetram im Alter von 14, 15 Jahren mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie später ihr GCE und A-Level absolvieren. Ihre Berufsausbildung steht in den meisten Fällen dann in keinem Zusammenhang mit Tanz.

Solche Zeremonien finden in einzelnen Fällen auch schon viel früher statt. Ich hatte während der 1995 in Wien stattfindenden Tagung der deutschsprachigen Ethnologinnen und Ethnologen Gelegenheit, eine Videoaufnahme über das Arangetram von Vijayambigais Nichte zu zeigen, in dem man das ungewöhnlich junge, erst achtjährige Mädchen in reicher Ausstattung unter Begleitung eines indischen professionellen Ensembles auf einer unter anderem durch ein großes Gemälde des elefantenköpfigen Ganesha (105) geschmückten Bühne virtuos tanzen sieht. Die Ausstattung der Arangetram-Bühne mit Ikonographien, Öllämpchen und Räucherstäbchen, die weit verbreitet ist, deutet auf eine allgemeinere Tendenz der Resakralisierung der Zeremonie des ersten öffentlichen Auftritts hin.

Eine immer wiederkehrende Tendenz zur Resakralisierung und Reritualisierung des modernen indischen Bühnentanzes spiegelt sich auch außerhalb des Arangetram in der Verwendung von Einleitungssequenzen, die an Tempelriten erinnern, wie die Verwendung von Gesten der Andacht und das andachtsvolle Entzünden von Öllämpchen, die gewissen Konjunkturen und Moden ausgesetzt sind. Sie entsprechen der Funktionalisierung des rituellen Aspekts für die Erhöhung der kulturellen Geladenheit des gezeigten Tanzes und bestätigen die wichtige soziale Rolle, die Tanz als Mittel der Herstellung kultureller Identität erfüllt. Man kann solche Tendenzen auch in den Vorführungen afrikanischer oder afrokaribischer Provenienz beobachten, wo sie ganz ähnlichen soziokulturelle Motiven entspringen.

Die enge Verbindung des indischen Tanzes mit sittlichen, religiösen, spirituellen und philosophischen Konzepten macht das Arangetram heute zu einer Einweihung in die indische Kultur im allgemeinen und gilt als Voraussetzung zur Heiratseignung südasiatischer Mädchen. Es ist demgegenüber bemerkenswert, dass die Weihung der traditionellen Tempeltänzerin vor der Prohibition in Indien die Verehelichung mit einer männlichen Gottheit, oft mit Shiva, bedeutete und praktisch die Ehelosigkeit, aber auch einen ganz speziellen liminalen und ambivalenten Gesellschaftsstatus nach sich zog (Kersenboom 1993: 136f.).

 

Auch in Japan ist in mancher Hinsicht der Prozess des Tanzenlernens heute wichtiger als der Beruf des Tanzes. So tritt auch dort der sozialisierende Aspekt des Tanzes in der Moderne stark in den Vordergrund. Auch in Japan lernen Mädchen im Alter zwischen 8 und 15 Jahren, die der Mittelklasse angehören, Tanz ganz selbstverständlich, so wie sie in diesem Alter in Japan die Kunst des Blumenarrangements oder der Teezeremonie erlernen. Nur sehr wenige der etwa einer Million an Tanzschülerinnen und -schüler können in Japan damit rechnen, später einmal durch Tanz ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Von dieser großen Anzahl bewerben sich nur etwa 200 für jeden der 15 tanztechnischen Wettkämpfe, die jährlich in Japan stattfinden. Nur 20 davon kommen über eine Video-Selektion in die Endauswahl. Die Gewinnerin oder der Gewinner konnte in den Neunzigerjahren jedoch immerhin mit einer Förderung von Yen in Millionenhöhe rechnen (Wakamatsu 1995: 211f.).

 

Die Tanzstile, von deren modernen Ausbildungsformen hier die Rede ist, waren teilweise von ritueller, teilweise aber auch bereits früh von überwiegend unterhaltender sozialer Funktion. Der Prototyp des Kabuki, Furyu genannt, entstammt Tanzriten, mit denen Seuchen abgewehrt wurden (Hanna 1983: 119). Der singhalesische Hochlandtanz, dessen Stil die Formen des modernen Bühnentanzes prägte, diente in seinem Ursprungsritual Kohomba Kankariya der Abwehr kollektiver Bedrohungen wie Seuchen, Hungersnöte und Kriege (Nürnberger 1994). Der Dasi Attam Indiens war Gottesdienst und selbst die profaneren Formen außerhalb des Tempels dienten der Fruchtbarkeit des Königs, des Reiches oder frischvermählter Paare.

Kathakali gilt als eine Mischung von angsteinflößenden und glücksverheißenden Aspekten (Hanna 1983:163). Dennoch gilt, dass Kathakali auch in der traditionellen Form nur mehr wenige rituelle Elemente enthielt, die hinter dem Aspekt des Geschichtenerzählens zurücktraten (ibid.: 158). Es ähnelt darin dem Kathak-Tanz Nordindiens (Rao & Devi 1993: 58-63), der ebenfalls früh seine erzählerischen Aspekte gegenüber den religiösen ausbaute, vor allem unter dem Einfluss der Moghul-Höfe. Kathaka bedeutet 'Geschichtenerzähler' (ibid.:58) und Kathakali bedeutet soviel wie 'Geschichtenerzählen' (Hanna 1983). Das Kerala Kalamandalam bemüht sich in erster Linie um die Bewahrung der traditionellen Tanzformen des Kathakali. Einzelne Kathakali-Lehrer, wie Nambudripad, bemühten sich jedoch auch immer wieder um eine Öffnung des Kathakali gegenüber neuen Inhalten und Ausdrucksformen (Hanna 1983:162). So wurde mit Geschichten über Hitler und Roosevelt experimentiert. Hitler war ein Dämonen-Charakter. Chiang Kai-Shek und Stalin waren unter den "grünen" (guten) Charakteren. Der Erfolg solcher Stücke ist nach Nambudripad jedoch zu kurzlebig, da die Aktualität schnell verloren ginge. Die angestrebte Veränderung des Kathakali hin zu einer Kunst, die sich auch modernen sozialkritischen oder politischen Themen gegenüber öffnet, scheint (noch) nicht erfolgreich zu verlaufen. Auch für den Kathak gilt, dass in erster Linie traditionelle Themen gestaltet werden. In der Emigration entwickelten einzelne Interpretinnen, wie Nilima Devi neue synkretistische Formen. Nilima Devi greift in Kinderballetten Märchen und Erzählungen aus dem europäischen Raum auf. Solche Arbeiten stellen aus soziologischer Sicht auch eine Integration der westlichen Lebensbedingungen in die Kunstformen der indischen Immigranten in Großbritannien dar. Die singhalesischen Bühnenballette der Chitrasena School of Dance in Colombo (Nürnberger 1994:262-294) gehen teilweise bereits einen Schritt weiter in die Richtung von einigen der bereits vorgestellten Arbeiten von modernen indischen Tanztruppen, die von aktualisierter sozialisierender und pädagogischer Qualität sind. Diese Stücke vereinen traditionelle und moderne Inhalte, um nationale oder multikulturelle Ideale der modernen postkolonialen Gesellschaft zu kultivieren. Einige der in dieser Richtung fortschrittlichsten Arbeiten von Choreographen asiatischer und afrikanischer Provenienz werden unter dem Aspekt ihrer Funktion als einer Therapie der Gesellschaft in dem nachfolgenden Kapitel "Von Bühnenkunst zum Ritual" vorgestellt werden.

Die Kunsttanzformen der Vergangenheit, seien sie nun ritueller oder profaner Natur, sind nicht die einzige Quelle der Tradition in moderner Bühnenkunst. Auch Volkstanzformen werden immer wieder als kulturgeladene und traditionsreiche Quellen zur Gestaltung von Bühnentanzabenden, aber auch zur Belebung von erzählenden Tanztheaterstücken herangezogen. Volkstanz umfasst zwar in seiner weitesten Bedeutung alle Formen populären Tanzes einer Kultur, doch werden darunter im allgemeinen mehr jene systematischen und rhythmischen Gruppentänze subsummiert, die sich zur Erhaltung und Verbreitung von Riten und Glaubensinhalten verschiedener Kulturen entwickelt haben. Volkstanz kann in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen annehmen, unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen erfüllen und Träger verschiedener körperlich-geistiger Erfahrungen von Tänzern, Zusehern und sogar von ausdrücklich Ausgeschlossenen sein, wie etwa über die Abwesenheit von Frauen bei bestimmten afrikanischen Männertänzen. In Europa wird Volkstanz im allgemeinen von Minoritäten als Pflege historischer Tänze von mehr oder minder langer Tradition und nationaler Prägung gepflegt. In Afrika oder in afrokaribischen Ländern ist Volkstanz vor allem Teil einer komplexen religiösen, oft synkretistischen Festkultur und beinhaltet viele Formen gesamtgesellschaftlicher Anteilnahme. Gewisse asiatische Volkstänze sind, wie der Stocktanz Likeli in Sri Lanka (Wirz 1954:178), aus rituellen Wettkämpfen entstanden. Während nordindische Volkstänze, die sich unter dem Einfluss der arischen und mongolischen Sprachgruppen entwickelt haben, hauptsächlich kriegerischen Ursprungs sind, sieht man in Südindien zumeist Volkstänze von religiösem und devotionalem Charakter, die einen friedvolleren Hintergrund reflektieren.

Auf der Bühne werden Volkstänze in erster Linie zu weitgehend sinnentleerten vitalen Intermezzi, die kulturelle Zeichen transportieren, indem sie reichlich Gelegenheit bieten, farbenfrohe Varianten nationaler Kostüme und tänzerische, bisweilen auch akrobatische Virtuosität darzubieten. Die politische Bedeutung der interkulturellen Repräsentation des Eigenen gegenüber dem Fremden durch Bühnenfolklore ist im vorangegangenen Kapitel über "Tanz und das Fremde" und im gegenwärtigen Kapitel im Zusammenhang mit der Entstehung nationaler Tanzensembles bereits angeschnitten worden. Hier bleibt noch zu erwähnen, dass im Zuge der Globalisierung zumindest in den Jugendkulturen der Städte neue populäre Tanzvergnügungen im Rahmen des Disco-Tanzes entstehen, in denen verschiedene afrikanische und asiatische Volkstanzformen mit europäischen zu neuen Stilen 'recycled' werden, die alle paar Jahre zu immer neuen Formen permutieren. Im Sinne der Teilnahme breiter Schichten, kann hier von neuen und sehr populären 'Volkstänzen' gesprochen werden, die sich ihrerseits bereits teilweise aus dem Ambiente des Pop- und Modetanzes losgelöst und in Bühnenadaptionen und durch Spezialisten dargeboten, eine Stufe zur Bühnenkunst genommen haben. Als ein Beispiel für eine Tanzgruppe, die sich mit der Erarbeitung von Kunsttanzdarbietungen aus dem Material des Hip-Hop, Break Dance und Rap erfolgreich bemüht, kann die Compagnie Black Blanc Beur aus Frankreich gelten. Sie gastierten am 25. April 1998 mit dem Programm "Blue Legend" und "Lambarena" im Rahmen der Wiener Festwochen, Tanz '98, im Wiener Festspielhaus. Die Aufführung war Teil von "Europa Tanzt II", eine Kulturaktion im Rahmen des Programms "Kaleidoskop", die von der Europäischen Kommission unterstützt wurde. Die "Schwarzen, Weißen und Beur", letztere eine Bezeichnung für die Kinder arabischer Einwanderer in Frankreich, gelten als eine der aufregendsten Tanzformationen Frankreichs (Tanz '98, Programmheft: 18f).

Eine negative Seite des 'Recyclingprozesses' wird sichtbar, wenn man die gängige Praxis exotistischer Tänze in Filmen betrachtet. Dies gilt sowohl für westliche Produktionen als auch für nichtwestliche. Es zeigen sich gerade auch indische Filmproduzenten, die indische Tänze in Filmhandlung einbauen, desinteressiert an Authentizität und Kontext. Das stellt insofern ein Problem dar, als viele Zuseher das gezeigte Potpourri an Erotik und Kostümkitsch für bare Münze nehmen und auf diese Weise ein bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Bild von tänzerischen Traditionen und Kulturen verbreitet wird. Dabei kommt dem Filmtanz in Indien eine derart mächtige Breitenwirkung zu, dass man ihm einen wichtigen Platz in der populären Kultur einräumen muss. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen und um diese Popularität nutzbringend in ihre interkulturelle Arbeit auf dem Sozialsektor einsetzen zu können, haben zum Beispiel die Fachkräfte der Londoner Academy of Indian Dance wiederholt dafür plädiert, Filmtanz in die interkulturelle tänzerische Arbeit einzubeziehen (z.B. Academy 1983:7). Aus verständlicher Angst vor der Verfälschung kultureller Werte wird diesem Anliegen jedoch von einigen konservativen indischen Tänzern Widerstand entgegengesetzt.

Im interkulturellen Rahmen kann Volkstanz in all seinen Varianten, von den konservierten Formen der österreichischen Trachtenvereine bis zu den populären Formen des Breakdance und Hip-Hop Menschen zu neuen Erfahrungen verhelfen. Er erlaubt ihnen körperlich über ihre Kulturen hinaus zu reichen. Das Theatererlebnis des Volkstanzes kann gerade durch die ästhetische Motivierung Interesse an fremder Kultur stimulieren. Das ist vor allem dort der Fall, wo ein kulturspezifischer sozialer Anlass oder ein Fest mit Theater gestaltet wird, wie dies z.B. die Gruppen Ekome und Welfare State International in der interethnischen Kulturlandschaft Englands praktizierten (Academy 1983:8).

 

 

Formale Neuentwicklungen

 

Die Entwicklung des städtischen Bühnentanzes im Gefolge des Kolonialismus bedeutete für viele außereuropäische Künstler, dass sie sich zum erstenmal mit den Möglichkeiten und Erfordernissen westlich konzipierter Theaterräume und der Perspektive der Guckkastenbühne auseinander zu setzen hatten. Eine Ausnahme stellt hierzu das japanische Tanztheater dar, dessen raffinierte Bühnentechnik immer wieder inspirierend auf die westliche Kunst wirkte. Auf Fackeln, Feuer, Räucherwerk und Öllampen, die oft als traditionelle Beleuchtung dienten, wird aufgrund moderner Sicherheitsbestimmungen mehr und mehr verzichtet. Scheinwerfer ersetzen den lebendigen Schein von offenem Feuer, das seine eigene dramatischen Wirkung und besonders im südasiatischen Raum auch seine eigene religiöse Bedeutung hat. So haben sich die Meister oder Ashans des südindischen Kathakali vor ihren Öllichtern im Gebet verneigt, bevor sie auf die Bühne traten (Vijayakumar 1994), denn Feuer und Licht sind archaische Symbole der Wahrheit, Gnade und Göttlichkeit. Scheinwerfer haben dafür anderes dramaturgisches Potential. Sie können statisch eingesetzt oder geführt werden, Farbe und Intensität des Lichts sind veränderlich und all das verlangt nach detaillierter Planung. Für viele Tanzstile ist auch die Verwendung von illustrierenden Kulissen neu, für manche gilt das auch für die Verwendung von Charakterkostümen. Mulk Raj Anand (1963:62) schreibt über die Ausdruckskraft und Requisitenarmut indischer Tanztheaterkunst:

Frontale Bühnen erfordern adäquate räumliche Orientierung: Kreisformationen werden oft zum Publikum hin geöffnet, Paare agieren möglichst entlang einer Querachse zum Publikum und das Tanzen mit dem Rücken zum Publikum wird vermieden. Die räumliche Orientierung wird auch zu einem notwendigen Mittel der Dramatisierung in einer Raum/Zeit - Situation die neben den räumlichen Gegebenheiten der Bühne auch die relativ kurze Zeitspanne eines Theaterbesuchs westlicher Prägung beinhaltet. Während zum Beispiel für die traditionellen Tanzriten Sri Lankas bis zu mehreren Tagen und Nächten zur Verfügung standen (Nürnberger 1994), muss sich der moderne singhalesische Bühnentanz um Stringenz und Dramatik innerhalb der üblichen Theaterbesuchszeit von 1-2 Stunden bemühen. Vajira Dias erzählt über die formalen Adaptionen des modernen srilankischen Chitrasena-Balletts in Colombo:

Wenn Volks- oder Ritualtänze losgelöst von ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen auf die Bühne gebracht werden, so wirft das Fragen der Technik auf, der überlieferten Schritte und Bewegungen, zum Beispiel, wenn diese auf die Bühnenfront hin ausgerichtet werden, oder generell durch extremere und augenfälligere Gestaltung von Streckungen und Biegungen außeralltäglichere und dekorativere Formen annehmen (z.B. Interview mit Bisakha Sarker 1995, London).

Daraus ergibt sich ein formaler Transformationsprozess, in dem die Tänze generelle Charakteristika des Theatertanzes annehmen, wozu auch die Art der räumlichen Trennung zwischen Zusehern und spezialisierten Vorführenden gehört. Diese Entwicklung betrifft auch Fragen der Besetzung, wenn zum Beispiel ein ursprünglich nur Männern vorbehaltener ritueller Stocktanz aus Gründen der Dekorativität nun zur Hälfte mit jungen Mädchen besetzt wird, wie dies bei der Bühnenadaption des Stocktanzes Likeli in Sri Lanka in der Regel der Fall ist.

Die Kostümierung kann neue Bedeutung erlangen, wenn zum Beispiel in Tänzen, wie dem Bhangra aus dem indischen Punjab (z.B. Rao & Devi 1993: 320), die einfachen aus der Alltagskleidung abgeleiteten Kostüme reich mit Gold- und Silberstickerei verzierter Bekleidung weichen. Der Bühnen-Bhangra, welcher in Großbritannien ungeheure Popularität erlangt hat, hat auch die Bewegungsformen des Volkstanzes verändert, sie sind komplexer geworden, kraftraubender und virtuoser, wenn zum Beispiel in akrobatischen Solos individuelle Virilität zur Schau gestellt wird, aber auch schauspielerischer, wenn etwa Szenen aus dem Dorfleben, wie Aussaat, Ernte, das Ochsenführen oder das Beladen des Karrens dargestellt werden (S. S. Papiha zitiert in Academy 1983:10).

Ein weiteres oft beobachtbares Phänomen ist die zeitliche und räumliche Nebeneinanderstellung verschiedener Stilformen auf der Bühne. In der Folge können auch die Einzeldarbietungen aus verschiedenen Stilelementen zusammengesetzt sein. So wurden in den Tanzdramen der Kalashetra - Akademie in Madras unter der Leitung von Rukmini Devis Kathakali- und Bharata Natyam-Elemente nebeneinander verwendet. Dieser Tradition folgt auch noch eine zweite Generation von Schülerinnen und Schülern der genannten Institution, die im westlichen Ausland aktiv werden, wie etwa Pushkala Gopal in London. Pushkala Gopal's Lehrer war Schüler von Kalakshetra und ihr Partner Unnikrishnan lernte selbst an der Kalashetra-Akademie.

Pushkala Gopal erklärte (Interview, 15.3.1994, London), dass es eigentliche Tanzdramen mit mehreren Darstellern früher nur im Kathakali-Stil, nicht aber im Bharata Natyam gab. So lag es später nahe, in einer Periode der Entwicklung von Tanzdramen im Bharata Natyam- Stil auf Gestaltungselemente des Kathakali zurückzugreifen. Im Natyashastra (Bharatamuni, undat.) das älter sowohl als der Kathakali- als auch der Bharata Natyam-Stil ist, sind indes sowohl Gruppen-, als auch Solodarbietungen beschrieben. Gegenwärtig scheint es nun wieder zu einer Konjunktur von Gruppendarbietungen zu kommen. Dabei wird erzählenden Inhalten der Vorzug gegeben. Diese moderne Vorliebe für das Erzählende scheint internationale Bedeutung zu haben. Sie prägt die Gestaltung der singhalesischen modernen Ballette der Chitrasena-Schule (Nürnberger 1994) ebenso wie die Darbietungen des Nationalballetts von Zaïre (Schmidt 1992:5), wobei in beiden Fällen gerade die indigenen Anteile am gezeigten Bewegungsrepertoire aus Tanzstilen stammen, in denen das narrative Element sehr gering ausgeprägt war.

Nilima Devi und Werner Menski kommentierten (Interview vom 22.3.1994, Leicester), dass all diese Entwicklungen einem Bedürfnis des Publikums nach abwechslungs- reichen, spektakulären und spannenden Vorführungen entspricht, nach großen und vielfältigen Bewegungen auf der Bühne, die nach komplexeren und präziseren Choreographien verlangen.

Einige dieser Entwicklungen brachten bisweilen Ergebnisse hervor, die dem westlichen Tanztheater ähneln. Nicht alle Veränderungen, die traditionelle außereuropäische Tänze durchlaufen, welche zu ähnlichen Ergebnissen führen wie im westlichen Tanz, sind auf formale Entlehnungen aus dem Westen zurückzuführen. Konvergenzen können sich zum Beispiel auch aus der Wahl der Themen ergeben. Wenn beschreibender Ausdruck in Tanzstile eingeführt wird, die davor nicht erzählerisch orientiert waren, so kann zum Beispiel eine naturgetreue tänzerische Imitation solche Konvergenzen hervorrufen. Sowohl die Kathak-Tänzerin Nilima Devi als auch Vajira Dias, die im singhalesischen Hochlandstil (udarata-nätum) tanzt, verwendeten Imitationen von Tieren in der Gestaltung ihrer modernen Ballette. Nilima Devi meinte dazu, dass Imitationen von Tieren kein Teil jener Tanztraditionen sei, die sich aus der im Natyashastra beschriebenen tanztheatralischen Tradition des südasiatischen Raums heraus entwickelten. In diesem Raum gibt es zwar in einzelnen Stilen konventionalisierte tänzerische Gesten, die Tiere oder Tierbewegungen andeuten, aber kaum Darstellungen von Tieren, die den ganzen Körper miteinbeziehen (106). Als ich Vajira Dias auf die Ähnlichkeit der tänzerischen Interpretation der Schwäne in ihrem Stück "Nala Damayanthi" mit jener des "Schwanensee" ansprach, wie sie in Rezensionen ihres Stückes als 'Verwestlichung' und 'Verfälschung' des singhalesischen Tanzes kritisiert worden waren, antwortete sie:

Neue Inhalte verlangen nach neuen Ausdrucksmitteln. Insbesondere moderne Inhalte, die die Technisierung oder das Leben in Städten thematisieren, lassen sich nicht ohne weiters mit kodifizierten jahrhundertealten Tanzgesten darstellen. Deshalb verwenden sowohl relativ unbekannte Bharata Natyam - Tänzerinnen, wie Vijayambigai, als auch die bekanntere Tänzerin Shobana Jeyasingh selbsterfundene beschreibende Bewegungen und Handgesten anstelle der überlieferten Mudras und Hastas des Bharata Natyam. Diese neuen Gesten können nicht in derselben Weise kodifiziert werden wie die alten. Da auf keine Vorbildung der Zuseher vertraut werden kann, müssen sie auf Anhieb verständlich sein. Auch Stile, die kaum inhaltsbezogene kodifizierte Gesten enthielten, wie der nordindische Kathak (Rebling 1981:42; Nilima Devi, Interview 1995) oder die singhalesischen Ritualtanzstile (Nürnberger 1994: 206f, 304), deren Hastas überwiegend dekorativen Charakter aufwiesen, werden durch moderne Choreographen, wie Nilima Devi oder Chitrasena und Vajira Dias überwiegend um pantomimische und naturähnliche Gesten erweitert.

Ähnlich notwendig ist ein Umdenken auch in der Frage der musikalische Begleitung, die für solche Stücke adäquat ist. Einige östliche Tanzstile, wie der singhalesische Ritualtanz oder auch einige indonesische Stile, kannten nur die Begleitung durch perkussive Instrumente, die melodiöse Komponente kam, wenn überhaupt, nur über Gesang, aber nicht instrumental zum Ausdruck. Solche Traditionen werden in ihrem Übergang zur Bühnenkunst oft durch den Import von ausländischen Instrumentarien, Melodiestrukturen oder ganzen Kompositionen bereichert oder ersetzt. Einerseits erhält der Unterhaltungscharakter wichtigeren Stellenwert und melodiöse Tanzmusik wird als Bereicherung desselben wahrgenom- men, andererseits sind perkussive Instrumente, die für Aufführungen im Freien konzipiert waren, für westlich konzipierte Theater oft einfach von unzumutbarer Lautstärke. Lynette Hague, Londoner Studentin der indischen Tänzer und Tänzerinnen Priya Pawar, Prakash Yadagudde und K.S. Bhavani Shankar, gibt in Bezug auf indischen Tanz zu bedenken, dass dessen Bewegungen zur Gänze rhythmusbezogen sind. Die Melodie wird in indischem Tanz für die Charakterisierung der jeweiligen grundlegenden Gefühlsstimmung verwendet. Die kurzen Kompositionen, von etwa vier Takten Dauer, die dabei zur Anwendung kommen, wiederholen sich innerhalb einer Tanznummer. Klassische indische Konzertmusik unterscheidet sich von der für Tanzvorführungen verwendeten Musik durch rasche und subtile Variationen der Ragas, die sich nicht zum Tanz eignen (Hague 1994). Ähnliches gilt auch für den traditionellen singhalesischen Ritualtanz. Der neue indische Tanz verlangt jedoch ebenso wie der singhalesische moderne Tanz nach neuen nonrepetitiven Kompositionen von einer Form, die es gestattet, dass auch die abstrakten Bewegungen des Tanzes den Melodielinien folgen können, so wie dies im europäischen Ballett üblich ist.

Die kreative Erfindung von Choreographien verlangt auf der Bühne in der Regel auch eine Einbeziehung von Gruppenbewegungen, die aus Gründen der Spannungssteigerung oft auch die gleichzeitige, aber unterschiedliche Bewegung mehrerer Gruppen umfassen soll. In Traditionen, wie dem Kathak oder Bharata Natyam, die auf Solo-Darbietungen beruhen, war die fertig ausgebildete Tänzerin zuletzt auch ihr eigener Choreograph und Direktor. In den modernen Tanzdarbietungen können diese Funktionen oft nicht mehr von einer Person wahrgenommen werden. Die formalen Entwicklungen führen zu Spezialisierungen. Neben den genannten sind es unter anderem Solo- und Corps de Ballet -Tänzer, Bühnenbildner und Bühnentechniker, die notwendig werden.

Während Materialien aus Riten und Volkstänzen aus traditionellen Unterhaltungstänzen und Hoftraditionen für die Bühne umgeformt wurden, wirkten diese Veränderungen auch auf die Ursprungstänze zurück. Die Einflüsse moderner Entwicklungen des Tanzes und des Theaters auf die Tanzstile der Riten und traditionellen Tänze sind äußerst vielfältig und prägen neben sozialen auch inhaltliche Belange. So finden in die Tanzriten Sri Lankas akrobatische Formen Eingang, die sich ausgehend von öffentlichen Performances der Tanztruppen von Polizei, Armee und Flotte verbreitet haben (Feldnotizen d.A. 1980). In Indien und in Sri Lanka werden einige der auf Bühnenwirkung hin veränderten Formen in die in den Riten und traditionellen Tänzen praktizierten Bewegungsabläufe integriert. Dies gilt allgemein für die betonteren Bewegungsqualitäten der Streckung oder Beugung, wie sie sich beispielsweise von der Kalakshetra-Akademie ausgehend auch in den Tempeltanz- formen verbreiteten (Interview mit Sarker, London 1995). Das gilt aber auch für Besonderheiten, wie die Darstellung des Greifvogelfluges durch imitative Armbewegungen, die ursprünglich von Vajira Dias für die Bühnendarbietung eines der traditionellen singhalesischen Vannam-Tänze, Ukussa-Vannam, eingeführt wurden (Nürnberger 1994: 116) und die dann in rascher Folge zuerst in das Repertoire anderer Bühnentänzer, dann in das Repertoire der staatlichen Tanzschulen und schließlich auch in hohem Maße in die Vannam-Darbietungen traditionelleren Rahmens aufgenommen wurden und dort die weniger deskriptiven traditionellen Flatterbewegungen der Hände ablösten. Getragen werden diese formalen Veränderungen durch soziale Veränderungen, indem zum Beispiel Tempeltänzerinnen aus traditionellen Familien um öffentliche Anerkennung künstlerischer Gleichrangigkeit mit modernen Interpretinnen aus Brahmanenfamilien ringen oder indem Schülerinnen moderner Schulen Eingang in traditionell orientierte Tanzveranstaltungen finden. Spektakularität und Anziehungskraft für ein Publikum bestimmen so auch Stilkonjunkturen traditionellerer Ritual- und Unterhaltungstanzformen.

 

 

Wandel der Formen und Inhalte der Tanzlehre

Die neuen Schulen - Stilvielfalt, Metastile und Kreativität. Das Fremde im Unterricht - Akzeptanz, Abwehr und Anziehung. Autorität, Imitation, Improvisation und Spiritualität im Tanzunterricht. Tanz und allgemeine Erziehung

 

Die formalen Weiterentwicklungen finden ihren Niederschlag in modernen Lehrfächern, wie Bühnentechnik, aber auch in den neuen kreativen Stilschulen, die nicht mehr kleinregionale Stile, sondern neue überregionale Metastile hervorbringen, die gesamtkulturelle und nationale Besonderheiten betonen.

 

 

Die neuen Schulen - Stilvielfalt, Metastile und Kreativität

 

An modernen Tanzschulen, wie der Kalakshetra Academy in Madras oder dem Uday Shankar Indian Cultural Centre in Kalkutta, wird nicht mehr bloß ein Stil, sondern werden eine breite Palette von indischen Tanzstilen gelehrt. An der Kalakshetra Academy in Madras werden neben dem Hauptfach Bharata Natyam auch Elemente anderer Kunsttanzstile sowie Volkstänze verschiedener Regionen und Musik aus Karnataka gelehrt.

Der Hauptstil der Schule, der Uday Shankar Creative Style, welcher im Uday Shankar Indian Cultural Centre in Kalkutta unterrichtet wird, zielt nach Piali Ray (Interview am 23.3.1994 in Birmingham) auf den Aufbau der Fähigkeit zur eigenständigen tänzerischen Kreativität. Man erlernt eine Tanzbewegung aus einem Vakuum, aus der Absenz von Stil heraus zu kreieren, etwa aus einer informellen Gehbewegung oder aus dem Sitzen. Dabei geht es um das Festhalten momentaner Inspirationen. Die entstehenden Bewegungen müssen sowohl ästhetische Qualität haben - sie müssen 'schön' sein - als auch die nationale Qualität, die kulturelle Identität widerspiegeln - sie müssen 'indisch' sein. Von traditioneller orientierten Tänzerkreisen wird an diesem Herangehen kritisiert, dass diese kreative Arbeit zu wenig auf die Komplexität der einzelnen indischen Stile Bezug nimmt. In diesem Zusammenhang wird immer wieder ins Treffen geführt, dass Uday Shankar kein Absolvent einer klassischen indischen Tanzlehre, sondern Malereistudent war, bevor er sich dem Tanz zuwandte. Auch aus seinen Publikationen weiß man, dass seine Kenntnisse über einzelne indische Tanzstile mangelhaft waren. Erst als seine Frau und seine Tochter seine Kunstschule übernahmen, wurde diese Schule wirklich erfolgreich, und man erzählt, dies sei in erster Linie darauf zurückzuführen, dass erstmals konsequent ausgezeichnete traditionelle Lehrer für verschiedene Tanzstile eingestellt wurden. Als Tänzer war Uday Shankar in erster Linie durch sein Showtalent, seinen Erfindungsgeist und durch seinen Spürsinn für kommerziell gewinnträchtige Produktionen erfolgreich.

Die Tendenz, kleinregionale Varianten zugunsten eines großregionalen Stils fallen zu lassen ist sicher nicht auf einzelne Choreographen oder auf Asien beschränkt. So haben sich etwa auch in Nordamerika spezifische moderne "schwarze" Metastile des Tanzes herausgebildet, denen eine ganze Anzahl an afrikanischen und südamerikanischen Stilen zugrunde liegt. Ein Beispiel dafür ist die Lester Horton-Technik, wie sie am Alvin Ailey American Dance Centre in New York unterrichtet wird. Lester Horton (1906-1953) ent- wickelte in seiner Jugend zunächst ein Interesse für die Legenden und Bräuche der nordamerikanischen Indianer. Als er 1928 nach Los Angeles zog, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt indem er indianische Tanzfestivals organisierte. 1941 eröffnete er seine eigene Schule. Seine Kompanie war die erste Kompanie Amerikas, in der Vertreter verschiedener Hautfarben und Kulturen - Schwarze und Weiße, Mexikaner, Japaner, einfach jeder der Talent hatte - integriert waren (Steeth 1982:211).

Alvin Ailey, der unter anderem auch unter Graham, Weidman und Holm arbeitete (ibid.: 220), gilt als einer der Begründer des schwarzen Bühnentanzes in den USA. 1958 organisierte er seine eigene Tanztruppe, mit der er zuerst innerhalb Amerikas und nach 1964 auch in Übersee tourte. Er hat als erster eine Ballettkompanie mit farbigen Tänzern zu Weltruhm geführt. Das Alvin Ailey City Centre Dance Theater ist bis heute die wahrscheinlich bekannteste schwarze Tanztruppe Amerikas. Mit seiner Schule, dem Alvin Ailey Dance Centre setzte er höchste Maßstäbe für die Ausbildung (Video Wangenheim 1991). Ismael Ivo (Interviews, 20.8.1994, 12.1.1995, Wien) berichtete, dass er während seiner Ausbildung an diesem Institut mit einigen der speziellen Isolationstechniken der Arme, des Kopfes, der Hüften und des Torsos aus dem afrikanisch beeinflussten brasilianischen Tanz seiner Heimat konfrontiert wurde. Das erleichterte ihm erheblich, diesen Stil zu meistern. Die Horton-Technik, die im Alvin Ailey Dance Centre gelehrt wird, hat nach seiner Meinung den isolatorischen Aspekt afrikanischen Tanzes mit einem rein körperlichen - nicht erzählerischen - Ausdrucksaspekt kombiniert und perfektioniert.

Es handelt sich bei solchen Entwicklungen also um Versuche, die Essenz der Tanzstile großer Regionen zusammenzufassen und so weiterzuentwickeln, dass es möglich wird, den solcherart erschaffenen großregionalen und synkretistischen Tanzstil für neue Themen und moderne Kontexte kreativer und auch individueller anzuwenden. Ismael Ivo geht in seiner eigenen Unterrichtsarbeit von der Horton-Technik dann noch einen Schritt in Richtung Individualisierung und auch Richtung erzählenden Ausdruckstanzes weiter.

Es gibt einen auch unter den neuen indischen Tänzern allgemein verbreiteten Trend, sich nicht mehr nur mit einem Stil, mit einer Richtung zu beschäftigen, sondern sich ein breiteres Spektrum anzueignen. Oft beginnen die Schülerinnen bei einem Privatlehrer, werden von diesem zu einer bestimmten modernen Tanzhochschule weiterempfohlen, machen dort einen Abschluss und studieren dann wieder bei traditionellen Lehrern, um über die kreative Arbeit hinaus auch ihre traditionelle Tanztechnik zu verbessern.

Vijayambigai Indra Kumars Ausbildung ist ein gutes Beispiel dafür, wie variantenreich eine solche Ausbildung heute sein kann: Sie lernte als Kind etwas kandyschen Tanz (der Hochlandstil von Sri Lanka) unter Minipura Ratnasekere. Im Alter von 12 Jahren begann sie dann mit einer ernsthaften Tanzausbildung in Bharata Natyam im Tanjore-Stil unter ihrem Guru Govindra Rajakalele in ihrer Heimatstadt Colombo in Sri Lanka. Danach besuchte sie die Kalashetra Academy in Madras. Das Training in Bharata Natyam vermittelte ihr dort kein vollständiges Repertoire an verschiedenen Darbietungen, das mit der Ausbildung bei einem traditionellen Lehrer vergleichbar gewesen wäre, sondern nur eine einzige komplette Aufführungsform (matha). Auch lernte sie dort vom komplexen Repertoire des Kathakali nur einzelne Aspekte, die mimischen Techniken der Gesichtsmuskel- und Augenbewegungen, unter Milapore Gauriamal, um sie dann in ihre kreative Arbeit miteinbeziehen zu können. Da Vijayambigai mehr von der klassischen indischen Tanzkunst lernen wollte, nahm sie nach Abschluss der Kalakshetra - Akademie privat bei einem der Lehrer derselben Institution Unterricht in Bharata Natyam. Es war dies Adyar K. Lakshman, der sich mit seiner eigenen Schule, dem Institut Bharata Choodamani, bereits selbständig gemacht hatte. Daneben besuchte sie zwei andere Institute in der Gegend von Madras, die Kuchipudi Art Academy, um den Tanzstil aus der Region von Andhra Pradesh zu erlernen und das Institut Nrtta, um ebenfalls Kuchipudi, aber auch mehr aus der Tanzkunst des Kathakali-Stils und seinem regionalen weiblichen Pendant, dem Mohini Attam, zu studieren. Am Institut Nrtta konnten Frauen bereits auch einfachere Stücke aus dem Repertoire des Kathakali unter Padmana Bamara erlernen, aus einem Stil der, wie bereits erwähnt wurde, traditionell Männern vorbehalten war. Vijaiyambigai erlangte jedoch weder das erforderliche Können noch hatte sie je die Absicht, Aufführungen in reinem Kathakali-Stil zu zeigen. Sie verwendete Kathakali-Sequenzen vor allem dort in ihren Stücken, wo es um die Darstellung aggressiver Szenen, wie einen Kampf oder um Krieg geht. In letzter Zeit hat sie für solche Sequenzen zur weiteren Steigerung der Dramatik allerdings auch Karate-Bewegungen mit einbezogen. Für Vijayambigai bedeutet ihre breite Ausbildung, ein Mehr an Mitteln für die Gestaltung von erzählenden Inhalten in Tanztheaterstücken und in Einzeldarbietungen zur Verfügung zu haben. Erwähnenswert ist, dass sie so wie die meisten professionellen Tänzerinnen auch nach ihrer Emigration nach England weiter Tanzunterricht nahm, in ihrem Fall bei Padma Subrahmaniam in Bharata Natyam. (Interview mit Vijayambigai Indra Kumar, 12.3.1994, London).

 

Gegenüber dieser Betonung der Kreativität bot das traditionelle Erlernen einer indischen Technik von einem Guru oder Lehrer-Vorbild mittels Perfektion durch Übung spezieller festgelegter Formen und Teilformen - wie etwa Alarippu oder Sabdam im Bharata Natyam - nur sehr begrenzte Möglichkeiten eigene Originalität zu entwickeln. Einzelne klassische Stile stellten hier in gewissem Rahmen Ausnahmen dar. So gibt es zum Beispiel innerhalb des klassischen nordindischen Kathak Raum für Improvisation, die sich aus der dialoghaften Zusammenarbeit zwischen Tänzer und Musiker während der Vorführung entwickelt, wie dies Birju Maharaj während seines Auftritts mit Saraswati Sen im Rahmen des Tanz 96, des 8. Wiener Internationalen Tanz-Festivals im Museumsquartier auf der Bühne erläuterte und demonstrierte. Nilima Devi (Interview 22.3.1994 in Leicester), die im Jaipuri-Stil des Kathak ausgebildet ist, führte zu diesem Punkt jedoch aus, dass auch in der Kathak-Lehre zunächst der Lehrmeister oder Guru die Choreographie exakt festlegt. Erst als sie selbst begonnen hatte zu unterrichten und ihren eigenen Performancebetrieb zu führen, choreographierte sie ihre Stücke auch nach ihren eigenen Vorstellungen. Der Jaipuri-Stil arbeitet hauptsächlich mit rhythmischen Improvisationen in der Fußarbeit. Als Nilima Devi nach England übersiedelte, erkannte sie jedoch die Notwendigkeit an ihrem allgemeinen Körperausdruck zu arbeiten:

Dennoch behält sie die Komposition ihres Lehrers bei, nur das Bewegungsvokabular wird erweitert. Ähnlich arbeitet ihrer Meinung nach auch die Kalakshetra Academy in Madras, wo Tanzdramen im Stil des Bharata Natyam erarbeitet werden: hier werden die Grundelemente des Stils beibehalten, jedoch in neuer Reihenfolge präsentiert. Nilima Devi sieht die Orientierung auf die Gestaltung einer dramatischen Handlung hin übrigens als einen Rückgriff auf die traditionellen Wurzeln des indischen Tanzes, in denen Tanz und Theater nicht voneinander getrennt existierten. Sie führt weiters aus, dass ihre Improvisationen als Kathak-Tänzerin vor der Aufführung gründlich vorbereitet und geprobt werden. Es gäbe, so führt sie aus, zur Zeit vielleicht zwei oder drei Kathak-Tänzer in Indien, absolute Meister, die ohne weitere Vorbereitung auf die Bühne gehen können und gänzlich frei nach ihrer momentanen Stimmung und ihrer Wahrnehmung der Stimmung ihres Publikums mit ihren Musikern improvisieren, auf eine ganz ähnliche Weise, wie im westlichen Raum die besten Vertreter der Experimental und Jazz-Musik spontan miteinander und mit dem Publikum kommunizieren.

 

An der Schule Uday Shankars ergänzen Klassen mit traditionellem Tanzstil den kreativen Unterricht. Da der moderne Uday-Shankar-Stil auf die Entwicklung persönlicher Tanz- sprachen Wert legt, wird auch die Auseinandersetzung mit nichtindischen Tanzformen gefördert. Piali Ray wurde durch die Schule ermutigt, sich mit westlichen klassischen und modernen Stilen auseinander zu setzen und an allen möglichen Workshops teilzunehmen. Ein weiterer wesentlicher Ansatz war die Entwicklung von Kritikfähigkeit und Selbstkritik. Im Rahmen der Improvisationsklassen waren sowohl das kritische Kommentieren als auch das Annehmen von Kritik integraler Bestandteil des Unterrichts. Es war zu einem guten Teil dieses Training, in dem die Fähigkeit sich anzupassen und aus dem Moment zu schöpfen entwickelt wurden, dem Piali Ray ihrer Meinung nach die Eignung zu ihrer späteren Arbeit als Animateurin für asiatischen Tanz in England verdankt.

 

 

Das Fremde im Unterricht - Akzeptanz, Abwehr und Anziehung

 

Gegenüber diesen innovativen Ansätzen in Indien erscheint der in der Emigration in England mehrheitlich praktizierte Unterrichtsstil als inflexibel und bisweilen als in Traditionen erstarrt, wie Mira Kaushik, Direktorin der Academy of Indien Dance, 1994 anlässlich eines Gesprächs in London betonte. Jene Tänzer, die in England heimisch werden, halten in einer 'Treue' zu dem einst in Indien Gelernten, die ihre Angst um die Sicherung ihrer Identität in der Fremde spiegelt, und sie treten deshalb oft übermäßig puristisch auf. Mira Kaushik findet es deshalb zweckmäßig, von ihren jährlichen Studienfahrten nach Indien Nachrichten über die neuesten künstlerischen und kulturpolitischen Trends im Mutterland nach England mitzubringen, um ihre Kolleginnen und Kollegen auf dem Laufenden zu halten. Auf der Grundlage der spezifischen interethnischen Ausrichtung der englischen Kulturpolitik entwickeln sich seit etwa einem Jahrzehnt nunmehr spezielle Ausbildungswege für indische Tänzerinnen und Tänzer in den Bereichen Erziehung und Sozialwesen. Neben der Bereitschaft für Innovation und Improvisation wird von diesen Ausbildungen auch erwartet, das sie ein hohes Konfliktlösungspotential entwickeln. Im Unterrichtsbereich 'South Asian Dance within the Community' werden zum Beispiel typische Probleme in der Arbeit mit muslimischen Gruppen aus Bangladesh oder Pakistan thematisiert, die dann auftreten, wenn mit indischen Tänzen aus dem Kontext der hinduistischen Tempeln gearbeitet wird. Inhalte müssen dann von entsprechender religionssoziologischen Geladenheit befreit und entlastet werden, bevor sie in das interkulturelle Angebot aufgenommen werden.

Neben den ideologischen Färbungen kann die kulturelle Geladenheit der Ästhetik ebenfalls zu einem Hindernis interethnischer Lehrsituationen werden. Sie ist auch ein Gradmesser der Akzeptanz durch das westliche Schülerklientel im multikulturellen Umfeld Englands (Interview mit Nandakumar 1994). Es findet sich zum Beispiel eine größere Anzahl von ihnen bereit, indischen Tanz oder Instrumentalmusik zu lernen als einen der klassischen indischen Gesangstile. Die Unterschiede in der Ästhetik der Stimmbildung und in der Folge dann auch in der Gesangstechnik, bewirken stärkere Barrieren als jene in der Bewegungsästhetik. Und diese ästhetischen und technischen Barrieren wirken abschreckender als die ideologischen und religiösen Unterschiede, die in den Inhalten der Tanzkunst und der Gesänge sichtbar werden.

Der Abwehr gegen die fremde Bewegungsästhetik ist im Westen bereits durch die Arbeit der Vertreter des Modern Dance und des Deutschen Ausdruckstanzes entgegengewirkt worden. Die Literatur der Jahrhundertwende, dann der Sechzigerjahre und erneut jene der New-Age Bewegung haben auch die Mythen, Ideologien und visuellen Kunstformen Südasiens anziehungskräftig gemacht. Der Lebens- und Ausbildungsweg der gebürtigen Wienerin und Bharata Natyam-Tänzerin Radha Anjali (107) ist ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Radha Anjali wurde etwa um 1960 als Tochter einer polnischen Mutter und eines österreichischen Vaters in Wien geboren. Schon ihre Eltern interessierten sich stark für den Hinduismus. Sie nahmen ihre Tochter im Alter von 13 Jahren auf eine Reise nach Indien mit, wo sie nicht nur gemeinsam das Land durchquerten und es von vielen Seiten kennenlernten, sondern auch den Yoga-Lehrer der Eltern in dessen Heimatort aufsuchten, um mit ihm zusammen Meditation und Hatha-Yoga zu üben. So war Radha Anjali bereits in ihrer Jugend und in ihrer engsten Umgebung von indischer Kultur und Philosophie umgeben. Durch die Kontakte ihrer Eltern zur Österreischisch-Indischen Gesellschaft kam Radha Anjali in engere Berührung mit Bharata Natyam. Sie lernte bereits als Neunjährige zwei indischen Tänzerinnen kennen, die einige Auftritte am Afro-Asiatischen Institut und in der Österreichisch-Indischen Gesellschaft in Wien und auch in Krems gaben und die sich bereit erklärten sie zu unterrichten. Nach einem kleinen und noch laienhaften, kurzen Auftritt von Radha Anjali im Wiener Theater Settlement verließen diese beiden Lehrerinnen jedoch Österreich. Danach folgten für Radha Anjali Studienzeiten am Konservatorium der Stadt Wien sowie in der Ballettschule Pfundmayr-Tagunoff in klassischem Ballett und modernem Tanz nach Chladek-Technik. In Sommerkursen der Tanzakademie konnte sie an Einführungen in Flamenco und auch in indischen Kunsttanz und Volkstanz teilnehmen.

Nach ihrer Matura lernte sie 1978 Kama Dev kennen, den in Wien wohl berühmtesten Tänzer des Bharata Natyam Stils. Unter ihm studierte sie im Dramatischen Zentrum in Wien von 1978 bis 1983 Bharata Natyam. Kama Dev war 1976 gemeinsam mit seiner Tanzpartnerin Urvasi erstmals nach Österreich gekommen. Nach mehreren erfolgreichen Gastspielen begann er am Dramatischen Zentrum in Wien zuerst in Workshops und dann in regelmäßigen Kursen die Tanzstile Bharata Natyam, Kuchipudi und Seraikella Chhau zu unterrichten. Er gilt als einer der bekanntesten und auch reiselustigsten indischen Tanzlehrer und verbreitete diese Stile in ganz Europa. Radha Anjali tanzte unter anderem auch als Tanzpartnerin von Kama Dev in der Kama Dev Indian Dance Company im In- und Ausland.

1983 setzte Radha Anjali ihre Ausbildung unter Adiyar K. Lakshman, dem letzten von mehreren Tanzlehrern Kama Devs, in Indien fort. Nach Kama Devs frühzeitigem Tod um 1992 wurde Adiyar K. Lakshman der wichtigste Tanzlehrer von Radha Anjali. Sie besuchte den Unterricht in seiner Schule in Madras, Bharata Choodamani Academy of Fine Arts. Adyar K. Lakshman hatte sein Bharata Natyam -Studium 1944 an der Kalakshetra Akademie in Madras begonnen. Dort absolvierte er das Diplom und Postgraduate Diplom für Bharata Natyam, Nattuvangam, die Kunst der musikalischen Leitung der Tanzvorführung durch das Sprechen der Tanzsilben (sollukatu) sowie die rhythmische Begleitung der Tänzerin mit den Zimbeln, und Mrdangam, das Spiel der gleichnamigen beidseitig geschlagenen Zylindertrommel. Mehrere Jahre lang unterrichtete er an der Kalakshetra-Akademie, danach war er 10 Jahre lang Headinstructor am privaten Tanzinstitut Natyalaya in Madras. Während der Arbeit an dem Drama "Chandalika" hatte er Gelegenheit mit Ravi Shankar zusammenzuarbeiten. 1969 gründete Lakshman seine eigene Tanzschule, Bharata Choodamani (Juwel des Tanzes). Seine vielfältige künstlerische Tätigkeit beinhaltet auch die Verantwortung für einige klassische Tanzszenen indischer Filme. Er erhielt zahlreiche Preise und Ehrentitel. 1984 trat er gemeinsam mit der Kama Dev Indian Dance Company zum ersten Mal in Österreich auf. Radha Anjalis Studenten hatten schon oft die Gelegenheit seine Workshops in Wien zu besuchen sowie die Workshops seines Bruders K. Rama Rao, der in Madras an derselben Schule unterrichtet. (per Anklicken zurück zum Kapitel: "Natya Mandir - ein indischer Tanzverein in Wien")

Berühmte Tanzschulen sind immer auch Anziehungspunkte für Ausländer, die sich eingehender mit der spezifischen Form von virtuoser Körperlichkeit einer Kultur auseinandersetzen wollen. In Asien wird ausländischen Tanzschülern heute unterschiedlich begegnet. Als zahlendes Klientel bringen sie Geld in die Tanzschulen. Von Ausländern kann man höhere Gebühren verlangen, weil sie reicher sind, und sie tendieren dazu, das Prestige einer Tanzschule zu erhöhen. Sie verursachen aber auch oft höhere Kosten, weil sie wegen zu kurzer Lehrperioden oder wegen ihres Aussehens meist nicht für den Vorführungsbetrieb herangezogen werden können, der seinerseits als zweite Einnahmequelle der Schulen, als Werbung und Prestigeträger große Bedeutung hat (Recherchen an der Chitrasena School of Dance 1980, 1984). Ausländer hingegen, die es bis zum Lehrabschluss schaffen und professionell werden, bringen ihren asiatischen Lehrern beträchtliches Prestige und öffentlichen Ruhm durch deren Erwähnung im In- und Ausland. Beginnen sie auch noch einen eigenen Unterrichtsbetrieb im Ausland, wie die Wienerin Radha Anjali als Schülerin von Adyar K. Lakshman, so bringen sie auch noch ein Mehr an zahlungs- und prestigekräftigen ausländischen Schülern für ihre asiatischen Lehrer. Radha Anjali organisiert zum Beispiel für ihre Besten Meisterklassen bei ihrem indischen Lehrer Adyar K. Lakshman. Dieser fährt auch selbst ins Ausland, um seine Schülerinnen und Schüler vor wichtigen Auftritten zu trainieren oder gemeinsam mit ihnen aufzutreten, was sowohl das Prestige seiner Schüler als auch sein eigenes hebt.

Radha Anjali vervollständigte ihre Ausbildung auch unter Kalanidhi Narayanan an deren Institut in Madras, Abhinaya Sudha, wo sie Abhinaya (108) studierte, den erzählerischen Aspekt des indischen Tanzes, die Kunst, durch Körperhaltungen, Fingerstellungen, Kostümierung, Schmuck, Schminke und dergleichen emotional geladene Inhalte darzustellen. Diese Art einer Fächertrennung hat sich erst im Gefolge des indischen Tanzrevivals der Dreißigerjahre etabliert. Kalanidhi Narayanan gehörte neben Rukmini Devi zu den ersten Brahmanenfrauen (109), die sich des Bharata Natyam professionell annahmen und ihn zu einer städtischen Bühnentanzkunst weiterentwickelten. Sie studierte unter anderem unter Kannapa Pillai, Mylapore Gauri Amma und Chinaya Naidu. Auch sie ist eine international tätige Lehrmeisterin, die bereits zahlreiche Preise und öffentliche Ehrungen erhalten hat. Und auch sie hat schon mehrmals Workshops im Natya Mandir in Wien gegeben.

Radha Anjali sieht das Lebenswerk Rukmini Devis als Vorbild für sich an:

Radha Anjali bemüht sich in Wien darum, rituelle, ethische und religiöse Bezüge des Bharata Natyam zu pflegen und in ihren Kursen, durch ihre Zeitschrift und ihren Verein, Natya Mandir, sowie durch ihre seit 1992 bestehende kleine Tanzgruppe zu vermitteln. Von ihren fortgeschrittendsten Schülern verlangt sie, dass sie sich auch mit dem Studium hinduistischer Literatur und Religion befassen. Über ihren Unterricht schreibt sie:

Radha Anjali ist, wie sie sagt, sehr stark von den spirituellen Ansprüchen der Kalakshetra- Schule gefärbt, sie möchte auch als Europäerin den Tanz nicht von Spiritualität getrennt wissen:

In der Praxis sieht Radha Anjali, dass jene Schüler denen die Spiritualität kein Anliegen ist, ihrem Unterricht ohnehin bald fern bleiben, sie hat noch niemandem deshalb den Zutritt verwehrt. Radha Anjali hat bereits einige ihrer größtenteils österreichischen Schülerinnen, einige sind auch indischer Abstammung und einzelne auch männlichen Geschlechts, fertig ausgebildet, die dann auch ein Arangetram, die rituelle erste öffentliche zweieinhalbstündige Vorführung abgelegt haben.

Einige ihrer Schülerinnen sind bereits im fortgeschritteneren Alter. Wohl auch aufgrund der spirituellen Inhalte spielt nach ihrem Erachten im indischen Tanz die Einhaltung eines Ideals von jugendlicher Schlankheit sowie auch die Altersgrenze eine geringere Rolle als im westlichen Ballett. Radha Anjali meint dazu:

Radha Anjali unterrichtete 1993 etwa 80 Schüler in verschiedenen Klassen, die meisten davon im Wiener Universitätssportinstitut. Und so kann auch Radha Anjali, obwohl es ihrem Ideal entspräche, nicht hundertprozentig nach dem alten Guru-shishiya-System unterrichten, denn "sonst könnte ich nur einen Schüler haben oder zwei und die müssten dann bei mir wohnen" (ibid.). Auch in anderer Hinsicht benutzt sie neuere Techniken. So regt sie ihre Schülerinnen dazu an, das Erlernte durch eine einfache Notationsform festzuhalten (siehe Abbildung 1), in derselben Art, wie dies bei den Lehrern der Kalakshetra-Akademie ebenfalls üblich geworden ist.

 

(Quelle: Natya Mandir News, Heft 17, Herbst 1997:5)

 

"Kat. Mukha" bedeutet in diesem Notationsbeispiel Katakamukha und bezieht sich auf die in den Zähleinheiten 1-2 geforderte Fingerhaltung:

 

 (Quelle: Natya Mandir News, Heft 17, Herbst 1997:6)

Umfassendere moderne Techniken, wie Stilmischungen, behält sich Radha Anjali jedoch für ihre eigenen Auftritte vor. Radha Anjali, die sich stark an der Lehre der Kalakshetra-Akademie orientiert, führt zu ihrer Art der Gruppenchoreographie und ihrer eigenen multistilistischen Arbeit aus:

 

 

Autorität, Imitation, Improvisation und Spiritualität im Tanzunterricht

 

Im Westen werden außereuropäische Kunsttechniken in der Regel mehr als Technik und nicht als Lebensweg gelehrt, wie dies ursprünglich in einer engen Verquickung von ethischer und technischer Unterweisung - und somit auch von Religion und Kunst - der Fall war. Unter anderem macht Barbara Vijayakumar (1994), Tänzerin der Kala Chethena Kathakali Troupe in England, auf die generelle Unterschätzung der spirituellen Bedeutung traditioneller asiatischer Tanzlehren aufmerksam. Konservative Lehrinstitutionen indischen Tanzes in England, wie das Londoner Bharata Vidya Bhavan können diese Funktion noch bis zu einem gewissen Grad erfüllen, während in modernisiertem und multikulturell orientierten Lehrkontext die religiöse und sinnstiftende Funktion des Unterrichts meist auf der Strecke bleiben.

In Asien war die gängige Form des Unterrichts zweckmäßigerweise die enge persönliche Unterweisung und die vollständige Unterwerfung des Schülers unter die Vormundschaft des Lehrers. Dieses Nahverhältnis nahm zumindest in Indien, Japan und Sri Lanka sogar Einfluss auf die Namengebung der Schüler. Die Schüler ersetzten nach erfolgreicher Ablegung von fachlichen Prüfungen und anderen Initiationen ihren Familiennamen durch den Namen der Lehrer oder durch die Namen der Orte, an denen sie ihre Lehren absolvierten. Auf die Frage nach der Abstammung von Bewegungskünstlern und Tänzerinnen aus diesem Raum wird gewöhnlich durch die Angabe von Lehrgenealogien erwidert und nicht durch biologische Abstammungslinien (110). In Japan erhalten die Schüler den Namen ihrer Schule nach erfolgreicher Abschlussprüfung als Familiennamen (Hanna 1983:125). In Sri Lanka wird der Lehrer als 'Vater der Kunst' noch vor dem leiblichen Vater als Antwort auf die Frage nach der Abstammung (paramparawa) genannt. In Indien kann der Name jenes Ortes, in dem der Lehrer unterrichtete, nach erfolgreicher Ausbildung den Familiennamen gänzlich ersetzen (111).

Die Nähe der Schüler zum Lehrer sicherte neben einer Aufrechterhaltung verschiedener Stilvarianten auch die Weitergabe von sehr subtilen Kenntnissen, etwa im Zusammen- hang mit Tranceverhalten, und in manchen Fällen auch von rituellem Geheimwissen. Kunst galt auf der ganzen Welt immer wieder als Erlösungsweg (112). In Asien wird auch heute noch das Erlernen einer Kunst oft zu einem spirituellen Weg, auf dem die Fertigkeit weniger zählt als die Disziplin der täglichen Praxis und Übung, die Entwicklung von spiritueller Stärke (Japan.: seishin) (113) oder das Streben nach Befreiung (Skrt.: nirvana, Pali: nibbana, Japan. nehan) und Sammlung (Skrt., Pali: samadhi, Japan.: zanmai oder sanmai). Es ist dies ein Aspekt der seit der Jahrhundertwende auch immer wieder westliche Schüler in den Osten geführt hat, um zu Lebensweisheit und Selbstbeherrschung zu gelangen und die Fähigkeit zu entwickeln, ein ruhiges und erfreuliches Leben zu führen. Diese Art von Lehre implizierte aber auch in der Regel eine strenge Auswahl der Schüler durch die Lehrer. Immer wieder hört man, dass diese Auswahl in Bezug auf ausländische Schüler aus verschiedenen Erwägungen heraus von Anfang an nicht in derselben Konsequenz praktiziert wurde. Entweder wurden Ausländer als Schüler überhaupt abgelehnt oder aber - und dies scheint zumindest im südasiatischen Kontext häufiger der Fall zu sein - sie wurden wesentlich milder beurteilt, in erster Linie weil sie das Prestige der Lehrer zu heben geeignet waren. Als weiterer wichtiger Grund wird auch genannt, dass man sich von Ihnen eine Weitergabe spiritueller und künstlerischer Kenntnisse über die Grenzen des Landes hinaus versprach.

Nilima Devi (Interview, 22.3.1994, Leicester), die zuletzt in Leicester als Kathak-Lehrerin arbeitete, stellte nach mehreren Jahren der Lehrarbeit in Deutschland und England ernüchtert fest, dass die meisten ihrer Tanzschüler Ruhm und Glanz anstelle von Perfektion und innerer Reife anstreben, dass sie einfach möglichst rasch auf der Bühne stehen wollen. Sie hat deshalb vor einiger Zeit ein paar ihrer Schülerinnen nach Indien mitgenommen, damit sie auch die strapaziöse Seite des Lebens einer professionellen Tänzerin erfahren. Sie fügten sich dort in eine Routine ein, die von ihnen verlangte von 9 Uhr früh bis abends um 8 Uhr zu trainieren und für einen Auftritt zu proben. Einige dieser Mädchen gaben daraufhin ihren Tanzunterricht auf. Nilima Devi meint es sei gut gewesen, dass sie sich beizeiten entschieden hätten und fügt hinzu, dass nach traditioneller indischer Philosophie die Bereitschaft zum Lernen grenzenlos zu sein hat, denn: "whatever you learn is a drop in an ocean".

In Europa neigen Tanzschüler jedoch zu der Auffassung, dass außereuropäische Tänze im Gegensatz zum klassischen Ballett eher leicht zu erlernen seien. Manche glauben schon nach ein oder zwei Workshops für Auftritte reif zu sein und präsentieren dann auf der Bühne Ergebnisse, die nicht dazu angetan sind das Prestige außereuropäischer Tanzkunst zu erhöhen. Nilima Devi berichtete, dass sich auch in Indien selbst, nach der Erlangung der Unabhängigkeit um 1947, viel an den alten Werten in Bezug auf die Tanzkunst verändert habe, weil danach zum erstenmal Tänzer als Kulturbotschafter um die Welt geschickt wurden und Tanz somit neue Funktionen zu erfüllen hatte, die Tanz in größere Nähe zum kapitalorientierten Showgeschäft brachten.

Andererseits ist, entgegen weitverbreiteter Ansichten, die Popularität Einzelner kein ganz neues Phänomen im Bereich indischer Tanzkunst. Schon zu den Zeiten der Moghuldynastien gab es vereinzelt berühmte Tänzerinnen in Indien, die vor allem über die Kultur der Königshöfe zu den Stars ihrer Zeit geworden waren. Einige wenige Namen sind bis heute überliefert, wie jene der Hoysala (114) -Königin Santala, die als hervorragende Tänzerin Vorbild vieler Tempeltänzerinnen der Region war. Im Unterschied zu damals kennt man erstens heute eine größere Anzahl von berühmten Namen und zweitens, so glaubt Nilima Devi, sei das Glück heute oft wichtiger als das Können für das Erlangen von Ruhm und Erfolg. Diese Ansicht steht sicherlich im Zusammenhang mit der Erfahrung, dass die Qualität einer Vorführung durch ein unzureichend gebildetes multiethnisches Massenpublikum nicht in dem notwendigen Maß gewürdigt werden kann, das eine qualitative Auslese der Tänzer nach traditionellen Maßstäben sicherstellt. So entscheiden heute andere, im traditionellen Rahmen geringer gewichtete Attribute des Tanzes, wie die physische Makellosigkeit seiner Interpreten, und auch neue performative Kriterien, wie seine interkulturell wahrnehmbare Gefälligkeit, über Erfolg und Misserfolg eines Stückes.

In Indien und Sri Lanka mussten Tanzschüler eine Reihe von Eigenschaften erfüllen, um für eine Lehre akzeptiert zu werde. Dabei spielten neben einem fehlerfreien Körperbau auch bestimmte 'glücksverheißende Körpermerkmale' (samudrika lakshanaya), deren Deutung Teil eines geheimgehaltenen Spezialistenwissens war und denen man auch Aufschlüsse über die charakterlichen Eignung der Kandidaten zuschrieb, eine Rolle (Feldnotizen d.A. 1980, 1984, 1996). Von dieser Strenge der Auswahl hat sich im modernen Kontext in den allermeisten Fällen kaum etwas erhalten. Nilima Devi gehört zu den wenigen indischen Tanzlehrerinnen in England, die ihre privaten Tanzschüler heute überhaupt, auf der Basis einer Probestunde, auswählen. Sie beurteilt nach einer einleitenden Aufwärmphase Konzentrationsvermögen und die Fähigkeit zur Koordination der Bewegungen verschiedener Körperteile in speziellen Übungen, die 10 oder 15 Minuten dauern. Die Schönheit des Körpers findet sie weniger wichtig als die anatomische Beschaffenheit und die Beherrschung der Beine und Füße, denn im Kathak müssen die Füße rhythmischen Klang produzieren können. Sie ist jedoch weniger wählerisch als sie es gerne wäre, da ihr bewusst ist, dass ohnehin ein nur sehr geringer Prozentsatz der von ihr ausgewählten Kinder die Tanzlehre dann auch wirklich ernsthaft weiterführt. Von einer Tanzform, die in England erst seit etwa 1980 auf breiterer Basis unterrichtet und beworben wird, könne man nicht erwarten, dass sie denselben Unterrichtsstandard wie das westliche Ballett mit seiner langen Geschichte hätte. Doch sie wünscht sich, dass einmal andere Lehrkräfte die Anfängerklassen auf dem von ihr vorgegebenen Niveau weiterführen und sie selbst dann eine professionelle Ausbildung für Fortgeschrittene leiten kann.

Radha Anjali, die unter Kama Dev in Wien ihre Ausbildung als Bharata Natyam Tänzerin begonnen hatte, wurde 1983 von Kama Dev bei dessen Guru Adyar K. Lakshman in Madras, Südindien, eingeführt. Sie erzählt von diesem Ereignis:

Sie musste sich also dem bekannten indischen Lehrer gegenüber sowohl in entsprechender ritueller Form vorstellen, als auch einer genauen Prüfung unterziehen, bevor sie von ihm als Schülerin aufgenommen wurde. Das ist insofern bemerkenswert, weil Adyar K. Lakshman keinen traditionellen Hintergrund als Lehrer hat, er wurde selbst hauptsächlich an der Kalakshetra-Akademie ausgebildet, die - wie bereits mehrfach erläutert wurde - selbst ein Produkt des Tanzrevivals der Dreißigerjahre ist. Die Kalashetra Akademie war indes aus den bereits genannten historischen Gründen von Anfang an bestrebt, eine sakrale und spirituelle Aura des Bharata Natyam zu fördern, wozu auch die Ehrung der Autorität der Meister gehörte. Adyar K. Lakshman pflegte dieses traditionelle Guru-Image weiter. Seine nationale Berühmtheit steht zweifellos in Zusammenhang mit seinem Ruf als ein an Traditionen orientierter Lehrer und Tänzer.

Das spezielle Autoritätsverhältnis des traditionellen Lehrers zu seinen Schülern findet seinen Ausdruck auch in den verschiedenen Grußbewegungsformen, die im südasiatischen Raum stets mit der Berührung der Füße des Meisters einher gehen. Nilima Devi hat so wie viele ihrer Kolleginnen in England beschlossen, sich unkonventionell und nicht als Guru grüßen zu lassen. Viele ihrer Schülerinnen nennen sie einfach 'Didi', ältere Schwester, was zwar eine Frau bezeichnet, die etwas ranghöher ist, aber einen wesentlichen geringeren sozialen Abstand impliziert als zu einem Guru. Nilima Devi besteht aber zum Beispiel nach wie vor darauf, dass die von ihr aus Indien eingeladenen Kathak-Meister, die in ihrer Schule Lehrdemonstrationen und Workshops geben, von ihren Schülern, die unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind, in traditioneller indischer Weise begrüßt werden.

An der Chitrasena School of Dance in Colombo wurden von Vajira Dias neue Begrüßungsrituale für Beginn und Ende des Unterrichts entwickelt, die dem modernen und multikulturellem Klientel der srilankischen Schule gerecht werden. Ansonsten lassen sich diese beiden Tanzschulleiter mit den relativ informellen "uncle" und "auntie" ansprechen, bestehen aber ebenfalls darauf, dass die an ihrer Schule unterrichtenden traditionellen Tanzlehrer entsprechend als Gurunnanse begrüßt werden (Nürnberger 1994: 233ff).

An staatlich geförderten multikulturellen Kulturzentren in England wird, aus ökonomischen, aber auch aus kulturpolitischen Gründen, jeder zum indischen Tanzprojekt- unterricht zugelassen, der sich dafür interessiert. Da man im modernen Umfeld auf die Schüler aus ökonomischen Gründen angewiesen ist, bemüht man sich auch, die Tanzstunden an jenen Orten anzubieten, an denen die meisten potentiellen Interessenten wohnen. Im traditionellen südasiatischen Umfeld war es jedoch üblich, dass der Schüler nicht nur seinerseits seinen Lehrer aufsuchte, um dort seinen Unterricht zu genießen, sondern für viele Jahre beständig bei ihm wohnte und ihm auch als Gehilfe dienstbar war.

In Japan wurden künstlerische Traditionen hauptsächlich innerhalb von Spezialistengruppen weitergegeben, die einem Meister, dem iemoto, unterstanden. Iemoto bedeutet wörtlich 'Quelle der Familie' oder 'Ursprung des ie'. Und tatsächlich bestanden meist Familienbande zwischen den Mitgliedern, deren hierarchische Struktur nur durch persönliche Einführung und Empfehlung durchbrochen werden konnte. Diese Künstlerschulen entwickel- ten ein System von Befugnishierarchien. Schüler erwarben stufenweise höhere Befugnisse, bis sie schließlich selbst lehren durften. Innerhalb dieser pyramidenförmigen Hierarchie bewegte sich Kommunikation von Stufe zu Stufe aufwärts, so dass jedes Mitglied eine starke Loyalität und Verpflichtung gegenüber seinem unmittelbaren Lehrer entwickelte und über ihn auch mit dem iemoto und der gesamten Schule oder dem gesamten Haus (115).

Die wichtigste Technik der Wissensweitergabe in Asien war die exakte Imitation des Lehrers durch den Schülern während im Westen verbale Erklärungen, Abstraktionen und formale Inhalte einen großen Raum einnehmen können. Die asiatische Technik entspricht dem stilistischem Charakter ritueller Formen, die weite Bereiche asiatischer Kunst charakterisieren (Hendry 1994:154). Wakamatsu (1995:211) schreibt:

In Asien spielt auch die Technik der 'Einfleischung' nicht nur von Bewegungsprinzipien wie in Europa, sondern langer festgelegter Bewegungsabfolgen durch jahrelanges Üben und Wiederholen eine große Rolle. Guru Samaraj Pillai demonstrierte 1983 in London im Rahmen des Academy Indian Dance Seminar mit seiner Schülerin Shobana Jeyasingh unter anderem auch dieses Prinzip der Unterrichtsarbeit in der Technik des Bharata Natyam. Ohne Musik und ohne sich von seiner Sitzposition zu erheben, zeigte der Lehrmeister seiner Schülerin die Schritte mit Handbewegungen an und legte weitere Bewegungsdetails so wie den Rhythmus vokal durch die Silben der Trommelrhythmen, die bols, fest. Jeyasingh erklärte im Anschluss an die Demonstration, dass das Lernen in einem solchen guru-shishiya Lehrverhältnis ein langsamer Prozess sei, in dem Wissen nicht als Konsumgut behandelt werde, sondern aus einer engen Bindung zwischen Meister und Schüler erwachse, die über mehrere Jahre aufgebaut werde. In der darauffolgenden Diskussion wurde einmal mehr der Spiritualität des indischen Tanzes die Abwesenheit von Möglichkeiten zur Selbstfindung und innerem Wachstum in der klassischen westlichen Ballettausbildung gegenübergestellt. (Academy 1983:13)

Im Gegensatz dazu verlangt innovativer und moderner Tanz, dass der Schüler die Prinzipien des Lehrers begreift und dann auf neue selbstgesetzte Herausforderungen anwenden lernt. Das Prinzip der Improvisation ist aber dem asiatischen Tanz keineswegs gänzlich fremd. Viele asiatische Kunststile haben traditionelle Räume für individuelle Improvisation. Wakamatsu erklärt dazu (ibid.):

Doch nur der Meister kann improvisieren, nachdem er die vorgeschriebenen Bewegungen und Rhythmen in jahrelangem Training verinnerlicht hat. Tanzmeister Chitrasena erklärte mir im Zusammenhang mit der Bedeutung der Improvisation im singhalesischen Ritualtanz den singhalesischen Ausdruck 'däng nätum ävila', "der Tanz ist angekommen":

Dem asiatischen Tanz ist auch innerhalb dieser keineswegs generellen Freiräume eine große Treue zu den Stilstrukturen eigen, so dass dem uneingeweihten Beobachter der improvisatorische Charakter der Darbietung leicht entgeht. Erst nach vielen Jahren des Trainings und der Fortschritte kann ein Lehrling der entsprechenden traditionellen asiatischen Tanzkünste daran denken, Originalität in seine Vorführung einzubringen. Diese Strukturtreue hat indes auch beträchtliches innovatives Potential. Kei Takei (1995:207) beschreibt die Vorzüge des japanischen Herangehens an Improvisation:

Das japanische iemoto-Lehrsystem geriet besonders in der Nachkriegszeit wiederholt in das Kreuzfeuer von Kritik. Es wurde als feudal und künstlerisch behindernd beschrieben und viele andere Formen von Kunst und künstlerischer Zusammenarbeit wurden ausprobiert, einige davon, waren auch vom Ausland beEinflusst. Der Gedanke des nachbarschaftlichen gegenseitigen Unterrichts, zum Beispiel, überlebte. Hendry beschreibt eine Gruppe von Dorfjugendlichen, die miteinander die alten utai-Gesänge lernen, die ursprünglich Nô-Stücken entstammen und die heute als Gesang bei Hochzeiten und anderen Zeremonien verwendet werden. Elemente der elitären Bühnenkunst sind dabei, Volkskunst zu werden, unter ihnen auch einige sehr anspruchsvolle Künste.

Einige Neuerungen aus dieser Zeit überlebten, aber auch die hierarchische Struktur künstlerischer Kontinuität hat sich im wesentlichen bis heute erhalten. Viele innovative japanische Künstler mussten erst ihren Weg im Ausland machen, damit sie dann nach ihrer Rückkehr in Japan akzeptiert werden konnten. Es gibt immer noch große Belastungen und Schwierigkeiten für Außenseiter des iemoto-Systems. 1980 kam es aus Protest gegen das Monopol der iemoto-Familien zu einem Attentat auf einen bekannten Tanzschulleiter. Die Attentäterin verbüßte dafür sechs Monate im Gefängnis (Hendry 1994:155f, 159f).

 

 

Tanz und allgemeine Erziehung

 

Insgesamt kann man davon ausgehen, dass unabhängig von dem öffentlichen sozialen Status professioneller Tänzer und Tänzerinnen die klassische asiatische Kunsttanzlehre elitär orientiert war und breitere Bevölkerungsschichten nur in bestimmten Gegenden und nur über Volkstanzformen mit Tanz aktiv in Berührung kamen. Demgegenüber gehen moderne Bestrebungen eher in die Richtung, den Tanz der Kunststile in elementareren Varianten in den Allgemeinunterricht oder zumindest in die generelle Kindererziehung zu integrieren. In Indien mag dies mehr die Ober- und Mittelschicht betreffen. In Sri Lanka ist Tanz bereits in den staatlichen Pflichtschulunterricht integriert, indem er die Leibeserziehung in Form des mehr militärisch exerzierenden Drill der älteren Lehrpläne, letztlich ein Erbe der Kolonisation, ergänzt und teilweise ersetzt. Wenn man davon ausgeht, dass Kunsttanz sich aus Volkstanzformen und gemeinsam gefeierten Riten entwickelt hat, so kann man in dieser modernsten Entwicklung gewissermaßen einen Rückgriff auf ältere primär sozialisierende Funktionen des Tanzes erkennen.

In Abhängigkeit zu dieser Entwicklung entstanden in Indien und in Sri Lanka, aber auch unter den südasiatischen Emigranten in Europa Formen von Kinderballetten, wie sie Vajira Dias in Sri Lanka zu Anfang der Fünfzigerjahre im Stil des singhalesischen Hochlandtanzes zum erstenmal auf die Bühne brachte (Nürnberger 1994: 246-249, 269, 277f, 280-284, 290) oder wie sie Nilima Devi (Interview, 22. 3.1994, Leicester) als Teil der Ausbildung ihrer Schüler im Kathak in Leicester choreographiert. In den asiatischen Tanztraditionen war der Platz der Schüler durch ihr Können und Wissen im Rahmen der traditionellen Vorführungen festgelegt. Sie durchliefen ihre Funktion vom einfachen Gehilfen, über Nebenrollen zu Hauptrollen. Es gab praktisch keine separaten Kindertanzformen.

Man kann davon ausgehen, dass Kunsttänze mehr noch als Volkstanzformen ideologische, ethische und ästhetische kulturelle Orientierungen in ihrem historischen Wandel widerspiegeln. Es erscheint daher als durchaus sinnvoll, einfachere Übungen des Kunsttanzes in die Allgemeinbildung zu integrieren. Nach Kardiner (1939 und 1945 zitiert nach Vester 1996: 20f) zählen die Praktiken der Aufzucht, Disziplinierung und Erziehung von Kindern zu den primären Institutionen, die maßgeblich zur Bildung der basic personality structure beitragen. Die Erziehung kann hier als Vermittlungsinstanz als kulturell aussagekräftiger erachtet werden als der spezifische 'Gegensatz' zwischen dem Einzelnen und seiner Gesellschaft. Nicht nur die Vertreter der Personality and Culture - Forschung (z.B. Child & Whiting 1953) erachten das Verhältnis zwischen Individuum und Kultur als maßgeblich durch Erziehungsinstitutionen geprägt. Auch das soziologische Konzept des Habitus betont die Bedeutung der Institution der 'Schule' als Zwischeninstanz zwischen kollektiver und individueller Mentalität. Bourdieu hat diesen Zusammenhang am Beispiel der künstlerischen Schule abgehandelt:

Tanz ist insofern ein machtvolles Pädagogikum zur Herausbildung des Habitus als er in vielfacher Indexikalität auf verschiedenste Bereiche von Kultur verweist. Norbert Elias hat in seinen "Studien über die Deutschen" darauf hingewiesen, dass der Habitus, den er in diesem Zusammenhang provisorisch als 'Wir-Schicht' bezeichnet, Komplexe und Störungserscheinungen enthält, "die denen der individuellen Neurosen an Kraft und Leidensdruck kaum nachstehen" und er fährt an gleicher Stelle fort:

Es besteht kein Zweifel daran, dass Schulen und Lehrinstitutionen auch im Bereich einer 'Habitustherapie', im Sinne gezielter, kontinuitätserhaltender Korrekturen kulturgeschichtlich geprägter kollektiver Haltungen, hervorragende Bedeutung zukommt. Habitus beinhaltet Körperlichkeit, und Tanz kann hier wunderbar ein breites Spektrum an kultursichernden pädagogischen Funktionen übernehmen, wie dies in der vorliegenden Arbeit immer wieder aus verschiedenen Perspektiven heraus ausgeführt wird. Insofern erscheint Tanz als Sozialisationsmittel zu wertvoll, als das seine Weitergabe entweder dem Zufall überlassen oder unter den Bedingungen sich rasch entwickelnder sozioökonomischen Verhältnisse auf spezielle Gruppen und Eliten einer Kultur beschränkt bleiben dürfte.

 

Karriere

 

Ein besonderes Herausforderung an die moderne Tanzlehre außereuropäischer Kunsttanzstile stellt die altersmäßige Beschränkung der modernen bühnenkünstlerischen Tanzkarriere dar. In Europa wird sie traditionell durch die sequentielle Trilogie Performer - Choreograph - Lehrmeister bestimmt. In Südasien und auch in anderen Gegenden der Erde ist eine öffentliche und auch professionelle Ausübung des Tanzes nicht unbedingt automatisch durch das Erreichen eines Alters, in dem das körperliche Schönheitsideal der jeweiligen Kultur als nicht mehr gewährt erscheint, unterbunden. Zum einen entsprechen Schönheitsideale nicht überall dem ästhetischen Vorbild der Jugendlichkeit, zum anderen genießen oft andere Ideale, wie Professionalität, Spiritualität oder rituelle Virtuosität größeren Vorrang als zum Beispiel selbst tanztechnische Virtuosität und körperliche Gewandtheit, die ja meist zwangs- läufig einer altersbedingten Einschränkung unterliegen. In Sri Lanka sind die ältesten Tanzpriester (yakdessa) die begehrtesten Hochpriester (mul-yakdessa) des Hochlandrituals Kohomba Kankariya. Einerseits verfügen sie über das umfangreichste rituelle Wissen und gewährleisten so den 'richtigen' Ablauf des Rituals, andererseits traut man Älteren generell stärkere magische oder mediale Kräfte und Fähigkeiten zu, die die Wirksamkeit des Rituals garantieren helfen.

Im Kontext der modernen unterhaltenden Bühnenkunst wird die Tanzkarriere vergleichsweise nun sehr intensiv und kurz. Roubaud (1994a:6) weist darauf hin, dass Tänzerinnen und Tänzer zu einem Zeitpunkt ihre Lebensweise ändern und einen beruflichen Neuanfang organisieren müssen, zu dem durchschnittliche Menschen ihren professionellen Weg sicher etabliert haben oder am Gipfel ihrer Karriere angekommen sind. Roubaud hat gemeinsam mit anderen Forschern in Portugal und in der Schweiz eine Studie (Dupond 1992, Batalha et al. 1992 in Roubaud 1994a:6) durchgeführt, in der 15 psychometrische Tests an Tänzerinnen und Tänzern verschiedener Altersgruppen, von den ersten Studienanfängern bis zum Ruhealter, ausgeführt wurden, die unterschiedliche Aspekte der Persönlichkeiten offenbarten, kognitive, affektive und evaluative Dimensionen. Die generelleren Schlussfolgerungen aus dieser Studie besagten unter anderem, dass die Karriereveränderungen in einem sehr frühen Stadium der Ausbildung des Tänzers vorbereitet werden müssten. Diese sollten auch den Zugang zu allgemeiner und höherer Bildung beinhalten und das Interesse der Tänzer aller Altersgruppen an möglichen Arbeitsgebieten, die mit dem Tanz in Verbindung stehen, aber auch an anderen Berufen aufrecht erhalten und eine soziale und emotionale Integration der Tänzer gewährleisten. Roubaud (ibid.: 7f) zitiert eine weiterführende Studie aus Portugal (Batalha & Xarez 1994), in der mindestens 17 verschiedene Tanzberufe, Animateur, Kunstdirektor, Kompaniemanager, Kritiker, Autor, Lehrer an allgemeinbildenden Schulen, Musikbegleiter, Notator, Konditionstrainer, Produzent, Probenleiter, Schulmanager, technischer Direktor, Therapeut, Lehrer / Ausbilder, etc. ausfindig gemacht wurden, die die zuvor genannte Trilogie Performer - Choreograph - Lehrer bei weitem überschreiten. Von dem Problem wachsender Arbeitslosigkeit im Gefolge der Rezession schienen indes vor allem Bühnentänzer und -tänzerinnen betroffen zu sein. Weiters wurden im Rahmen der portugiesischen Studie Daten über Interesse und Erwartungen an sowie Formen von Tanz und Schwierigkeiten oder Opposition gegen die Integration von Tanz seitens von Kunsterziehungs-Instituten und Höheren Schulen erhoben, die potentiell Tanzlehrer einsetzen können. Das Ergebnis zeigte einen prinzipiellen Bedarf an Tanzlehrern an allgemeinbildenden Schulen. Die befragten Erzieher wiesen insbesondere auf die generellen Erziehungsmöglichkeiten der Jugend durch Tanz hin. Dabei wurden als bevorzugte Richtungen Volkstanz, moderner Tanz und Ausdrucksaktivitäten genannt. Klassischer Tanz stand am Ende der Liste. Diese Ergebnisse sind sicherlich beispielhaft für die Situation der Tanzlehre in vielen anderen europäischen Staaten.

Die Forschung hat gezeigt, dass die Vorteile tänzerischer Praxis für den Menschen nicht zu leugnen sind. Während dieses Jahrhunderts wird Tanz langsam wieder in das erzieherische Ideal integriert. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass in einigen Fällen, die auf die eigentliche Natur der Evolution des Theatertanzes in der westlichen Kultur zurückzuführen sind, Tanz bestimme physische, psychologische und soziale Probleme für Tänzer und Tänzerinnen mit sich bringen kann. Weiters haben Studien, wie die oben angeführten, gezeigt, dass es eine Beziehung zwischen dem Anstieg der sozialen Nachfrage für Tanz und der Entwicklung neuer Tanzprofessionen gibt. Dieses Phänomen komplementiert die Bedürfnisse der Tänzer nach professioneller Umorientierung (Roubaud 1994a:8).

Die Situation der community dance workers in Großbritannien weist indes ein weit fortgeschritteneres Entwicklungsstadium der Integration von Tanz mit dem Erziehungs- und Sozialwesen auf, was in folgenden Kapiteln noch näher ausgeführt wird, und stellt bereits eine praktische Umsetzung solcher theoretischer Erkenntnisse in den Erziehungs- und Tanzausbildungsalltag dar. Gute Tanzschüler sind zumeist auch gute Schüler in den Pflichtfächern. Dies stellt aber auch ein Problem dar, wenn oft die begabtesten Tanzschüler nach der mittleren oder höheren Reife zukunftsträchtigere Ausbildungen wählen und keine Zeit mehr für die Weiterführung einer Tanzkarriere aufbringen und auch nicht für die eventuell von ihren Lehrern sehnlichst erwartete Mitarbeit in einer Tanztruppe zur Verfügung stehen.

Jeanette Siddall stellt in Großbritannien einen vergleichsweise niederen Status der Unterrichtsarbeit im Vergleich mit der Aufführungstätigkeit fest. So blieben etwa in Irland gut bezahlte Stellen in Erziehung und Unterricht unbesetzt, weil dem Lehrwesen eben ein gewisses Stigma gegenüber der Vorführtätigkeit anhaftet, indem ein Mangel an Qualifikation für die Bühnenarbeit unterstellt wird (Tanz direkt 1994:13).

Im Gegensatz dazu, ist die Lehrtätigkeit an den modernen Tanzschulen und im allgemeinen Unterrichtswesen in Sri Lanka auf dem Gebiet des Tanzes mehr geachtet als die Bühnenarbeit und auch als die traditionelle tänzerische Arbeit als Ritualtänzer. Hierin darf man eine Auswirkung des neuen soziale Mittelklassemilieu, des Prestiges einer staatlichen Anstellung als Lehrer und der niederen sozialen und religiösen Wertung welche die theravadabuddhistischen Gesellschaft Künstlern, insbesondere Schaustellern und auch traditionellen Ritualspezialisten der synkretistischen Volksreligion entgegenbringt, erblicken.

 

 

Zusammenfassung

 

In der Entwicklung der Bühnenkünste aus einem Bereich des Ritualwesens und der Unterhaltungskünste der Herrschenden und des Volkes spielten weltweit einige ähnliche Faktoren einer Rolle. In feudalen Gesellschaften fungierte Tanz nicht nur als Unterhaltung an den Höfen, sondern erhielt zusätzliche Bedeutungen durch das Bedürfnis nach Repräsentation, als Mittel der Disziplinierung, Erziehung, Bildung und auch des - bisweilen deutlich militärisch ausgerichteten - Körpertrainings des königlichen Gefolges. Die Verbürgerlichung der Gesellschaft und die Erfordernisse der Marktwirtschaft, die sich vor allem im Gefolge der Kolonisation weltweit verbreiteten, brachten eine Bühnenkunst hervor, die neue und vor allem unterhaltende Funktionen erfüllte. Im Zeitalter des postkolonialen Nationalismus kam es zur Herausbildung von Nationaltanztruppen, die Bühnenfolklore mit deutlichem Bezug zu nationalen ideologischen Inhalten hervorbrachte.

In einigen nichtwestlichen Ländern kam es in der gesellschaftlichen Umbruchsphase zu Anfang dieses Jahrhunderts zu intensiven Prozessen des Exports und Reimports von Stilelementen mit westlichen Ländern. Dem Reimport und Revival östlicher Tanzstile auf der einen Seite entsprachen die vielfältigen Entlehnungen aus dem Bereich dieser ethnischen Stile durch den Westen, wo ein Prozess der Aufwertung des Kunstcharakters des Tanzes auch im Hinblick auf Sinnstiftung und Spiritualität des Tanzes erfolgte. Sowohl Moderne als auch Postmoderne bleiben in beiden Hemisphären in wechselnden Konjunkturen immer wieder durch Einflüsse aus dem wechselseitig fremden Raum befruchtet.

Den einzelnen Stilen liegen individuelle Entstehungsgeschichten zugrunde, die nur wenige globale Aussagen erlauben. Als ein Beispiel für soziohistorische und ideologische Zusammenhänge wurde die postkoloniale Geschichte des Bharata Natyam etwas eingehender abgehandelt. Zu den verbreiteteren Erscheinungen zählen soziale und formale Neuorientierungen im Zuge der Entwicklung der modernen Bühnenkunst, die den Tänzer zu einem marktwirtschaftlichen Konjunkturen unterworfenen Arbeiter für einen mehr oder minder freien, das heißt kapital- und wettbewerbsorientierten Markt machen und seine Kunst zu einer Ware werden lassen, die diesem Markt entsprechend gestaltet werden muss. Hieraus ergeben sich mannigfaltige Veränderungen in der Ausrichtung von Form und Inhalt tänzerischer Ausbildung, in der nicht nur neue Techniken und Formen vermittelt werden müssen, sondern vor allem auch religiöse und spirituelle Inhalte zurückgedrängt werden. Hatte sich der Westen also ursprünglich - oder jedenfalls unter anderem auch - dem Osten aus einer Sehnsucht nach einer spirituellen Körperlichkeit heraus zugewandt, so findet sich nun der Osten teilweise eben dieser Spiritualität durch die moderne Entwicklung beraubt wieder. Dieser Entwicklung steht jedoch in vielen asiatischen Kulturen und auch in einigen Bereichen westlicher Kulturen ein Prozess gegenüber, in dem Tanz zu einem wichtigen und allgemein zugänglichen Erziehungsbeitrag umgestaltet wird. Dass dadurch und auch auf andere Weise alte sinnstiftende und integrative Funktionen des Ritualtanzes in neuer Gestalt wiederbelebt werden, ist zentrales Thema des folgenden Kapitels.

 


Anmerkungen:

 

91 Interview mit Pal Regös 18.3.1995, Wr. Neustadt. blue2_5.gif zur Textstelle

92 zitiert nach Hendry 1994:155. blue2_5.gif zur Textstelle

93 Werden in erster Linien alte Traditionen erhalten, wie in der Teezeremonie und der Theatertradition des Nô, tendiert das iemoto-System dazu, erhalten zu bleiben, obwohl Spaltungen in Untergruppen auftreten können. Ist die Kunstgattung offener gegenüber Neuerungen, wie jene des Blumenarrangements, der Malerei oder des Tanzes, neigt sie dazu, aus sich heraus neue Schulen hervorzubringen, vor allem dort, wo es auch viele zahlende Schüler gibt, wie auf dem Gebiet des Tanzes.

An dieser Sichtweise erscheint die Trennung zwischen Theater und Tanz als nicht eindeutig schlüssig. Das Nô enthält viele tänzerische Elemente und es bleibt unklar, welche Gattungen hier unter dem Begriff des Tanzes zu subsumieren bleiben. Schließlich kam es auch im Bereich des japanischen Theaters zu Anfang des 20.Jh. zu Modernisierungsprozessen. Gegen Ende des 19.Jh. gab es noch nach dem strengen Familiensystem organisierte, ausschließlich männliche Berufsschauspieler. Die shimpa-Bewegung und Anfang des 20 Jh. das shingeki-Theater bemühten sich jedoch in Japan um ein modernes Theater nach europäischem Muster, die diese Strukturen etwas aufweichten. Insbesondere das shingeki war Ausdruck und Ergebnis der durch die Meiji-Restauration (1867/68) erfolgten Öffnung nach dem Westen (Brauneck & Schneilin1992: 853ff). blue2_5.gif zur Textstelle

94 Nürnberger 1994, insbes. 193-203. blue2_5.gif zur Textstelle

95 Nürnberger 1994, insbes.47-56. blue2_5.gif zur Textstelle

96 Der von König Rajendra Chola 1025 zur Erinnerung an einen siegreichen Feldzug erbaute Brihadesvara-Tempel ist der älteste unter jenen Tempeln, welche Abbildungen der Tanzposen (karanas) aus dem 4. Kapitel des Natyashastra zeigen. Der wohl berühmteste dieser Tempel wurde einige Jahrzehnte später in der Tempelstadt Chidambaram zu Ehren des Gottes Shiva, dem Herrn der Tänzer, erbaut. Er zeigt alle 108 Karanas in Stein gemeißelt, so wie auch der viel später, im 13. Jahrhundert erbaute Sarangapani-Tempel in Kumbakonam. Diese einmaligen und unvergänglichen Zeugnisse einer bis zu rund tausend Jahre alten Tanzkunst "bleiben Vorbild für alle Bemühungen, den klassischen indischen Tanz zu erhalten und weiterzuentwickeln" (Rebling 1981:123). blue2_5.gif zur Textstelle

97 "Dem Primitiven scheint die Trommelsprache nichts anderes zu sein, als hörbar gemachte Rhythmen seines Körpers. (...) Der Primitive kann sich genauso mit hörbaren Gebärden verständigen wie mit sichtbaren. (...) Der Tänzer unseres Kulturkreises ist zwar kein Primitiver, aber er hat auch das gleiche feine Empfinden für die Bedeutung der sichtbaren und hörbaren Körperbewegung. Darum versteht er Rhythmen und Klänge auch als eine Art hörbare Gebärde und den Tanz als eine sichtbare Sprache." blue2_5.gif zur Textstelle

98 Die Bezeichnung 'modern educational dance' wurde zu Lebzeiten Labans in England aber auch praktisch als Synonym für Ausdruckstanz verwendet. Er umfasst also sowohl die pädagogischen Anwendungen des modernen Tanzes an allgemeinbildenden Schulen als auch den modernen Bühnentanz der Epoche (Laban 1989:247). blue2_5.gif zur Textstelle

99 Mehr über dieses Thema findet sich in dem Abschnitt "Repräsentation sozialer Rollen", ausführlicher behandelt in Nürnberger 1998a. blue2_5.gif zur Textstelle

100 Auf die Folgen in Bezug auf Unterweisungsformen und Unterrichtsinhalte wird im folgenden Abschnitt "Wandel der Formen und Inhalte der Tanzlehre" noch näher eingegangen. blue2_5.gif zur Textstelle

101 Nürnberger 1998: 11; Interview mit Upeka de Silva (Tochter Chitrasenas) und Ravibandu Vidyapathi, beide u.a. auch Tanzlehrer an öffentlichen Schulen in Sri Lanka, am 9.6.1995 in London. blue2_5.gif zur Textstelle

102 Nürnberger 1994: 206. blue2_5.gif zur Textstelle

103 Bharucha nennt unter den herausragenden Protagonisten dieser neuen Ideologie den Kunsttheoretiker V. Raghavan, aber auch E. Krishna Iyer und die Tänzerin und Tanzschulleiterin Rukmini Devi, alle Angehörige der Brahmanen-Elite von Madras. blue2_5.gif zur Textstelle

104 Vgl. Kap. "Tanz und das Fremde", Abschnitt "Geschlechterrollen". blue2_5.gif zur Textstelle

105 Dieser Gott der Weisheit und des Reichtums wird in seiner Funktion als Beseitiger von Hindernissen regelmäßig zu Anfang hinduistischer Riten angerufen um deren störungsfreien Verlauf zu gewährleisten. blue2_5.gif zur Textstelle

106 Dies gilt jedoch nicht für die Tänze der sogenannten "adivasi" oder Stammeskulturen und anderer kulturell marginalisierter Ethnien in diesem Raum, die durchaus auch Tanztraditionen pflegen, welche stärkere Anteile an Imitationen der Natur aufweisen. blue2_5.gif zur Textstelle

107 Quellen zu diesem Thema: Interview mit Radha Anjali am 20.12.1993 in Wien und Natya Mandir News, Heft 17, Herbst 1997. blue2_5.gif zur Textstelle

108 In einer Bharata Natyam Tanzvorführung gibt es neben Abhinaya - Teilen zumeist auch Nrtta-Teile, die abstrakten rhythmischen und nichtdarstellerischen Tanz zeigen. Es gibt aber auch Tänze, die ausschließlich Geschichten erzählen, die sogenannten Padams. Kalanidhi Narayanan ist auf Padams spezialisiert.

Abhinaya besteht aus: Gestik, Bewegung und Posen (angika abhinaya), aus Text und Poesie des Gesangs, der den Tanz begleitet (vacika abhinaya), aus äußeren Hilfsmittel, wie Kostüm, Make-up und Dekoration (aharya abhinaya), äußeren Manifestationen eines psychischen Zustands (satvika abhinaya) und dem Endziel aller künstlerischen Darbietungen, der Erzeugung eines ästhetischen Genusses (rasa). blue2_5.gif zur Textstelle

109 Während andere Stile, wie der Kuchipudi-Tanzstil, durch brahmanische Lehrer in männlicher Linie weitergegeben wurde, waren die Bharata Natyam-Tänzerinnen und Lehrerinnen keine Angehörigen dieser Kaste. Nach Marglin (1989) gehören sie den "berührbaren", "nicht-Wasser-gebenden" Kasten an. blue2_5.gif zur Textstelle

110 Dies wurde mir für Indien und Sri Lanka unter anderem von den bekannten Lehrern Chitrasena Dias und Adyar K. Lakshman bestätigt. Für Sri Lanka habe ich das Lehrverhältnis der Hochlandtänzer an anderer Stelle (1994: 60-64) bereits ausführlich dargestellt. blue2_5.gif zur Textstelle

111 Nach einem Interview mit Adyar K. Lakshman in Wien 1995. blue2_5.gif zur Textstelle

112 Vgl. Abschnitt "Bewegung als Erkenntnisweg" im Kapitel "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential". blue2_5.gif zur Textstelle

113 Hendry 1987:158. blue2_5.gif zur Textstelle

114 Die Hoysala Dynastie herrschte zur Zeit der Cholas in Kanara, dem Gebiet um Mysore, von 1111 bis 1327. "Der zweite Hoysala-Herrscher trat von Jinismus zum Vishnuismus über. Unter seiner Leitung und der seiner Nachfolger entstanden in Halebid und Belur ganze Tempelgruppen mit prachtvollen Reliefs. Von der Hoysala-Königin Santala wird erzählt, sie sei eine hervorragende Tänzerin gewesen, ein Vorbild vieler Tempeltänzerinnen dieses Gebietes. Tanzskulpturen in den Vishnu-Tempeln zeugen von ihrer Schönheit und künstlerischen Reife." (Rebling 1981:124) blue2_5.gif zur Textstelle

115 Hendry 1987:153f bezieht sich auf O'Neill 1984:631-645. blue2_5.gif zur Textstelle


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Univ.-Doz. Dr. Marianne Nürnberger Uni Wien