Tanz / Ritual -
Integrität und das Fremde

Copyright (C) Marianne Nürnberger 2001
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6. Teil


Von Bühnenkunst zum Ritual?

Die neue Sehnsucht nach Riten. Die Reritualisierung der Bühnenkunst - eine exemplarische Einführung. Der Fundus der Fremde. Die neuen Riten: Transformation, Therapie, Kritik.

 

Eine Auseinandersetzung mit den fremden und kultureigenen Ritualen ist – wie dies zu Anfang des vorangegangenen Kapitels, "Vom Ritual zur Bühnenkunst", dargelegt wurde - schon lange Zeit in der einen oder anderen Weise Bestandteil europäischer Bühnenkunst. Diese Kategorie künstlerischer Abhandlung von Riten und Ritualität verfolgt jedoch zumeist andere inhaltliche Zwecke wie "echte" Rituale. Aus diesem Grund wurde auch diese Kapitelüberschrift mit einem Fragezeichen versehen. Nichts desto trotz ist eine Tendenz in modern rational orientierten Gesellschaften zu verzeichnen, dass einige jener Bereiche, die früher durch religiöse Riten abgedeckt wurden, von bestimmten Bereichen moderner und angewandter Tanz- und Theaterkunst für sich beansprucht werden.

 

 

Die neue Sehnsucht nach Riten

Verzerrungen des Ritualbegriffs. Deritualisierung.

 

Öffentliche Ritualisierung und Massenchoreographien sind durch die Praxis Hitlerdeutschlands, durch den Missbrauch von großen kollektiven Ritualen zur nationalistischen Hetze und militaristischen Zwecken unauslöschlich stigmatisiert worden (Müller & Stöckemann 1993, Karina & Kant 1996). Unter dem Einfluss von Freud und Marx verstand man das Wort 'Ritual' auch in der Wissenschaft, insbesondere in der Psychologie und Verhaltensforschung, bis vor kurzem fast nur mehr im Sinne von sinnentleerten, repetitiven, redundanten, zwanghaften und unveränderbaren Verhaltensformen, und religiöse Riten im marxistischen Sinne als 'Opium für die Massen', obwohl schon Van Gennep die sozialintegrative Funktion lebendiger Riten eindringlich ins Bewusstsein hätte zurückbringen sollen. Die Reduktionismen der frühen Ethnologie waren durch ihre Ausrichtung auf das Studium der "Wilden", in deren vorgeblichen Nähe zum Tier, geprägt, um Gesetze einer mehr oder weniger eng unilinear konzipierten Evolution zu ergründen. Ritenforschung wurde auch 'tendenziös' in ihrer Funktionalisierung für die Argumentation einer vorgeblich weltweit verbreiteten Urreligion, die als Eingottglaube konzipiert wurde. So verfolgten viele Forscher Ziele, die außerhalb ihres vorgeblichen wissenschaftlichen Interesses lagen. Der Begriff "Ritus" selbst war in seiner Doppelsinnigkeit als 1.- religiöser (Fest-)Brauch in Worten, Gesten und Handlungen und als 2.- Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung, Zeremoniell (116) stets dazu angelegt, das Augenmerk des Forschers auf Redundanz einerseits und Repräsentation andererseits zu lenken, auch dann, wenn die untersuchten kulturspezifischen Handlungen in erster Linie anderen Funktionen dienten. All dies trägt bis heute zu einem verkürzten Verständnis religiöser und therapeutischer Riten bei.

Riten gehören zu jenen Taten, aus denen wir uns ein Gewissen machen. Lebendige Riten ertasten den sich stets verändernden Weg der Integration von Individuum und Kultur, sichern die Kontinuität der Kultur und sind in diesem Sinne zukunftsorientiert. Victor Turner (1988:48) beharrt darauf, dass Religion nur so lange lebt als ihre Rituale 'going concerns', wichtige gemeinschaftliche Belange, sind. Entferne die Riten, und die Religion stirbt. Umgekehrt wissen wir, dass Inhalte weiterleben, so lange die ihnen zugehörigen Riten lebendig erhalten werden, dass z.B. ältere religiöse Inhalte auch dann weiterleben, wenn ihre Riten unter neue Glaubenssysteme und neue Namen subsummiert werden, wie dies in den lateinamerikanischen Kirchen oder auch im buddhistischen Glauben Sri Lankas der Fall ist. Wenn Riten jedoch zur Gänze zu Traditionalismen oder leeren Konventionen erstarren statt Tradition fruchtbar anzuwenden und an wechselnde Verhältnisse anzupassen, büßen sie ihre sozialpsychologisch integrative Wirkung ein. Mit dieser Wirkung stirbt eine wichtige Funktion der Gemeinschaft, die kollektive und individuelle Anteile von Bewusstsein und Körperlichkeit und damit auch die materielle Basis einer Kultur gefährdet zurücklässt. Lebendige Riten produzieren und (re-)etablieren ethische Regelungen, emotionale Verarbeitung von Erinnerungen, Wertung und Auswahl von Bedeutungszusammenhängen. Sie produzieren Rationalität, nicht bloß als symbolische Arenen kultureller Hegemonie und Kontrolle, sondern auch als effektive und Not wendende Kanalisation emotionaler, körperlicher und geistiger Energien. In Riten spielen Raum- und Zeitrichtung, Rhythmus, Intensität, Bewegung und Abfolge, eine wichtige Rolle. Die konzentrative und außeralltägliche Bewegung des kulturgeprägten Körpers, die durch Klang wirksam unterstützt und rhythmisch akzentuiert wird, steht in vielen Fällen im Zentrum rituellen Geschehens. Das schöpferische Ritual kann sogar recht präzise als Phänomen erfasst werden, wenn man Tanz als seine Metapher begreift, was Südasiaten dazu motiviert haben mag, den Magier-Asketen und Erz-Schamanen unter den hinduistischen Göttern, Shiva, als kosmischen Tänzer zu konzipieren. Redundanz und Zwanghaftigkeit haben demgegenüber nur am Rande etwas mit dem inneren Wesen von Ritual oder Tanz gemein - ebensoviel oder ebenso wenig wie sie etwa den Drive eines Rhythmus oder das Erlebnis tiefer, gewachsener Liebe zu definieren vermögen.

 

Unser Zeitalter der Marktwirtschaft und der Großindustrien brachte unserer Hemisphäre einen allmählichen Zerfall der traditionellen großfamiliären Wohn- und Arbeitsgemeinschaften bis zu der gegenwärtigen Zersplitterung in Kleinfamilien und Single-Haushalte, die besonders in den Städten die Regel sind. Damit einher ging auch eine sukzessive Entwertung der lebenszyklischen Riten und die Profanation des täglichen Lebens, mit einer fortschreitenden Trennung der Kirche von Staat und Erziehungswesen. Von modernen europäischen Lebensformen wird oft behauptet, dass sie ritualfeindlich seien, von modernen Denkweisen meint man oft, dass sie Riten irrelevant, wenn nicht absurd erscheinen lassen. Nun könnte man zunächst annehmen, dass diese Entwicklung zuallererst ein Mehr an individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und persönlicher Freiheit bedeuteten, doch muss nach Analyse der kulturellen Bewegungen nach der Jahrhundertwende auch auf dem Gebiet der Tanz- und Körperkultur von einer Reihe gegenläufiger und konflikthafter Prozesse ausgegangen werden.

Einerseits hat sich starre Konvention als Phänomen des täglichen Lebens, insbesondere in der Arbeitswelt und innerhalb der Staatsbürokratien durchaus am Leben erhalten, zwingt uns ihre Formen auf und einen beträchtlichen Aufwand an Zeit und Arbeit ab. Andererseits sind auch viele Freizeitbereiche, wie Körperverschönerung, Spiel und Sport, Prozessen der Konventionalisierung unterworfen, die dem hochgehaltenen Anspruch auf Individualität im Grunde Hohn sprechen. Diese Konventionalisierungen prägen konsumfördernde ständig wechselnde Moden an Kleidung, Accessoires, Verhaltensregeln, Sprachgebräuchen und Körperstilen, die ständig neue Pseudoindividualitäten und Gruppenzugehörigkeiten über Selbstdarstellungen hervorbringen. Aufgrund dieser Entwicklung ist auch die Untersuchung der Selbstrepräsentation im täglichen Leben von Goffmann (1990), die bereits 1959 veröffentlicht wurde, in letzter Zeit immer häufiger zitiert worden. Anderson (1983) schrieb über menschliche Gemeinschaften als 'imaginierte' Einheiten. Die Artefakte, die der Imagination Form und Substanz verschaffen und auch deren spezifischen kulturellen Charakter prägen, sind notwendig Beispiele populärer Dramatisierung (Chaney 1993: 68). In einer Kultur der Massenpolitik wird zufällige Zusammenstückelung und Assoziation zu einem Charakteristikum der theatralischen Inszenierung und Artikulation öffentlicher Meinung und öffentlichen Diskurses (ibid.: 137). Zufällige Zusammenstückelungen bestimmen zu einem guten Teil auch die Konventionalisierungen der Freizeitkultur. Der kurze Haarschnitt und Lederbekleidung gewisser 'Punks' erinnert zwar an die Exekutivorgane des deutschen Faschismus, doch gibt es unter ihnen auch deklariert antifaschistische Gruppierungen, so dass in einer moralischen Beurteilung eben nicht mehr unhinterfragt von historischen Kontexten zwischen Verkörperung und Inhalt ausgegangen werden kann.

 

 

Verzerrungen des Ritualbegriffs

 

Riten sind im engeren Sinn Handlungen, die dazu dienen, das menschliche Einzelschicksal unter Berufung auf kosmologische Zusammenhänge zu transformieren. Dies ist das grundlegendste Konzept hinter den drei großen, durch ihre Motivation voneinander zu unterscheidenden Ritengattungen, 1.- lebenszyklische Riten, 2.- schicksalskorrigierende Riten und 3.- Riten der mystischen Union mit dem Göttlichen.

Zu den lebenszyklischen Riten gehören unter anderem die Riten der Geburt, der Namengebung, der ersten festen Nahrung, Pubertätsriten, Heiratsriten und Riten bei Begräbnis und Tod. In ihnen sind in der Regel die profanen, kulturerhaltenden und sozialisierenden Elemente am deutlichsten auszumachen, vielleicht mit Ausnahme der Sterberiten, die aus naheliegenden Gründen unter ihnen oft den signifikantesten Anteil an explizit kosmologischen Bezügen beinhalten. Doch darf bei aller soziologischen Bedingtheit dieser Rituale nicht vergessen werden, dass sich die Praktizierenden ihnen - solange diese Riten nicht zu bloßen Konventionen erstarrt sind, was gemeinhin ihr Sterben ankündigt - aufgrund der Annahme unterwerfen, dass anderenfalls kosmologische Ordnungen gestört würden. Zu den Riten der Schicksalskorrektur gehört das ganze Spektrum der manipulativen Riten, die für Individuen oder auch für Gruppen abgehalten werden, wie Bittgebete, Schadensmagie, Schadensabwehr, Fruchtbarkeitsriten für Menschen, Boden und Vieh sowie therapeutische Riten. Sie stellen eigentliche Anwendungen der religiösen Vorstellungen und Kosmologien für das praktische Überleben dar. Die Riten der Union mit dem Göttlichen oder Absoluten dienen der Erhebung des Einzelindividuums auf eine Ebene mit den schicksalsfügenden Mächten und der allgemein segensreichen innigen Teilhabe am Göttlichen oder am kosmischen Ganzen. Daneben sind viele Übergangsformen und Kombinationen zwischen diesen drei großen Kategorien beobachtbar.

Vielen Riten sind bestimmte Äußerlichkeiten und technische Charakteristika gemeinsam, wie das Einhalten von kulturabhängigen Regeln der Enthaltsamkeit, die Anwendung außeralltäglichen performativen Verhaltens, die Erzeugung veränderter Bewusstseinszustände, die alle schon in Abhängigkeit vom jeweiligen Forschungsfach jeweils in das Zentrum wissenschaftlicher Ritenforschung gestellt wurden. Jede Kosmologie ist Ausdruck von physischen, psychischen und gesellschaftlichen Erfahrungen, die oft unmerklich ineinander übergehen. Die bereits mehrfach angesprochenen und für die Ethnologie so bedeutsamen Ritualtheorien von Durkheim, Lewis und Douglas haben sich nahezu ausschließlich mit den soziologischen Aspekten von Riten befasst. Gerade auf der Ebene des soziologischen Verhaltens lassen sich viele Parallelen zwischen den Riten im engeren Sinn, als religiöse Handlung, und den Riten im weiteren Sinne, als zeremoniell festgelegter profaner Brauch, feststellen.

Aus naheliegenden Gründen spricht man im Zusammenhang mit Bekleidungsmoden, Cliquen-Verhalten und Konventionen immer wieder von Fetischismus und Ritualisierung, eine Sprachkonvention, an der die Freudsche Terminologie der Psychopathologie und auch marxistische Vorstellungen über Prozesse der Entfremdung großen Anteil haben. Die meisten dieser Verhaltensweisen mögen zwar manchmal Ausdruck bestimmter Details der Weltanschauung sein, sind jedoch wohl kaum integrativer Bestandteil komplexer Kosmo- logien und dienen selten lebenszyklischen und so gut wie nie schicksalskorrigierenden oder mystischen Transformationen des individuellen Schicksals. Sie grenzen vielmehr gänzlich profane soziale Zeiten und Räume ab, den Alltag von der Freizeit etwa oder dienen als körpersprachliche Attribute schichtspezifischen Verhaltens.

In europäischer Alltagssprache und auch in der Mediensoziologie bezeichnet 'Ritual' Handlungen, die 'nur der Form halber' ausgeführt werden. Oft werden daher Aktionen als Ritual bezeichnet, die sich in entleerten Strukturen erschöpfen oder/und in versteckter Weise bloß dazu dienen, Macht und Status zu bestätigen. MacClancy und Parkin weisen auf die Bedeutung von 'Täuschungsmanöver' - "such as the 'ritual' denunciations of which politicians occasionally accuse one another" - und 'Gewohnheit' - "for instance, the 'ritual' washing of the car on Sunday mornings" - hin (MacClancy & Parkin 1997:61). Milner (1956 zitiert in Hughes-Freeland 1997:1) demonstrierte in seiner feierlichen Beschreibung der bizarren Körperriten der 'Nacirema', die sich als alltägliche Handlungen von Nordamerikaner entpuppen, auch die Tendenz, einfach all das als Ritual zu bezeichnen, was irgendwie fremd, bizarr und exotisch im Vergleich zu den eigenen Gewohnheiten anmutet. Auf diese Weise wird der Begriff 'Ritual' dann dazu missbraucht, fremdartig oder redundant erscheinendes Benehmen aus unbekanntem Kulturkontext zu exotisieren.

Alle diese missbräuchlichen oder irreführenden Verwendungen des Begriffs 'Ritual' gehen letztendlich auf die Erweiterung des Begriffs des Rituals vom Bereich des Sakralen auf den Bereich des Säkularen zurück. Diese Erweiterung wird von vielen Ethnologen für ihre Theorien benötigt, wie dies unter anderem auch Chaney (1993) und verschiedene Autoren in Hughes-Freeland (1998) praktizieren.

Eine besondere spekulative Qualität erhält diese Praxis, wenn sie mit biologistischen Ansätzen verbrämt wird und für eine Ableitung menschlichen Rituals aus sogenannten 'Tierriten' herhalten muss. Schechner (1993:229) zeichnet einen 'Abstammungsbaum' der Riten, den er zuunterst in den "genetisch fixierten Riten der Insektenwelt" wurzeln lässt und der sich nach "fixierten und freien Riten der Vögel und Säugetiere" schließlich auf der Höhe der "menschlichen Ritualisation" zum erstenmal in einer dreifaltigen Struktur verästelt, den sozialen, religiösen und ästhetischen Riten, um sich dann weiter zu verzweigen. Alle diese Formen werden so, in einem quasi-genetischen Zusammenhang, in gegenseitige Abhängigkeit zueinander gestellt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der wissenschaftliche Nachweis einer über den Bereich der gängigen Sprachkonventionen hinausgehenden Existenz oder der inhaltlichen Relevanz solcher oder ähnlicher Vorstellungen erst noch erbracht werden muss.

Unter anderem werden die Bereiche des Performativen und des Rituellen auf diese Weise zu wenig voneinander abgegrenzt und ein Attribut der 'Verstellung' und 'Unechtheit' wird auch auf das religiöse Ritual ausgeweitet. Das religiöse Ritual als zweckgerichtete Handlung wird hierin praktisch mit einem bloßen Rollenspiel verwechselt. Diese Auffassung von Riten spiegelt sich auch in manchen modernen bühnentänzerischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff des Rituals. So hat zum Beispiel Paul Taylor für seine New Yorker Kompanie in seinem 1975 uraufgeführten Tanzstück "Runes" eine Kette von 'Beschwörungen' choreographiert, deren Sinn dem Zuseher niemals enthüllt wird:

Das Stück "Runes" wurde gemeinsam mit fünf anderen Stücken der Paul Taylor Company im Rahmen des Wiener Internationalen Ballett-Festivals Tanz'86 im Theater an der Wien gezeigt. Während seine tänzerische und choreographische Leistung im Rahmen des Modern Dance unumstritten ist, handelt es auf seiner inhaltlichen Ebene gleich drei Ritual-Klischees ab - 'Zwanghaftigkeit', 'Rollenspiel' und 'Irrationalität' -, während die Zweckgerichtetheit und das zugrundeliegende kosmologische Konzept tatsächlich bestehender religiöser Riten, negiert wird. Auf solche Weise werden dramatische gesellschaftskritische Assoziationen mit profanen Ritualisierungen der modernen Gesellschaft erreicht.

Auch die Erkenntnisse der Ethnomedizin (insbes. Good 1977, Kleinman 1980, Pfleiderer & Bichmann 1985, Koch 1986) über die kulturelle Konstruktion von Krankheiten (117) könnte in ähnlicher Richtung Missverstanden werden, dass nämlich therapeutische Riten nichtwestlicher Kulturen bloß eine Art irrationalen Akt, in der Inszenierung einer vorgeblichen Heilung vorgeblicher Krankheiten, darstellen würden. Es wurde aber bereits mehrfach darauf hingewiesen (u.a. durch Kendall 1996, Schieffelin 1996 u. 1998, Gore 1998, Pink 1998 und Wulff 1998), dass Riten eigene Maßstäbe der Echtheit ihrer Vorgehens- weise setzen, dass rituelle Tätigkeit in der Regel als Arbeit und nicht als Unterhaltung oder 'Spiel' aufgefasst wird und dass priesterliches oder schamanistisches Auftreten oder dergleichen ein Maß enthält, welches es gegen etwaige Fälschung oder bloße 'Darstellung' abhebt. Während Performance als expressive Dimension strategischer Praktiken und als soziale Konstruktion der Realität (Bourdieu 1977, zitiert in Hughes-Freeland 1997:21; Schieffelin 1998: 199, 204f) beschrieben werden kann, gibt das lebende Ritual einer solchen Konstruktion eher den Sinn, verleiht ihr Integrität, überprüft in der transformativen Praxis des Rituals beständig die Gültigkeit des konstruierten Weltbilds und der angewandten Strategie anhand einer "Fusion von Tradition mit den gegenwärtigen Umständen" (Laderman & Roseman 1996:2) und entwickelt Korrekturen derselben, die sich zum Beispiel in Konjunkturen und Evolutionen von Gottheiten und praktizierten Ritengattungen (Gombrich & Obeyesekere 1988) niederschlagen. Weder die Konstruktion virtueller Welten (118) noch die Pflege erstarrter und sinnentleerte Formalismen treffen deshalb den Kern dessen, was gelebte sakrale Riten ausmacht.

Sakrale Riten sind in dem Sinn 'ehrlich' als sie dem deklarierten Ziel, zum Beispiel einer Heilung, einer Akkumulation von Kräften, der Kommunion mit höheren Wesen, der Schicksalskorrektur, etc., tatsächlich zu dienen beabsichtigen. Die sogenannten 'Riten' der Bürokratie, bezeichnen demgegenüber einen nichtfunktionale Teil einer Amtsprozedur, der vielleicht noch der Aufrechterhaltung von Machtstrukturen, aber jedenfalls nicht dem deklarierten Verwaltungsziel dienen. Wenn es einen einzelnen Begriff gibt, der der Essenz sakraler Riten von sich aus nahe kommt, so lautet dieser 'Transformation', was auch das eigentlich rituelle Residuum von Performance, von Institutionen oder den Medien, zu umschreiben vermag. Demgegenüber tendiert das sogenannte 'profane Ritual' zu einer bloßen Aufrechterhaltung von Regeln, Strukturen und Metastrukturen. Ich möchte mich aus den genannten Gründen also dem unkritischen erweiterten Gebrauch des Ritualbegriffs nicht anschließen. Ist die steigende Popularität der Verwendung dieses erweiterten Begriffs nicht vielleicht selbst als Merkmal einer fortschreitenden Deritualisierung zu verstehen?

 

 

Deritualisierung

 

Als einer der ersten hat Durkheim (1964) die These der Deritualisierung der europäischen Kulturen vertreten: Im Zuge der gesellschaftlichen Evolution kommt es zu einem Prozess, durch den Religion zu einer zunehmend spezialisierten Institution wird und das Ritual an Bedeutung verliert. Ein rezenter Vertreter der Auffassung von der Deritualisierung ist Jeremy Boissevain (1992), der jedoch dem Thema seine eigene Wendung gibt, indem er die Tendenz zu einem modernen 'revival' des Rituals in Europa andeutet (ibid: 62). MacClancy und Parkin gehen noch weiter und stellen fest, dass einige Gemeinschaftsriten die europäische Säkularisation völlig unbeschadet überstanden haben und mit Ausnahme von einem unvermeidlichen Grad an Modernisierung de facto unverändert weiterbestehen. Interessant an dem von ihnen untersuchten Material ist auch, dass es entgegen der Durkheimschen Orthodoxie, Rituale beschreibt, die eher ein Austragungsort für Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen sind, als dass sie gruppenübergreifende Gemeinschaftlichkeit erzeugen (ibid.). Goody (1993) und Mitchell (1991) weisen auf die Tasache hin, dass einige Riten nicht nur eine, sondern auch mehrere Phasen der Revitalisation durchlaufen können, wie dies anhand der Maifeiern oder auch der rituellen Aufführung von Stierkämpfen demonstrierbar wird (MacClancy & Parkin 1997:76). MacClancy und Parkin (1997:77) schließen daraus auf den Bedarf nach einer neuen und nuancierteren Definition von Ritual, welche einerseits die Leere der alltäglichen Begriffsverwendung vermeidet und andererseits die Enge derjenigen Definition, die im Gefolge von Durkheim verwendet wird.

Religiöse Riten reproduzieren nicht einfach bestehende Sozialität oder Solidarität, sondern sie erschaffen diese unter wechselnden Bedingungen in immer neuen Permutationen. Gerade diese schöpferische Komponente von Riten rückt erst in allerletzter Zeit ins Sichtfeld der Forschung (unter anderen Mitchell 1997, Coleman & Elsner 1998, Schieffelin 1998), die sich vermehrt auch mit den religiösen Riten des Westens auseinandersetzt. Coleman und Elsner (1998) machen auf subtile Prozesse der Ironisierung religiöser Wallfahrt in Walsingham aufmerksam und damit unter anderem auch auf die Möglichkeit, dass verschiedene Individuen ein und dasselbe Ritual zu gleicher Zeit unterschiedlich wahrnehmen. Mitchell (1997) untersuchte unter Berufung auf Laird (1989) Aspekte jener komplexen Prozesse durch die eine Empfindung von Sakralität, auf körperlicher wie auch auf intellektueller Ebene, in einer christlichen Kirchengemeinde auf Malta erzeugt wird. Es liegen autonomer Widerhall, expressives Verhalten und instrumentale Aktionen zwischen einer Anrufung und dem dadurch wachgerufenen Gefühl. Schieffelin (1998: 194) interessiert sich indes mehr für den Prozess der Kreation expressiver menschlicher Präsenz, durch die in Riten und Performances Stimmungen, soziale Beziehungen, körperliche Dispositionen und Bewusstseinsstadien verändert werden. Wo immer diese neuen Forschungen ansetzen, das, was sie über Riten als wissenswert erachten, fällt bei ihnen also vermehrt in den Bereich der eigentlichen menschlichen Aktionen, des Erlebens und seines Kontextes. Dies ist auch eine andere Schwerpunktsetzung als die vielzitierte Sichtweise Tambiahs (1981), der ebenfalls mehr die 'passiven' Aspekte des Rituals hervorhob, in dem er in erster Linie auf seine kulturindikative Bedeutung verwies .

Es gibt eine permanente Sehnsucht nach lebendigen Riten, die heute wieder in einigen Charakteristika moderner Freizeitkultur transparent wird. Ein in diesem Zusammenhang wieder besonders aktuelles Thema ist die Suche nach dem Einklang mit der Natur, im Sinne einer ethisch oder religiös motivierten Harmonie mit dem Universum oder 'der Schöpfung'. Heute sind es ökologische Produkte und vor allem verschiedene mehr oder minder 'esoterische' körperlich/geistige Praktiken, Riten oder Übungen, viele davon aus dem außereuropäischen Raum, wie Akupunktur, Reiki, T'ai Chi Ch'uan oder auch orientalischer Tanz, sogenannter Bauchtanz, denen sich Suchende auf diesem Weg zuwenden.

 

 

Die Reritualisierung der Bühnenkunst - eine exemplarische Einführung

Die 'Reformkultur' - Isadora Duncan. Konstruktivismus und Körperlichkeit - Meyerholds "Biomechanik". Das interkulturelle und anthropologische Theater - Adriane Mnouchkine.

 

Nach einer langen Entwicklungsperiode, in der sich das Theater von seinen rituellen, religiösen und therapeutischen Anteilen entfernte, kommt es seit der Jahrhundertwende zu einer erneuten Hinwendung zu diesen Bereichen. Die soziokulturelle Ebene dieser Entwicklung innerhalb der Bühnenkunst ist ein vielschichtiges und multifunktionales Phänomen, dessen Charakteristika und Problematiken in der Folge anhand von drei ausgewählten Exponenten, in der Art von Schlaglichtern zunächst exemplarisch beleuchtet werden soll. Am Beispiel Isadora Duncans und ihrer zeitgenössischen Bewegungen werden einige Aspekte der Reformkultur im Spannungsfeld zwischen Befreiung, Spiritualität und Militarismus erläutert. Die naturwissenschaftliche, technologische Orientierung der Öffnung gegenüber rituellen und Bewusstseinsmanipulatorischen Praktiken aus dem außereuropäischen Raum wird anhand der körperlich-geistigen Theaterarbeit von Meyerhold einer immer noch verbreiteten und anhaltenden Ignoranz der Ethnologie in Bezug auf diesen Bereich gegen- übergestellt. Einige Ansätze und Motivationen des modernen interkulturellen und anthropologischen Theaters werden als Ergebnisse eines systematischen Interesses an außereuropäischen Performancetechniken anhand der Arbeit des Theâtre du Soleil exemplarisch in die Diskussion eingeführt. Auf diese Weise wird in einem historischen Bogen von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart eine erste Einstimmung in das Thema dieses Kapitels geboten, dessen wichtigste Teilaspekte in den darauffolgenden Abschnitten aus unterschiedlichen Perspektiven vertieft werden.

 

 

Die 'Reformkultur' - Isadora Duncan

 

Zur vergangenen Jahrhundertwende brachten die Fortschritte in Hygiene und Medizin die 'Reformkultur' hervor. Die ästhetische Bekleidungsreformbewegung vertrat die Linie, dass die Idee der 'Schönheit' in Einklang mit der 'Natur' gebracht werden solle. Isadora Duncan, die Pionierin des Modern Dance, war in dieser Beziehung ein amerikanisches Kind ihrer Zeit (Thomas 1995:61-64). In den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Kalifornien, wo Isadora Duncan aufwuchs, fand diese Bewegung ihren Ausdruck in den präraffaelitisch inspirierte Uniformen der Künstler von San Francisco. Die Korsetts der Frauen, die Atmung und Blutzirkulation behinderten und den Solarplexus beengten, wurden abgelegt. Stattdessen wurde leichte und lockere Kleidung propagiert. Isadora Duncan war nicht nur in ihrer Tanztechnik modern, sondern auch in eben dieser Art sich zu kleiden. Sie verband in ihren Praktiken und ihrem Auftreten einige Ideale der Reformbewegung - wie freie und natürliche Kleidung und eine systematisch entwickelten Bewegungstechnik, die aus dem befreiten Solarplexus heraus erfolgen sollte - mit dem amerikanischen Delsartismus, einer neuen körperorientierten Spiritualität, sowie mit einer Ästhetik, die sich an die griechische Antike anlehnte und dem Geschmack ihrer Kreise entsprach. Ihr Werk ist geeignet, verschiedene Facetten der Hinwendung des modernen Tanzes zum Rituellen und zum Fremden zu illustrieren, weshalb es im Folgenden immer wieder beispielhaft aufgegriffen wird. Ihre freie Unbekümmertheit des Lebensstils verscherzte ihr in Amerika dann zwar rasch bürgerliche Sympathien, nahm sich in Europa und in Russland aber wundervoll revolutionär aus.

Anderswo nahm die Reformbewegung bald militanteren Charakter an. In Deutschland wurden vormals religiöse Werte modernisiert und staatlichen Erfordernissen dienstbar gemacht, indem sie Themen von Masseninszenierungen zu Ehren der deutschen Nation wurden. Die Befreiung des Körpers wurde zur turnerischen Leistung der Perfektionierung des Körpers umstilisiert. Die Ästhetik des blonden Hünen und der blauäugigen gebärfähigen Frau sollte bald kritische jüdische Intellektuelle und Künstler zu vertreiben beginnen. Staatsriten wurden in immer größerem Umfang kollektiv inszeniert und der Deutsche Ausdruckstanz hatte für einige Zeit seinen gelobten Platz darin (Müller & Stöckeman 1993).

Auch in Amerika entwickelte sich der Modern Dance zugleich mit dem Nationalbewusstsein, zu einer Zeit als sich die moderne amerikanische Gesellschaft etablierte, in einem Prozess, der durch die Revolution des Transport- und Kommunikationswesens beschleunigt wurde. Hier öffnete sich jedoch ein anders gestalteter Raum für den Widerstand seitens von Künstlern und Intellektuellen gegen die rapide Kapitalisierung der Industrie und der Landwirtschaft. (Thomas 1995:75).

Befreiung und Zwang stehen auch gegenwärtig nahe beieinander. Individualisierung und Vermarktung sind bis heute die Pole der Körperkultur. Die Industrie steht hinter immer neuen Sportarten, die immer futuristischere Accessoires verlangen. Auch die Tanzkunst ist zum Bestandteil eines kommerziell betriebenen Körperkultes geworden. Bewegungskunst und Tanztheater pendeln zwischen der Anziehung und Abstoßung mystischer Inhalte, ohne ihre eigentlich rituelle, in Victor Turners Terminologie "liminoide" Funktion als Integration, Reflexion und Vorbereitung gesellschaftlichen Wandels je gänzlich abstreifen können.

Seit den 20er Jahren, so Featherstone (1982) verband sich durch Entwicklung von Kino und Zeitungswesen, durch Werbung, steigende Löhne und Konsumorientierung angetrieben, das Bild von Jugend und Schönheit mit dem Wunsch nach Massenkonsum von verschiedensten Gütern. Der Körper wurde zu einem Objekt des Besitzes. Aussehen, Schaustellung und Manipulation des erzeugten Eindrucks werden zu den Hauptgütern der Konsumentenökonomie (119). Gleichzeitig, so argumentieren Lyon und Barbalet (1994:51f.), begann jener Prozess, der zu einer sukzessiven Einschränkung der Bedeutung manueller und körperlicher Arbeit führte, bis zu dem heutigen Stand, an dem praktisch in allen westlichen Ökonomien die meisten manuellen Arbeiten durch unterbezahlte Fremdarbeiter ausgeführt werden. Der arbeitende Körper verschwand also dergestalt aus dem gegenwärtigen Bewusstsein, wurde nicht nur von dem konsumierenden Körper getrennt, sondern steht diesem nicht einmal mehr als Alternative zur Seite. Der Körper wird als gesellschaftlich wirkendes Agens auch wissenschaftlich kaum mehr wahrgenommen, er wird zum Geprägten statt zum Prägenden.

Zu Labans und Meyerholds Zeiten war dieser Prozess jedoch noch wenig fortgeschritten, der arbeitende Körper war ein Hauptgegenstand der Forschung und Thema künstlerischen Ausdrucks, er war auf allen gesellschaftlichen Ebenen präsent.

 

 

Konstruktivismus und Körperlichkeit - Meyerholds "Biomechanik"

 

Mel Gordon (1995) hat die Zusammenhänge zwischen Errungenschaften der Industrialisierung, der Psychologie und des modernen Theaterunterrichts von Meyerhold erläutert:

Zur Jahrhundertwende war die objektivistische Richtung in der Psychologie bemüht, sich von der Sicht der von ihnen als "Subjektivisten" abgetanen etablierten Psychologie abzugrenzen. Nicht die subjektive Erfahrung oder das Unbewusste bestimme das Wesen des Menschen, schon gar nicht das Vorhandensein irgendeiner individuellen Seele, sondern der Mensch sei erklärbar durch die Erforschung seiner psychophysiologischen Reflexe. Winslow Taylor (1856-1915) hatte zu Anfang des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts in großem Detailreichtum seine "motion economy" entwickelt. Er fertigte Studien über die Rationalisierung der Bewegungsabläufe von Arbeitern an. Seine amerikanischen Nachfolger extrahierten aus Taylors umfassenden Studien sieben fundamentale Prinzipien des ökonomischen Gebrauchs des menschlichen Körpers als Produktionsmittel. A.K. Gastev (1881- 1941) ging in der Reduktion der Taylorschen Prinzipien noch einen Schritt weiter. Er war der Auffassung, dass ein Arbeiter, der den Gebrauch von nur drei Werkzeugen - Hammer, Messer und Pickel - perfekt beherrscht, befähigt sei, die kompliziertesten Maschinen zu bedienen. Der Amerikaner William James (1842-1910) begann durch Selbstbeobachtung die viszerale Natur von Emotionen zu erforschen. Er kam zu dem Schluss, dass emotionales Bewusstsein direkt mit dem physischen Körper verbunden ist, mehr noch, Emotion die körperliche automatische Reaktion ist, welche der mentalen Wahrnehmung vorangeht. In Russland hatte Vladimir Bekterev (1857-1927) damit begonnen, die genauen Gesetze zu erforschen, welche menschliches reflexives Tun und Benehmen steuern. Sowie James und Pavlov war er als "Reflexologe" davon überzeugt, dass menschliches Benehmen durch Reflexmuster, die von der Umwelt im Nervensystem des Individuums hervorgerufen werden, zur Gänze erklärt werden könne.

Die konstruktivistische Richtung des sowjetischen Theaters, in der Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1884-1951) (120) eine führende Rolle spielte, war eine wissenschaftlich fundierte Bewegung der 20er Jahre. Meyerholds "Biomechanik" und konstruktivistisches Schauspiel basierten unter anderem auf Taylorismus und Reflexologie. Meyerhold betrachtete das Theater als pädagogisches Instrument (121) und als Fabrik. Er bemühte sich die rascheste und effizienteste Methode zu finden (Taylorismus), um eine vorherbestimmte Publikumsreaktion hervorzurufen (Reflexologie). Gastev hatte ganze Serien paradigmatischer Arbeitsbewegungen aus der perfekten Ausführung von simpel erscheinenden Aufgaben, wie dem Schwingen eines Pickels, abgeleitet. Jede einzelne von Meyerholds "biomechanischen Etüden" enthielt ein komplexes Bündel an physischen Aktivitäten, die oberflächlich betrachtet einfach erscheinen und als ob sie in keiner Beziehung zum konstruktivistischen Schauspielstil stehen würden. Dennoch kulminierten diese Übungen in einem Lehrsystem, das jedes wichtige Prinzip szenischer Bewegung benützte, welches einem Schauspieler begegnen konnte. Meyerhold schöpfe dabei aus seinem breitgefächerten Erfahrungsschatz. Er selektierte seine Etüden aus jenen Quellen, die er für die dynamischsten und theatralischsten hielt: Zirkus, Musikhalle, Boxen, Gymnastik, Millitärtraining, aus den theatralischen Techniken seiner prärevolutionären Ära, aber auch des chinesischen Theaters und japanischen Kabuki. In seiner Anwendung der Prinzipien ökonomischer Bewegung und Emotionserzeugung von Taylor und James, ließ er seine Schüler eine große Vielfalt von Emotionen erfahren, die nur durch ständigen Wechsel muskulärer Spannungen abrufbar gemacht wurden. Dies ermöglichte es für den Schauspieler, das Verhältnis zwischen seinem physischen Ausdruck und seinen inneren nervlichen Erfahrungen genau zu etablieren. (122)

Die Psyche wurde als naturwissenschaftlich erklärbar aufgefasst und die Techniken ihrer Manipulierbarkeit empirisch erforscht. Stanislawsky (1863-1938), Lehrer Meyerholds, entwickelte als der erste russische Anwender wissenschaftlicher Erkenntnisse auf den schauspielerischen Bereich seine 'Psychotechnik' und richtete die Ausbildung seiner Schauspieler in seiner Methode der 'physischen Handlung' zur Gänze daran aus. Meyerhold sagte über Stanislawskys Methode:

Es lohnt sich nun, das Augenmerk auf einen paradox erscheinenden Zusammenhang zu richten: Gerade die positivistische, 'objektivistische', das 'Subjektive' verpönende Erforschung menschlicher Reaktion hatte das Theater über die Respektierung der körperlichen Natur von Emotion zu einer Würdigung und Nutzung außereuropäischer, dramatischer und ritueller Techniken zurückgeführt. Diesmal nicht aus 'Exotismus' heraus, sondern aus der zweckbestimmten Nähe des Schauspielers zum Ritualspezialisten, indem er erneut als bewusster Manipulateur des psychophysischen Befindens seiner selbst und seines Publikums aufgefasst wurde und arbeitete. Es ging nicht mehr primär um die Vermittlung einer erzählbaren Geschichte, eines Theatertextes, sondern um das, was Theater essentiell von Texten unterscheidet: dem unmittelbaren, physischen und vorverstandesmäßigen Eingriffspotential in die menschliche Gesamtverfassung.

Der Übergang von der Physis auf die Psyche und die manipulierende Wirkung von Schauspielern oder Ritualspezialisten auf das Befinden von 'Zusehern' ist heute jedoch ein Bereich, der von der etablierten soziologisch orientierten Ritualforschung vernachlässigt bleibt, indem sich die Wissenschaft auf körperlose Aspekte ritueller Ätiologie und Therapie zurückzieht, wobei - zur Vollendung der Paradoxie - gerade das Theatralische und Schauspielhafte als Refugium wissenschaftlicher Rationalität in den Vordergrund gestellt wird, natürlich nicht in dem von Meyerhold praktizierten Sinn als Produktionsmittel psychophysischer Realität, sondern im Sinne des 'Unwahren' und 'bloß Dargestellten', des 'Stellvertretenden' und 'Kommentierenden'. Das Inszenierte wird so seiner Effektivität und Bedrohlichkeit der westlichen rationalistischen Weltsicht gegenüber entkleidet, einer Bedrohlichkeit, die heute offenbar anders gesetzt wird als in den Zwanzigerjahren, in denen das "Unbewusste" mehr Furcht erweckte als die bewusste Manipulation des psychophysischen Befindens von Zusehern durch Körperbewegung und konzentrative Techniken.

Manipulationsmöglichkeiten des menschlichen psychophysischen Zustandes werden heute vor allem über eine Neubewertung der Emotionen neuerlich thematisiert. Einige Psychologen (Laird 1989, Goleman 1996) und Ethnologen (Mitchell 1997) beginnen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, was Jean Paul Sartre schon 1939 festgestellt hat, dass Emotionen eben kein Defizit des Bewusstseins sind, sondern erhöhtes Bewusstsein von sich selbst als einem physischen Organismus, dass Gefühle als Bewusstsein körperlicher Mechanismen eine Form der Erkenntnis und Wahrnehmung der Welt sein können, dass sie mithin als Untersuchungsobjekt gleichberechtigt mit geistigen Formen der Erkenntnis zu stellen sind. Denn Emotionen sind sowohl körperliche Gefühle als auch geistige Zustände, mit Mitchells Worten:

Anders als die Ethnologie und die Tanz- und Theateranthropologie bemüht sich die in Entwicklung befindliche Transkulturelle Medizin und Psychotherapie in der Erklärung von Seinszuständen wie Hypnose, multiple Persönlichkeit, schamanistische Trance oder rituelle Besessenheit heute vermehrt um eine Integration von verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen, so dass z.B. die 'role-enactment' Theorie durch die 'state' Theorie, durch transpersonal-psychologische, phänomenologische und endlich auch erfahrungsorientierte Ansätze ergänzt werden können (Quekelberghe 1996:24f). Diese Thematik wurde im Kapitel 'Die rituelle Wirkkraft' etwas näher ausgeführt. Es ist vielleicht nützlich, sich die Gedankengänge dieses Kapitels in Erinnerung zu rufen, bevor man sich dem nächsten Abschnitt zuwendet, in dem die spezifische Form der Auseinandersetzung durch die Praxis und Theorie der Theateranthropologen auch in ihrer Eigenschaft als Theatermacher mit dem Import von außereuropäischen rituellen Techniken in Tanz und Theater kritisch der Praxis durch einige Tanz- und Theaterpioniere der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gegenüber gestellt wird.

 

 

Das interkulturelle und anthropologische Theater - Adriane Mnouchkine

 

Tanz oder virtuose Körperbewegung spielt eine zentrale Rolle in der Wiedererschaffung des rituellen Theaters im Westen. Das westliche Theater geht selbst zumindest teilweise auf rituelle Formen zurück, zum Beispiel, indem seine frühen Wurzeln auch im griechischen Theater des dionysischen Kultes zu finden sind, das sich als Teil der Performancekultur Athens zu einer hochspezialisierten Unterhaltung entwickelte, an der Tänzer, Musiker sowie Schauspiel mitwirkten (Hastrup 1998: 31f). Im außereuropäischen Raum ist die Trennung zwischen Tanz, Theater und Ritual im allgemeinen eine wesentlich unschärfere geblieben als im europäischen Einflussbereich. Die Begegnung des Westens mit den Tanztheaterformen Asiens führte zu verschiedenartigen Versuchen, das konventionelle Unterhaltungstheater in ein umfassender 'ergreifendes' Medium mit erneuertem pädagogischen und gesellschafts- kritischen Anspruch umzuwandeln. Im Westen wurden verschiedene Versuche unternommen, das bewegungskünstlerische Ereignis dem Publikum wieder näher zu bringen, als dies der etablierten Theaterkonvention entsprach. Durch verschiedene Rückbesinnungen auf frühe Formen und Entlehnungen aus den Riten der Völker sollte eine allzu distanzierte und dadurch unvollständige Kunstbetrachtung durch rituelle Intensität von ganzheitlicherer Kunsterfahrung abgelöst werden. Einerseits werden für diesen Zweck Requisiten und Formen aus dem außereuropäischen rituellen Raum wiederentdeckt, andererseits wird die physische Aktion des Schauspielers neu gestaltet.

Zu ersterem gehört insbesondere die Wiederauflösung der frontalen Bühnensituation. Labans Modell einer dreiseitigen Bühne für die Aufführung seiner "plastischen Tänze" (123) (1989:199) ist eigentlich eine Rückbesinnung auf die nichtfrontale Orientierung von Tänzen, die im Freien stattfinden. Seine weiterreichende Idee eines tribünenartigen Zuseherraums, der eine freistehende Bühne umgibt und der unter eine Kuppel geführt wird, so dass jeder Zuseher ungefähr gleichweit von den Tänzern entfernt ist (ibid.: 200), impliziert auch einen Rückgriff auf die Arena als Schauplatz von Spielen und Riten. Der 'Theaterpoet' Bob Wilson orientiert sich an der differenzierten Bühnentechnik des Kabuki, das schon sehr früh mit Versenkungen und Drehbühne arbeitete und spektakuläre Verwandlungen auf offener Szene ermöglichte. Auch Reinhardt und Piscator haben daraus ihre Anregungen bezogen (Seym 1992:39). Ariane Mnouchkine bricht den traditionellen frontalen Theaterraum durch eine Mehrzahl von Bühnen und die Verwendung von Stegen auf, welche der japanischen Konvention der Brücke, präsent in den Konstruktionen der Gärten, in der hanamichi des Nô ebenso wie in der hashigakari des Kabuki (Banu 1990: 31) entlehnt sind. Mnouchkine verwendet gerne Laufstege, die an den Blumensteg des Kabuki, den hanamichi, erinnern, und die entweder die traditionelle Guckkastenbühne nach vor ins Publikum aufbrechen, wie in "Les Clowns" (ibid.: 68) oder mehrere Einzelbühnen miteinander verbinden, wie in "1789" (ibid.: 84). Die Verwendung von Masken und stark typisierten, farbenprächtigen Kostümen können dann den sakralen Festcharakter der Aufführung noch unterstreichen. Auch das asiatische Puppentheater, insbesondere die drei bis vier Meter hohen Puppen des japanischen Bunraku, inspirierten das neue Theater. Mnouchkine verwendete solche Puppen zur Darstellung des flüchtigen Königspaares in "1789". Vor ihr hatte das Bread and Puppet Theatre mit solchen Puppen experimentiert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Craig und Schlemmer (ibid.: 79).

Zweitens wird die physische Aktion auf der Bühne einer Revision unterworfen. Der Körperbeherrschung des Schauspielers wird nun besonderes Augenmerk gewidmet. Es wird mit spezifischen Bewegungscharakteristika des asiatischen Raums experimentiert. Gleichzeitig wird die physische und auch verbale Interaktion mit dem Publikum ermöglicht. Ähnlich wie in rituellen Aufführungen wird kollektive Emotionalität durch eine Überschreitung der Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum erreicht. Seym beschreibt Mnouchkines "1789":

Adriane Mnouchkines Théâtre du Soleil ist ein Ergebnis von Mnouchkines sehr intensiver Auseinandersetzung mit den asiatischen Theaterformen des Kathakali, Nô und Kabuki, um ihr eigenes revolutionäres Konzept eines 'ehrlichen' Theaters zu entwickeln (Seym 1992: bes. 28-42). Besonderes Interesse erweckte für sie dabei die doppelte Struktur asiatischer Tanztheatertechnik durch einander ergänzende Darstellungsebenen, wie sie sich in unterschiedlicher Form im Kathakali wie im chinesischen Theater finden. Im Kathakali ist es die "simultane Präsenz des narrativen und des stilisiert-emotionalen Aspekts über Hände und Gesicht", im chinesischen Theater gibt die Mimik keine Emotionen wieder, "sondern vielmehr einen Kommentar zum Spielgeschehen - also auch zu den Bewegungen des 'eigenen' Körpers" (ibid: 29). Da sie Elemente dieser Stile für ihre eigene Zwecke adaptiert, gewinnen für sie die Möglichkeiten der Improvisation innerhalb einer hochstilisierten Technik an Bedeutung. Mnouchkine fasst manodharmam (124) als 'Imaginationstalent und Improvisationstalent' auf, durch welche die hochartifizielle Kunstsprache der Handgesten und Gesichtsmuskulatur des Kathakali erst zur Kunst erweckt werden (ibid.: 30). Auch die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Maskenspiels scheinen für sie durch das Zusammenwirken von manodharma, von 'Imaginationskraft und Improvisationstalent' mit den typischen Bewegungs- und Spielabläufen qualitativ bestimmt. Das Kathakali wird für Mnouchkine "zu einer Kunst, bei der die Schauspieler nicht mogeln (frz.: tricher) können" (ibid.: 32). Die extreme Theatralität des asiatischen Theaters verleiht den Schauspielern "Züge einer überdimensionalen und entmenschlichten Marionette" und erfordert "absolut durchtrainierte Schauspieler". Fasziniert zeigt sich Mnouchkine auch über die Fähigkeit asiatischen Tanztheaters philosophische Konzepte greifbar zu machen. Die Spieler des Nô sind Verkörperung der geistigen Leistung "den Weg als Ziel" zu begreifen. Das Gehen wird zu einem wichtigen Bestandteil des Inhalts. Nach Stiller (1983: 18-20) ist dem Nô-Tänzer ein besonderer Umgang mit dem Theaterraum zueigen. Er "greife und zerteile den Raum nicht, wie etwa der Pantomime oder der Tänzer des klassischen Balletts im westlichen Theater. Er werde vielmehr vom Raum ergriffen und losgelassen, wie eine Marionette vom Puppenspieler" (Seym 1992:34):

Die Faszination asiatischer Künste für das westliche Theater, von Künsten, die näher an ihren rituellen Funktionen geblieben sind, ergeben sich in erster Linie aus der Funktion des westlichen Schauspiels als Fiktion. Östliche Elemente werden in diesem Sinn als die besseren Techniken der 'Zauberei' adaptiert und nicht in ihren ursprünglichen kultischen und therapeutischen Zusammenhängen. Sie betreffen mehr den Bereich der Aufmerksamkeitsfixierung und Hypnose, der im Kapitel "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential" als Vorbereitung auf den eigentlichen transformativen Bereich des Rituals in dem Abschnitt "Techniken der Konditionierung von Körper und Geist" abgehandelt wurde, und verfehlen deshalb mehr oder weniger knapp den rituellen Kernbereich der Transformation. Die spirituellen und philosophischen Hintergründe der entlehnten Ideen und Techniken kommen in diesen neuen Theaterformen zunächst also nur sehr selektiert und zuweilen auch gar nicht zum Tragen.

Es wird hier jedoch bereits eine Richtung eingeschlagen, in der sich durch das interkulturelle, anthropologische und neue 'lebendige' Theater, wie es unter anderem vor allem durch Brook, Turner und Grotowski geprägt wurde, das Theatererleben für Schauspieler und Publikum im Sinne eines rituellen Ereignisses mit starken und ergreifenden transitorischen und liminellen Qualitäten umgestaltet (Hastrup 1998). Diese Ausrichtung tendiert gerade wegen ihrer Reorientierung an rituellen Qualitäten dazu, Theater in gesellschaftskritische, therapeutische und sinnstiftende, auch schicksalskorrigierende Funktionen überzuführen, weshalb sich die meisten Beispiele hierzu in dem späteren Abschnitt "Die neuen Riten - Transformation, Therapie, Kritik" finden. Es überrascht dabei nicht, dass auch das Erbe von Meyerholds Biomechanik in der Arbeit dieser Proponenten des anthropologischen Theaters weiterentwickelt wurde.

Im internationalen Zusammenhang ist hier erwähnenswert, dass sich nicht nur das europäische Theater auf einem Weg der Reritualisierung befindet, sondern seit einiger Zeit auch das östliche. Die Gründe dafür sind nicht grundsätzlich verschieden von jenen des Westens, auch hier handelt es sich um eine Gegenbewegung zu einer gleichzeitig stattfindenden stetigen Profanation des Alltags und einer Entwertung und Sinnentleerung bisher bestehender Riten. Besondere Bedeutung erlangt die Rückbesinnung auf rituelle Kunstformen aber als Element des postkolonialen Nationalismus, wie sie in all ihrer Widersprüchlichkeit anhand der Geschichte des Bharata Natyam und zum Beispiel auch anhand der Entwicklungen um die Neubewertung des Arangetram bereits abgehandelt wurde. Auch der japanische Butoh, dessen besondere Geschichte noch mehrfach und eingehender behandelt wird, hat Anteil an solchen Entwicklungen der Reritualisierung unter der Einbeziehung von aus der anthropologischen Forschung bekannten Phänomenen wie Schamanismus und anderen religiösen Praktiken. Ihren Ausdruck finden solche Bestrebungen aber auch in kleineren Details der Gestaltung von Bühnenauftritten, wie dies die wechselnden Konjunkturen des Erscheinens und Verschwindens von einleitenden oder abschließenden religiösen Gesten und Handlungen der Widmung für die Götter (puja) in Indien und Sri Lanka beobachtet werden können. In einem Spannungsfeld zwischen Neuem und Altem, Fremden und Eigenen wird dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Reorientierung in einem sich immer rascher wandelnden ökonomischen und technologischen Umfeld genüge getan.

 

 

Der Fundus der Fremde

Entlehnte Formen und Inhalte. Zur Übersetzbarkeit performativer Traditionen.

 

Dena Davida (1992:21,25) weist in humorvoller Weise auf einige globale Parallelen in den Genealogien der zeitgenössischen westlichen Tanzkunst verschiedener Staaten hin, die sie in Metaphern des Kolonialismus kleidet: Die erste Phase - deren Dynamik die Autorin mit jener des europäischen Kolonialismus vergleicht - beginnt mit der Etablierung von mindestens einer professionellen Ballettkompanie und -schule, die gewöhnlich Lehrpläne, wie den der in Italien beheimateten Schule Cecchettis, der British Royal Academy of Dance oder des 'echten' Vaganova-Stils adaptiert. Die Lehrkräfte dieser Schulen, ob aus anderen Ländern stammend oder aus dem Inland, prägen die ansässigen Tänzer durch ihr rigoroses Training und ihr dichotomisches Konzept von Volks- und Kunsttanz. Sie unterrichten mit der Überzeugung, dass ihr Tanz die Basis allen Tanzes ist und zugleich der Gipfel an Verfeinerung. In der nächsten Phase kommen die amerikanischen oder deutschen 'Missionare', die ihre modernen Tanzschulen errichten. Ihr Stil basiert zumeist auf jenem von Choreographen wie Limon, Cunningham, Graham, Nikolais oder der Lehre der deutschen Folkwangschule. Mit "poetischem Ethnozentrismus" (ibid.: 25) glaubt jeder von ihnen, dass sein tänzerischer Ansatz das Modell für alle Formen kontemporären Tanzes darstellt. Die zeitliche Koexistenz mit anderen Formen einheimischen Tanzes bringt neue Fusionen ästhetischer Motivierungen hervor, die sich zum Beispiel in bestimmten Charaktertänzen des Balletts oder in Bühnenfassungen für Volkstänze, die für internationale Tourneen geeignet erscheinen, niederschlägt. Ein reziproker Effekt interkulturellen Geschehens wird bemerkbar. Ballett und moderner Tanz haben immer wieder Inspirationen aus ihrer Wahrnehmung von fremden und in ihren Augen 'primitiven' Tanzformen gezogen und ihre Eigenschaften freizügig entlehnt, insbesondere aber exotische Merkmale des Orients. Die dritte Phase bricht an, wenn einer der lokalen Tanzmacher mit postmodernen Tanzideen aus den USA, Deutschland oder Japan konfrontiert wird, entweder durch einen Auslandsaufenthalt in einem der Hauptstädte des Tanzes oder durch internationale Veranstaltungsreihen oder Workshops zu Hause.

Ruth und John Salomon dokumentieren in ihrem Sammelband (1995) die American Dance Festival's International Projects in China, Hong Kong, Indonesien, Japan, Korea, den Philippinen und auf Taiwan. Sie bemühen sich darum, sowohl die Probleme als auch die Errungenschaften des durch dieses Projekt beschriebenen Ost-West Dialoges auf dem Gebiet der Tanzkunst zu thematisieren. Ihre Arbeit illustriert einerseits einen plötzlichen Popularitätsgewinn für die asiatische und pazifische Tanzkunst, der diesen Ländern zugute kommt, andererseits aber auch das entstehende Bedürfnis dieser Länder nach Entflechtung und Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln. Für die beteiligten westliche Tanzlehrer ist die Bilanz eindeutiger positiv. Sie fanden im Osten einen noch unerschlossenen Markt für sich vor und eine emotionale Unterstützung aus dem Gefühl heraus, im Osten gebraucht zu werden, ein Reservoir an trainierten Schülern zu haben und so einem lohnenden Abenteuer gegenüber zu stehen. Selten oder nie haben sie indes im Osten ihre kulturelle Isolation überwunden oder sind aus ihrem kleinen sozialen Kreis ausgebrochen. Sie waren dazu auch nicht motiviert, denn stets gab es das unverkennbare Gefühl der transitorischen und zeitlich begrenzten Natur der spezifischen interkulturellen Projekte.

Mit den Erfahrungen dieser dritten Phase der Davidaschen 'typischen' Entwicklung wird es für den Tänzer jedenfalls naheliegend, das tanzakademische Feld zu verlassen und alle Bewegung als potentielles Tanzmaterial zu betrachten. Diese Entwicklung führt dazu, dass ein noch freierer Gebrauch von fremden Tanzformen gemacht wird, welche nun alle als Formen, die die eigenen Ausdrucksbedürfnisse erfüllen könnten, gelten dürfen. Als weitere Materialquellen kommen dann auch die anspruchsvollen multikulturellen Umgebungen der Zentren internationaler Großstädte in Frage. Leonetta Bentivoglio (1989, zitiert in Davida 1992: 25) charakterisiert das Wesen der neuen Choreographen anhand des französischen Konzeptes des Dance d'Auteur: Der Choreograph konstruiert ein Gerüst, das nicht nur einfach choreographisch oder ästhetisch ist, sondern auch theoretisch, philosophisch, ideologisch oder politisch, eben existentielle Kohärenz aufweist. Er kreiert damit eine Perspektive, die ihn selbst voll reflektiert und sich jenseits jeder technischen Zuordnungsfähigkeit befindet. Er erfindet sein Tanzmaterial neu, indem er es nach dem ausschließlichen Diktat seines Ausdrucksbedürfnisses formt. Die nächstfolgende Phase der erneuten Verfestigung solcher Methoden in Schulen und Richtungen ist zum Zeitpunkt von Davidas Niederschrift, 1992, noch im Entstehen begriffen. Kontaktimprovisation und Butoh nennt sie als Beispiele bereits bestehender eigentlicher Stilschulen. Die neuen Tänzer kann man, was ihr Training betrifft, ebenso in Ballettstudios antreffen wie im Schwimmbad, im Bodybuilding-Centre oder im Schlankheitsclub. Als gemeinsame Merkmale der neuen Herangehensweisen nennt Davida Interesse an Kinästhesie, Individualität und Eklektizismus.

Davidas kurze Karikatur der Genese des postmodernen Tanzes deutet jedenfalls die Wichtigkeit von Interkulturalität in diesem Prozess an. Interkulturalität erscheint jedoch beinahe zynisch auf die beliebige und gewaltsame Verfügung über fremde Formen reduziert (125). Die folgenden Kapitel zeigen, dass eine solche Sicht durchaus historische Realität spiegelt, dass es aber auch andere Aspekte des Entwicklungsprozesses gibt, denen nachzugehen dem Forscher auch positivere Perspektiven der Interkulturalität und andere Einblicke verschafft.

 

 

Entlehnte Formen und Inhalte

Existentielle Kreisläufe. Primitivität - das Einfache, das Natürliche (Universelle) und das Fremde.

 

Während seiner gesamten Geschichte hat sich das westliche Ballett von Formen und Themen aus anderen Kulturen inspirieren lassen. Ballette, wie "Der Feuervogel", das die russische Version einer indischen Legende erzählt, "Le Coq d'Or" und "Sherezade", demonstrieren jene Faszination die der Osten auf Choreographen und Komponisten ausgeübt hat (David Drew in Academy 1983:12).

Auch Maurice Béjart setzte sich in vielen seiner Arbeiten, wie etwa "Bhakti", "Mudra", "Golestan" oder den "Nô"-Stücken, die er in Paris inszenierte, sehr intensiv mit asiatischer Kultur auseinander. In einem Interview mit dem Ballett-Journal (Trökes 1985: 40-43) betont er vor allem die Funktion des asiatischen Theaters als Fundus für alte Formen, die in Europa längst verloren gegangen sind. Dies bezieht Béjart in erster Linie auf das japanische Theater, in dem man erstens den religiösen Charakter des Theaters noch erhalten vorfinde und zweitens noch gleichermaßen getanzt, gesprochen und gesungen werde.

Das asiatische Theater soll also nach Béjart drittens der Erneuerung des europäischen Theaters durch eine Rückbesinnung auf universelle Wurzeln dienen. Insbesondere das japanischen Nô-Theater erscheint ihm 'als die Essenz an sich' und er meint, es mit der griechischen Tragödie vergleichen zu können. Dies vor allem deshalb, weil er im Nô einen Dialog zwischen den Schauspielern und dem Chor erkennt, in dem sich die Handlung entwickelt. Aber auch, weil 'beide Formen maskierte, tanzende, singende Schauspieler' haben und 'die Bühne ein leerer Raum' ist, der Schauspieler 'nur mit sehr einfachen Mitteln in seinem Spiel unterstützt' wird (ibid.: 42f).

Von Béjarts oben genannte Choreographien habe ich "Bhakti" und "Mudra" in Fernsehaufzeichnungen gesehen. Sie halten einer tanzethnologisch orientierten Kunstkritik heute wohl kaum mehr stand. Ihre Choreographien sehen zuweilen mehr nach einer willkürlicher Vermischung von Themen und Stilen aus und nicht nach jener 'Suche nach der Essenz des Theaters', die Béjart postulierte. Das indische Thema der Gottesliebe (bhakti) wird etwa zu einer eher peinlich berührenden Szene der narzisstischen Beweihräucherung eines selbstverliebten Tänzers, ein Bild, das sich mit Andeutungen von erotischen Tändeleien mit verschiedenen weiblichen Darstellerinnen vermischt. Ebenso sperren sich die choreographischen Elemente des westlichen Balletts und das offensichtliche Fehlen von spiritueller Ambition bei den Tänzern und Tänzerinnen in "Mudra" gegen ritualisierende Bewegungs- versuche. Nichts davon erinnert an die strenge Forderung des indischen Theaters, die es im übrigen mit dem neuen anthropologischen Theater eines Grotowski oder Barba teilt (Hastrup 1998: 34f), nach der Auflösung des Egos des Schauspielers oder Tänzers. Nach Grotowski (1975: 34) darf der Schauspieler, einer solchen Forderung folgend, seinen Körper nicht zurschaustellen, sondern muss ihn 'verbrennen', von jedem Widerstand gegen psychische Impulse befreien, er darf seinen Körper nicht 'verkaufen', sondern er soll ihn 'opfern'. Olga Maynard (1963:32) versuchte, den Unterschied zwischen körperlicher Perfektion, Ergriffenheit durch Tanz und spiritueller Ergriffenheit zu umreißen:

Obwohl diese 'Anonymität' des Tänzers in verschiedenen außereuropäischen Kulturen keineswegs eine Namenlosigkeit der Tänzer bedeutet, da es auch in den von Maynard angesprochenen Kulturen sehr bekannte Tanzpersönlichkeiten gibt, betrifft sie doch eine prinzipielle und konsequente Unterordnung persönlicher Ambitionen unter spirituelle und gemeinschaftliche Ziele. Sie findet naturgemäß im westlichen Theaterumfeld mit seiner Sucht nach Einzigartigkeit, Ruhm und Stars wenig Widerhall. Tanz ist in diesen anderen Kulturen ritueller Akt per se, Magie und Mysterium in Absicht und Aktion. Maynard (1963:32) schreibt deshalb weiter, dass diese Art des Tanzes am vollständigsten in jenen Kulturen zu erkennen ist, die den Tänzer als primum mobile auffassen, als Ursprung und Quelle des Lebens. Tänzerinnen erscheinen dort als Abbild einer übernatürlichen Kraft oder Wesenheit. Sie machen die verborgenen Mysterien sichtbar, die schrecklich sind und groß. Solche Tänzerinnen sind ebenso elementare wie spirituelle Instrumente. Sie sind Organe der Kommunikation zwischen den Menschen und ihren Göttern. Tanz ist in diesen Kulturen die Wiege der Wissenschaften, der Kunst und Religion und Tänzer sind Ärzte, Magier, Künstler und Priester in einem.

Béjart macht bis zu einem gewissen Grad Gebrauch von den imaginativen Prinzipien, auf denen die klassische indische Tanzkunst beruht. Wenn er weitgehend auf den Transport von Inhalten durch Ausstattung, Kostüme oder Kulissen verzichtet, so ist dieses imaginative Prinzip indes nur in einer auf die äußere Form gerichteten Weise verwirklicht, ohne der, um mit Mulk Raj Anands (1963: 61f) Worten zu sprechen, 'Introvertiertheit', dem eigentlich spirituellen Kern indischer Kunst, wirklich nähergekommen zu sein. Béjart spricht in seiner Kunst doch eher von persönlichen Träumen, die seiner eigenen Kultur verhaftet bleiben, so dass die Archetypen der indischen Gesellschaft, deren Ethik einer Transzendierung des Persönlichen verschrieben ist, fremd und bisweilen auch missbraucht erscheinen. Die 'Introvertiertheit' indischer Kunst verführt zu einer Verwechslung mit jenen introspektiven Entdeckungen des Unterbewussten, wie sie im Westen gemacht wurden. Einer fruchtbaren Integration indischer und westlicher Formen muss jedoch gelebte meditative Körper/Geist- Erfahrung vorausgehen, so wie dies heute auch in vergleichsweise konsequenterer Art von einer wachsenden Anzahl an westlichen und indischen Dramaturgen, Tänzern und Choreographen praktiziert wird.

Heute findet die Wahl der Choreographen nicht mehr nur zwischen sich anbietenden Formen und Motiven, sondern vor allem auch zwischen einer Vielzahl von Körper/Geist- Trainingsmethoden statt:

Anders als die Künstler, die diese Materialvielfalt verarbeiten, befindet sich der Zuseher auch heute oft noch in einem weit weniger umfassenden Bildungsstadium. Er wird in der Regel, um mit Davida zu sprechen (ibid.: 52), im Dunkel des Zuschauerraums mit seiner Erfahrung allein gelassen. Moderne Tanzkünstler erwarten geradezu von ihrem Publikum, dass es eine Eigenleistung erbringt, indem es sich selbst individuellen Zugang zu der individuellen Leistung des Choreographen verschafft. Sie möchten das als Chance für die Konsumenten ihrer Kunst sehen, selbst in den kreativen Prozess einzusteigen, willentlich eine Auswahl zu treffen oder die eigene kreative Phantasie einzusetzen. Wir sehen hier Parallelen zu der uralten indischen Auffassung von der Vollendung des Kunstgenusses und der Erschaffung des ästhetischen Werts durch die Imaginationskraft und das Verständnis der Zuseher, wie sie in dem Abschnitt über "Ästhetik und Wert" in dieser Arbeit behandelt wurde. Doch fällt hier auch die Unstimmigkeit ins Auge, dass der indische Kulturraum dieses Potential nur dem Kenner zuspricht, die gegenwärtige Moderne aber Bildungsdifferenzen zwischen Künstler und Zuseher zu ignorieren tendiert. Der Tänzer hat über seine Praxis Zugang zu Tiefen außereuropäischer Techniken, die einem Nur-Zuseher versagt bleiben. Freilich gibt es auch eine wachsende Anzahl an Menschen, die ihre Freizeit durch das Studium konzentrativer Bewegungstechniken internationaler Herkunft bereichern und über diese Erfahrung dann auch ein verbessertes Verständnis der subtileren Inhalte modernen Tanzes aufbringen.

Obwohl es immer noch vereinzelt Lehrer gibt, die konzentrative Körpertechniken mit starkem spirituellem und therapeutischen Potential, wie etwa Hatha Yoga, ohne Rücksicht auf Religion, innere Einstellung, Atmung und Konzentration unterrichten, geraten sie in der gegenwärtigen Situation immer mehr ins Hintertreffen, da sich heute Studentinnen von Kursen außereuropäischer Techniken auch geistiges und esoterisches Training erwarten. Dazu kommt, dass Tänzer und Publikum heute relativ billig und ungehindert die ganzen Welt selbst bereisen können. Tänzer erhalten Reisestipendien oder werden durch Stellenangebote dazu ermutigt, sich mit verschiedenen Stilen, Tanzformen und konzentrativen Bewegungstechniken vertraut zu machen. Die Belegschaften großer Ballettkompanien werden immer internationaler. So kann mit einigem Recht nicht nur von einer neuen Transkulturalität, sondern auch von einer "Transnationalität" (Brinson 1991:23 zitiert in Davida 1992:27) des Tanzes gesprochen werden.

Die transnationale Entwicklung ist nicht immer von der oben angedeuteten Friedfertigkeit. Gerade einer der aufregendsten Neuentwicklungen der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiet des Tanzes, der japanische Butoh, ist von historischen, multinationalen Konflikten geprägt worden. Von einigen japanischen Künstlern wurden die Ergebnisse der Öffnung nach dem Westen im Gefolge der Meiji-Ära und insbesondere nach den Atombombenabwürfen der jüngsten Vergangenheit mit Skepsis begegnet. Sie wollten und konnten indes dem fortschreitenden 'Amerikanismus' in ihrem Land nicht durch einen bloßen Rückgriff auf feudale und veraltete bürgerliche Unterhaltungsformen des eigenen Landes begegnen. Kô Murobushi erzählt in gebrochenem Englisch über den modernen Tanzstil Butoh:

Ob diese kritische Ablehnung der eigenen Geschichte sich nun auf den Faschismus, auf eine destruktive Autorität des amerikanischen Demokratieverständnisses oder auf den altjapanischen Feudalismus bezieht - was in dem Gespräch mit Murobushi offen blieb-, klar wurde, dass diese Ablehnung politischer Natur war und ihre Ausprägung vom einzelnen Künstler abhängt. Der Effekt davon ist, dass viele japanische Künstler bestrebt sind, den alten ästhetischen Traditionen zu entkommen. Gleichzeitig empfanden sie sich in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg als de facto kolonisiert. Amerikanismen waren im Begriff japanische Kultur zu überrollen. Der Butoh-Tanz versuchte deshalb auf einem neuen Blatt zu beginnen. Natürlich gibt es Verbindungen mit japanischen Traditionen und auch mit westlichen modernen Stilen. Aber die Verbindung ist keine einfache. Für Murobushi heißt der Begründer des Butoh Tatsumi Hijikata, und er erzählt über ihn und sich selbst:

Entlehnte Formen werden also nicht immer bloß aus dem Kontext gerissen und in eigenen Zwecken dienende Zusammenhänge eingebaut, sondern sie können einem metabolischen Prozess unterworfen werden, der Produkte hervorbringt, die nur indirekte, verborgene und andeutungsweise Zusammenhänge mit ihrem Ursprung aufweisen. Diese Umwandlungen bringen kreative Tänzer auf eine Weise hervor, die ihnen selbst nicht zur Gänze bewusst wird. Vajira Dias, Mitbegründerin der Chitrasena-Schule in Colombo beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:

Diese Herangehensweise an fremde Formen ist nicht 'exotistisch'. Sie sucht nicht das Fremde um es zu verdinglichen, zur Ware zu machen, Kitsch anzubieten. Sie entspricht vielmehr dem künstlerischen Weg als dem eines beständig nach dem rechten Ausdruck Suchenden.

Entlehnte Formen für bewegungskünstlerische Arbeiten entstammen nicht notwendig ihrem eigenen Genre. Häufig werden ikonographische Darstellungen als Quelle der Inspiration genutzt, vor allem wenn der Zugang zur 'lebenden' Kunst des Tanzes erschwert ist. Dies gilt für die 'wissenschaftliche' und künstlerische Rekonstruktion altindischer Tanzstile aus Tempelfresken und Plastiken durch rezente indische Choreographen (Ram Gopal, Balasaraswati, Padma Subrahmanyam u.a.) ebenso, wie für viele 'exotische' Ballette west- licher Provenienz. Fokine, Massine und Nijinsky suchten ihre Inspirationen in Museen (Buckle 1984:186). Formen können entlehnten äußeren Themen und Libretti dienstbar gemacht werden oder eigenständig als Vehikel für innere Themen und Anliegen der Künstler dienen.

Nijinsky hatte es wahrscheinlich einem Zufall zu verdanken, dass er für seinen 'Sacre du Printemp' zu Debussys 'Nachmittag eines Faun', ägyptische ikonographische Vorlagen zur Gestaltung eines griechischen Themas benutzte, dessen Inhalt ein zum Leben erweckter griechischer Fries sein wollte (Buckle 1984:186). Der Inhalt des Balletts ist etwa folgender: Ein Faun spielt an einem heißen Nachmittag auf seiner Flöte, als er zwei Nymphen auf ihrem Weg zum Baden begegnet. Er verliebt sich in eine von ihnen, die seinen Avancen jedoch entkommt. Er bleibt mit ihrem Schal zurück, auf den er sein Begehren projiziert. Vielleicht hatte Nijinsky tatsächlich einfach die Abteilungen des Louvre verwechselt, wie Diaghilew und auch Larionow später behaupteten, vielleicht war aber auch zuerst der Wunsch nach Zweidimensionalität der Bewegungen, Gänge, Läufe und steifarmigen Profilposen in ihm entstanden und Ikonographien der ägyptischen Abteilung kamen diesem Bedürfnis mehr entgegen als die griechische Sammlung. Die traditionelle choreographische Abhängigkeit zwischen Musik und Tanz wurde in jedem Fall in dieser Choreographie erstmals durchbrochen und der Bewegungsspielraum des klassischen Balletts progressiv erweitert, so dass in diesem Ballett schließlich "Nijinskys eckige Auftritte und Abgänge durch die fluide Musik" schnitten (ibid.: 187). Die Aufführung brachte auch wegen ihrer provokativen Erotik Aufruhr ins Theater. 1916 musste die Szene mit dem Schal für das prüde Amerika entschärft werden (Buckle 1984:305). Doch viele Zuseher verfielen gerade wegen der schockierenden Formenwahl der unwirklichen und traumartigen Suggestivkraft von Nijinskys Ballett. Die Erzeugung der Kraft solcher Stimmungen war ein 'inneres' Thema Nijinskys und dafür waren ihm alle Quellen recht. Wie viele seiner Zeitgenossen ließ er sich dabei auch durch Rabindranath Tagores indische Lyrik inspirieren (ibid.: 336). Viele der eindrucksvollsten Ballettpassagen der Ballet Russes wurden von der Fähigkeit Nijinskys geprägt, ungewöhnliche, sogar sensationelle exotische Bilder zu schaffen, in denen er den Zuseher zwang, seiner tänzerischen Entrückung und Metamorphosis teilhaft zu werden. So auch in seinem 'Tanz der göttlichen Verzückung' zu einem Flötensolo in 'Le Dieu Bleu'. Dort war es eine Abfolge von pseudoindischen Posen, die gemeinsam mit seinem "bläulichen Fleisch, seinem gelben, in einem Rock endenden Kostüm und seinem hohen goldenen Kopfschmuck" Nijinsky in der Gestalt des indischen Hirtengottes Krishna "wie ein Wesen aus einer anderen Welt" wirken ließen und die den eindruckvollsten Abschnitt des Balletts darstellten (Buckle 1984:223). In diesem, von Fokine und Cocteau kreierten Ballett, tanzte Karsavina die Rolle der Radha, der menschlichen Geliebten des Hirtengottes, an der Seite Nijinskys (Massey 1997:20).

Es wurde bereits in dem kurzen Abschnitt über das anthropologische Theater angedeutet, dass zu den entlehnten Materialien der Tänzer nicht nur Bewegungsformen, sondern auch Instrumente oder verschiedene Kostümattribute der außereuropäischen Kunst des Tanzschauspiels gehörten. Auch Wigman engagierte sich für die (Wieder-) Entdeckung des Schlaginstruments, der Trommel, des Gongs, des Beckens in allen ihren Abarten, die "wie kaum ein anderes Instrument geeignet" sind, "den Rhythmus des tanzenden Menschen aufzufangen und zu unterstreichen" (Sorell 1986:159). Sie verwendete in ihren hochdramatischen Tanzsequenzen mitunter auch Masken, über die sie folgende Überlegung festhielt (ibid.: 159f):

Leicht lassen sich hier jene wichtigsten Elemente des Agierens mit der Maske nachweisen, die etwa von srilankischen Tänzern in fast identischer Weise benannt und beschrieben wurden: das Eigenleben der Maske, ihre Beherrschung des Tänzers, ihre 'Persönlichkeit'. Wenn der singhalesische Ritualtänzer in der Maske des Friedhofs-Dämons Mahasona auftritt, nimmt er an der kreativen Kraft (shakti) des Dämons kontrollierten Anteil. So wird er beispielsweise auf übernatürliche Art für die Zeitspanne dieser Art von Trance (aruda) vor Verletzungen geschützt. Er fühlt dabei deutlich, wann er die Kraft des Dämons bekommt. Auch das, was Wigman über den inneren Spaltungsvorgang sagt, wird - wenn nicht wörtlich bestätigt, so doch illustriert durch die Art der Verwendung von Masken in therapeutischen Kulten. Die Funktion der Masken in den Exorzismustänzen des singhalesischen Tieflands wurde ja bereits angedeutet und die Wichtigkeit jenes Aspekts der Glaubensvorstellung hervorgehoben, nach dem der Kranke als immanent Gesunder verstanden wird und seine Krankheit als fremder, dämonischer Eindringling mit klar umschriebenen Eigenschaften personifiziert wird, die nicht wesensmäßige Anteile des Patienten selbst sind. Der Maskentänzer repräsentiert den Dämon, der den Patienten beeinflusst und er fühlt, dass er die Kraft des Dämonen erhält, wenn er als Dämon tanzt. Der Prozess wird von den Ritualtänzern als eine Art Spiegeleffekt beschrieben, der vor dem Patienten inszeniert wird, und der die dämonische Kraft aus dem Patienten herauszieht (aus Interviews mit Ritualtänzern 1995). Und auch bei Wigman wird die Maske nicht zur exotistischen Sensation, sondern zu einem notwendigen Mittel - wenn nicht für therapeutische, so doch für eng definierte tänzerische Aufgaben, die mit der Ablegung seines eigenen Ichs und der innigen Annahme des Darzustellenden im Sinne der doppelten Agens des Schauspielers (Hastrup 1998:37-41) in Zusammenhang stehen.

Die Attraktivität der Entlehnung fremder Formen hat bis in die Gegenwart keine Einbußen erlitten. Andy Degroat hat gemeinsam mit Laura Dean und Kenneth King die Qualitäten des Sufi-Reigens, wie er vorher nur von einigen Anhängern der Derwisch-Orden praktiziert wurde, wiederentdeckt. In den USA hat man insbesondere die fließende Bewegungstechnik des T'ai Ch'i für die Bühne nutzbar gemacht. Die - im Sinne des Tao - fließende Bewegungskontinuität bildet für Dana Reitz, Ex-Tänzerin von Laura Dean, das choreographische Ausgangsprinzip. Ihre dramatische Wirkung erreicht sie jedoch durch Gegensätze: zuerst sukzessive dann infernale Steigerung des Tempos und dann, in einem einzigen Atemzug, kehrt sie zu ihrer Ausgangsposition zurück, so ruhig als ob sie sie nie verlassen hätte. In anderer Weise kombiniert Molissa Fenley den kontinuierlichen Energiefluss des T'ai Ch'i, der die Bewegung ohne jede Unterbrechung durch den Körper führt, mit der Energie des Rock oder der New Wave Musik (Brunel 1982: 27).

Insgesamt wirken entlehnte Formen einerseits oft als bloßes Spektakel, andererseits aber auch als adäquate und unersetzbare Mittel um innere psychologische und spirituelle Anliegen zu transportieren, für die eben konventionelle Grenzen des Eigenen und Klischees gesprengt werden müssen. Demgegenüber weisen Darstellungen von klischeehaften und oft inkriminierenden Vorstellungen über das Fremde seltener Entlehnungen von Formen auf. Hier wird öfter einfach frei über das Fremde phantasiert. So auch in den sogenannten "Polowetzer Tänzen", die Fokine für die Ballets Russes geschaffen hat, ohne die geringste Information über den ausgestorbenen russischen Stamm der Polowetzer gefunden zu haben. "Wilde Gestalten mit rußverschmierten Gesichtern und rot und ocker gescheckten Mänteln ... die eher einem Rudel beutegieriger Bestien als einer menschlichen Gemeinschaft ähnelten" (Beaumont zitiert nach Buckle 1984: 140), ein "schmachtender Tanz der weiblichen Gefangenen in ihren scharlach- und purpurroten Schleiern" und danach die eigentlichen von Fokine entfesselten "Polowetzer Tänze", "das Stampfen der Krieger, das hektische Zucken der Jungen, die sich mit Holzrasseln auf die Knie schlugen, der Tanz der Mädchen ... - all das zu dem anschwellenden Gesang des Chors, der den Khan pries ..." (ibid.), jagte bald der halben Welt wonnige Schauer des Entsetzens und der Faszination über den Rücken, indem an das Klischee des wilden und unzivilisierten Fremden appelliert wurde.

 

 

Existentielle Kreisläufe

 

Vor allem waren es dann auch die zyklischen Riten auf die der moderne Tanz und das Bewegungstheater zurückgriffen, Riten, die man in der Fremde wiedererkannte, weil sie in noch nicht zu ferner Vergangenheit Bestandteil der eigenen Ritualkultur gewesen waren: Feiern von Lebenskrisen wie Geburt, Erwachsenwerden und Tod, aber auch von Naturzyklen wie Höhepunkte des Sonnen- und Mondkreislaufs und jahreszeitliche Zyklen.

Labans Tanzschule in der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità in Ascona, arbeitete wann immer es ging im Freien, ganz im Einklang mit den populären Ideen der Freikörperkultur und Rückbesinnung auf die Natur. Damit einher ging auch die tänzerische Feier natürlicher Zyklen, Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge und Vollmondfeste. Obwohl Laban nicht eigentlich religiös war, erfreute er sich doch eines gewissen Mystizismus, dem er gelegentlich in den märchenhaften Visionen seiner Tanzbilder Ausdruck verlieh (Laban 1989: 93-99).

Selbst bei jenen Vertretern des modernen Tanzes, die Tanz um seiner selbst willen als künstlerischen Ausdruck pflegen, schleichen sich exotische Inhalte ein. So etwa bei Sage Cowles und Molly Davies, Schülerinnen von Cunningham, die Film und Tanz in Live- Performances kombinieren und in deren Arbeit die Ideen der Reinkarnation, der Lebenszyklen und Lebensstadien sowie der Verschmelzung des Individuellen und des 'Hier und Jetzt' mit dem Universellen als Themen aus der hinduistischen Ideologie Bedeutung haben (Hanna 1983:133,136,139). Typisch erscheint hier, dass es, wie für Cowles, unwichtig wird, ob die genannten Inhalte dem Publikum tatsächlich vermittelt werden. Wichtig erscheint vielmehr allein die konzentrative Spannung, die durch diese Themenwahl ermöglicht ist und die der Arbeit ihren 'Wert' gibt (ibid.: 140).

Während zyklische Riten also ursprünglich enge Bezüge zu Natur und Naturerleben aufwiesen, denen unmittelbares Erfahren und das Bedürfnis nach kultureller Integration zugrunde lag, sind zumindest einige der modernen theatralischen Repräsentationen dieser ritueller Themen ganz anders orientiert. Vor allem läßt sich hier eine Tendenz zur Nutzbarmachung in Hinsicht auf eine bloße Erzeugung verschiedener Stimmungen in Akteuren und Publikum beobachten, die, über ein Appellieren an vergangene Epochen und eine nostalgisch verbrämte Sicht dieser Riten als bloße Elemente des Aberglaubens, öfter von realistischer Wahrnehmung weg und in märchenhafte und mystische Stimmungen hinein- führen als dass sie zu einer umfassenderen und integrierteren Sicht der Natur und zu einer kulturellen Verarbeitung der existentiellen Thematik der Vergänglichkeit und Sterblichkeit beitragen.

Eine Bewegung, die sich für eine Wiederbelebung von kollektiven Riten und Tänzen der Lebenszyklen einsetzt, findet indes mit wachsendem Zulauf außerhalb der Theater und auch außerhalb der Kirchen und etablierten Religionen im Rahmen von Workshops und Veröffentlichungen einzelner Vertreter im Umfeld der New Age -Bewegung statt, wie von Ted Andrews (1993) oder Sedonia Cahill und Joshua Halpern (1992), von denen sich einige als Erben alten keltischen Wissens ausgeben und die auch Traditionen verschiedener anderer, mittelalterlicher und magischer Kulte wiederbeleben wollen und in diesem Prozess auch, mehr oder weniger deutlich deklariert, Tanzriten neu definieren und erfinden. Solche Revita-lisationsbemühungen stehen in einem gewissen Zusammenhang mit einer modernen Bewegung der Rückbesinnung auf die Natur, die das ökologische Beziehungsgeflecht unter dem Bild des belebten Planeten als eines Gesamtorganismus begreift und die für archaische Bewältigungsstrategien in dem unübersichtlichen Gefüge an industriell verursachten Bedrohungen dieses 'Organismus Erde' eintreten. Sie knüpfen an Auffassungen an, die seit der Jahrhundertwende vermehrt kursieren und an Facetten und Varianten stetig hinzugewinnen.

 

 

Primitivität - das Einfache, das Natürliche (Universelle) und das Fremde

 

Seit dem Ende des 19. Jh. begannen sich Bewegungskünstler vermehrt mit dem Thema der Natürlichkeit auseinander zu setzen. Loie Fuller, die in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Paris auftrat, wandte sich mit dem Schlachtruf "Natur ist das Echte und Kunst das Künstliche" vehement gegen antrainierte Tanzformen. Eine Bewegung wurde eingeleitet, die in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wiederaufleben sollte (Hanna 1983: 38). Um die Jahrhundertwende trat Isadora Duncan barfuss und in lockerer Bekleidung auf und präsentierte ihr Konzept von "natürlicher" Körperbewegung. Sie suchte ihre Inspiration in Abbildungen und Artefakten altgriechischer Kultur, also gleichermaßen in der Vergangenheit wie in der Fremde, wenn diese Fremde auch als 'Wiege der europäischen Kultur' gerade große Mode war. Im Dezember 1904 tanzte Isadora Duncan in St. Petersburg und ihre Ankunft leitete eine neue Phase auch in Fokines und Diaghilews Leben ein, die sich in der Gestaltung der Ballets Russes von ihr inspirieren ließen. Die junge Frau tanzte in einem dünnen, langen Gewand vor einem schlichten Vorhang zu der Musik Chopins in ihrem individuellen freien Stil, barfuss. Nach Buckle (1984:81) "bekehrte sie Michail Fokine zu einem natürlichen Tanzstil ... [und] veranlasste ihn indirekt, ein revolutionärer Choreograph zu werden, und dieser Einfluss sollte Diaghilew nur vier Jahre später abermals und diesmal für immer in die Welt des Balletts führen". Denn obwohl tänzerische Technik und Stil in Russland einen noch nie gekannten Höhepunkt erreicht hatte, waren die aufgeführten Ballette "abgedroschen, konventionell und lebensfern. ... Isadora brachte Fokine auf Ideen" (ibid.: 81f).

Das Einfache und Natürliche bedeutete indes für Isadora Duncan keineswegs eine Hinwendung zum sog. 'Primitiven', das sie in den damals im Entstehen begriffenen modernen Tanz- und Musikrichtungen der Afroamerikaner zu erkennen glaubte:

Sie suchte sich bewusst das Vorbild der Griechen aus, um sich und ihren Tanz in die Nähe der Klassik zu bringen und damit eindeutig in den Bereich der hohen Kunst. Sie verband die Idee der Natürlichkeit des 'nackten' (nicht durch einengende Kleidung behinderten) Körpers mit jener der Perfektion und Kultur (ibid.: 31).

Die Weichheit und Natürlichkeit ihrer Armbewegungen stammen nach Daly (ibid: 78) übrigens nicht von der Inspiration durch Griechenland, sondern durch einen Auftritt der japanischen Tanzschauspielerin Sada Yacco, den sie während der 1900 Exposition Universelle in Paris sah. Die mühelose Körperkontrolle, die Duncan in ihren fließenden und eher verhalten wirkenden Tänzen als 'natürlich' kultivierte, war weit von Wildheit entfernt. Sie hob sich damit von den - wie sie es formulierte - 'Krämpfen' und 'Verrenkungen' der afrikanisch inspirierten modernen Tänze ab. Dabei spielte jedenfalls auch die Ablehnung erotischer Aspekte des Tanzes eine wesentliche Rolle. Ihre Spontaneität blieb durch die unausgesprochene und unhinterfragte Kontrolle, welche die 'gute Erziehung' prüder bürgerlicher Pädagogen auszeichnet, gebremst - und blieb in einem gewissen Widerspruch zu ihren späteren 'bolschewistischen' Idealen.

Erotik wurde immer wieder als ein Attribut primitiven Tanzes angesehen und viele Kulturen tendieren dazu, die Tänze fremder Kulturen als sexuell anstößig wahrzunehmen, wie ich dies bereits an anderer Stelle erklärt habe. Überdies scheint es, dass die Wahrnehmung von Erotik oft durch das Ungewöhnliche einer Person, Umgebung, Handlung oder Kostümierung verstärkt wird. Dazu kommt dann noch eine ethnozentrische Bewertung des Fremden als primitiv und die Verbindung, die viele Kulturen zwischen offen zur Schau getragener Erotik und Primitivität herstellen. Erst der moderne Tanz schuf sich im Westen einen gewissen Freiraum zur künstlerischen Thematisierung und auch allgemeineren Akzeptanz von Erotik auf der Bühne. Nijinsky kann als einer der Pioniere dieser Entwicklung gelten, insbesondere was seine Choreographie zu Debussys "Nachmittag eines Fauns" betrifft, in der er ungewöhnliche reliefartige, zweidimensionale Bewegungen mit unverhüllter Erotik und einer griechisch-mythischen Thematik verknüpfte (Buckle 1984: 224ff).

1913 machte Nijinsky die Natur selbst in seinem Ballett "Sacre du Printemp" zum Thema. Statt romantischer Lieblichkeit zeigte Nijinsky:

Das Stück verursachte nicht zuletzt auch wegen der ungewöhnlichen Musik Stravinskys und der Anwesenheit entschlossener Protagonisten inmitten der eleganten Logeninsassen einen Skandal, so dass am 29. Mai des Jahres eine Schlacht unter dem Publikum des Théâtre de Champs Elysées entbrannte (ibid.: 255ff.), die wiederum der Bekanntheit, wenn auch nicht sogleich der Popularität von Diaghilews Ballets Russes zugute kam. "Sacre du Printemp" verband die Idee der 'Natur' wieder mit der Idee des 'Primitiven', in dem es zu seinem Inhalt ein grausames und als primitiv gedachtes Frühlingsopfer wählt: ein durch ein 'Gottesurteil' erwähltes Mädchen muss sich zu Tode tanzen. Diaghilew hatte für die Proben sogar eine Dalcroze-Schülerin, Marie Rambert, angeheuert, in dem - nach Buckle vergeblichen - Versuch, den Prinzipien der natürlichen Rhythmik nach den Gesetzen von Dalcrozes Eurhythmie zum Eingang in Nijinskys Choreographie zu verhelfen (Buckle 1984: 254, Steeh 1982: 47, 124).

Primitivität bedeutet im engeren Sinne das Stehen auf einer niedrigen Entwicklungsstufe einer, in den allermeisten Fällen fremden, Kulturäußerung und widerspiegelt eine oft naive und ethnozentrische, jedenfalls aber jene Art von evolutionistischer Sichtweise, die von einer unhinterfragten Überlegenheit der eigenen Kultur ausgeht. Diese Sichtweise ist keineswegs auf den euroamerikanischen Raum beschränkt. In Indien etwa glaubt man, dass der Hinduismus die perfekte und ewige Religion der Menschheit ist, von der andere Völker nur durch Unwissenheit abgefallen sind (z.B. Glasenapp 1996:27 ff.). Es ist wohl kaum nötig, erneut hervorzuheben, dass im Gegensatz zu früheren Auffassungen heute nicht mehr von einem unilinearen universellen kulturellen Entwicklungsmodell ausgegangen werden kann, sondern vielmehr von einer Vielzahl von Möglichkeiten für historische Entwicklungsprozesse ausgegangen werden muss. Auch lehrt uns unsere eigene Geschichte, dass innerhalb dieser Vielfalt an Entwicklungswegen keineswegs generell davon gesprochen werden kann, dass bessere und höherentwickelte Formen stets schlechtere und niedrig entwickelte ablösen, oder dass hohe Entwicklungsformen auf einem Gebiet der Kultur (z.B. der industriellen Technologie) zwangsläufig mit ebenso hohen Entwicklungsformen auf einem anderen Gebiet (z.B. innerhalb der Philosophie oder der Künste) der Kultur einhergehen. Der Begriff der Primitivität ist jedenfalls kaum wertfrei anwendbar, auch wenn seine abwertende Konnotation nicht immer wahrgenommen wird. Da alle Kulturen Geschichte haben, ist es töricht von der Annahme auszugehen, dass irgendeine rezente Kultur ausschließlich aus gering ent- wickelten Bereichen bestehen kann. Gerade uns besonders 'primitiv' erscheinende weil gewalttätige Formen, wie blutige Initiationsriten und andere Körpermutilationen (z.B. beschrieben in Prinz 1996), in denen sich meines Erachtens letztlich die Enteignung des individuellen Körpers durch eine Kultgruppe ausdrückt, sind Äußerungen von kultureller Entwicklung und Spezialisierung, letztlich eben kulturell bedingte Eingriffe in die Natur und nicht Beweise für irgendeine fiktive Naturnähe. Es erscheint jedenfalls nur als angemessen, in jedem Fall eine Präzision des Geltungsbereichs des Begriffs der Primitivität zu fordern und die Relativität gewisser wertender Sichtweisen klar herauszustreichen.

Bei näherer Betrachtung gibt es wohl in jeder Kultur irgendeinen Bereich, der 'Überlegenheit' gegenüber anderen Kulturen aus emischer Sicht begründet erscheinen lassen kann. Doch ist dieser für Fremde nicht immer gleich ersichtlich. Aus Mangel an Einsicht über das Problem der Relativität kann es auch vorkommen, dass Ethnologen, wie etwa Turnbull, die moralischen Paradigmen 'ihrer' Ethnie in allfälliger Verzerrung anzunehmen beginnen und sie als ihren Nachbarn überlegen darzustellen versuchen. Turnbulls populäres und hinreißend geschriebenes Buch 'The Mountain People' (1972) ist ein Bericht über ein Volk von Bergbewohnern im nördlichen Uganda, die Ik. Peter Brook verarbeitete das Buch sogar in einem Bühnenstück. Das Buch jedoch zog über die Jahrzehnte hinweg immer wieder heftige Kritik aus dem vorgenannten Grund auf sich. Die Ik selbst fühlten, das Turnbull ihren Namen in Misskredit gebracht hatte. (Knight 1994:1-3)

Brook behandelte Turnbulls Werk in seinem Theaterstück als eine Erzählung "of a tiny, remote, unknown African tribe in what seems to be very special circumstances [which] is actually about the cities of the West in decline" (Brook 1988:136 zitiert nach Knight 1994:2, Ergänzung d.A. in eckigen Klammern). Turnbulls Werk ist also reine Projektionsfläche für ihn, nicht die Ik stehen im Zentrum seines Interesses, sondern seine eigenen Vorstellungen über die Dekadenz der westlichen Zivilisation. In seinem Stück erscheint 'Entwicklung' als negativ, der 'Urzustand' als erstrebenswert. In solcher Haltung zur Primitivität spiegeln sich Vorstellungen wieder, die dem Stand und den zentralen kulturkritischen Ideen ethnographischer Forschungen der Zwanziger- und Dreißigerjahre nahe stehen (Marcus & Fischer 1986: 129). Diese Ideen beinhalteten, 'primitive Kulturen' hätten gegenüber unserer eigenen 'hochentwickelten' Kultur vor allem drei wesentliche Vorzüge: Respekt gegenüber der Natur, befriedigende Formen des sozialen Zusammenlebens und einen Sinn für das Heilige im täglichen Leben, alles auch generelle künstlerische Themen seit der Jahrhundertwende, Themen die unter anderem auch Duncan ein Anliegen waren.

Primitivität ist immer wieder mit Urtümlichkeit gleichgesetzt worden. Während 'Primitivität' im Sinne des 'wenig Entwickelten' auch heute noch gerne als kulturbeschreibender Begriff verwendet wird, ist seine Anwendung im Sinne von 'Urtümlichkeit' bereits breit kritisiert worden. Auf dem Gebiet der Tanzanthropologie ist der kritische Standpunkt hierzu am Klarsten in Keali'inohomokus Artikel "An Anthropologist Looks at Ballet as a Form of Ethnic Dance" (1970) dargelegt worden: Es gibt keine Tänze irgendwelcher primitiver Gruppen, die uns irgend etwas über das kulturelle Verhalten unserer eigenen Vorfahren enthüllen könnten. Doch auch sie schreibt keine prinzipielle Kritik an dem Begriff der Primitivität, obwohl sie anhand der Analyse von Tänzen der Hopi-Kultur darlegt, wie Schlüsse über den kulturellen Zustand einer Ethnie zwangsläufig in die Irre gehen, wenn sie sich an diesem diffusen Begriff ausrichten. Letztlich scheint es doch hauptsächlich die Ethnie ihres speziellen Interesses, jene der Hopis, die sie aus dem pejorativen Konnotationsbereich des 'Primitiven' exemplarisch auszuklammern sucht.

Sowohl die philosophische und künstlerische Suche nach Primitivität im Sinne des 'glücklicheren' Urzustands der Rousseauschen Romantik als auch im Sinne der 'Wahrheit' der Gefühle führte immer wieder zu künstlerischen Produkten von süßlicher Oberflächlichkeit. Während immer mehr Tänzer und Choreographen in der Befreiung der Emotionalität dem 'Natürlichen' näher kommen wollten und immer mehr von ihnen in überladenen Gefühlsduseleien strandeten, fanden andere den umgekehrten Weg und trachteten nach der Befreiung der Bewegung von Emotion, um zum eigentlichen Wesen und so 'zur eigentlichen Natur des Tanzes' zu gelangen. Der Begriff der 'Natürlichkeit' kann neben kulturellen auch extremen historischen Schwankungen unterworfen sein. Alwin Nikolais und George Balanchine schufen auf einem solchen Weg einen streng abstrakten und formalen Tanz. Vor allem die Choreographen der Postmoderne, in den Sechziger und Siebzigerjahren sahen dann die neue 'Natürlichkeit' in der von jeder Emotionalität 'gereinigten' Bewegung. Insbesondere Merce Cunnigham, Progenitor der Postmoderne, engagierte sich für den 'reinen Tanz', befreit von der Verpflichtung zum Geschichtenerzählen und spezifischen emotionalen Referenzen, Tanz nur um des Tanzes willen. In den Siebzigerjahren begannen aber auch Choreographen des modernen Tanzes wie Paul Taylor, Erick Hawkins und Alvin Ailey wieder vermehrt aus Volkstraditionen und Riten zu schöpfen und eine neue Lebendigkeit in das Theater zu bringen (Hanna 1998: 40f.). Es war dies eine gleichsam eine Pendelbewegung zurück zugunsten der Gefühlshaftigkeit, zur Emotion, die durch Technisierung, Mechanisierung und Bürokratie immer wieder in Bedrängnis gerät.

Nietzsches Stilisierung des sogenannten 'Dionysischen' wird bis heute als Rechtfertigung von 'Natürlichkeit', 'echter' Emotionalität, Triebhaftigkeit, Ekstase und Katharsis in den performativen Künsten herangezogen. Nietzsches "Geburt der Tragödie" hat bis zum heutigen Tag erheblichen Einfluss auf die Bewegungskünste. Überraschend dabei ist die Übernahme seiner Argumentation durch asiatische Vertreter dieser Genres und die Anpassung seiner Aussagen an ihre Bedürfnisse, wie etwa durch die Neuerin des Bharata Natyam, Shobana Jeyasingh (126), aus London oder den in Paris ansässigen Butoh-Tänzer, Ko Murobushi (127). Interessant ist dabei auch, dass beide Künstler, obwohl sie aus den extrem durchregelten Bewegungskunsttraditionen ihrer Herkunftsländer ausbrechen, den rationalistischen Gegenpol zu ihren kreativen und emotionalen Neuschöpfungen nicht in der eigenen Kultur ansiedeln, sondern in der westlichen. Sie verwenden Nietzsche dazu, den gesellschaftlichen Zwang zu Emotionslosigkeit und Rationalismus in der westlichen Kultur anzugreifen. Sie übertragen Nietzsches Kulturkritik nicht auf ihr eigenes Land, sondern sie verwenden sie zur Rechtfertigung ihrer Tätigkeit im Westen als einer Fortsetzung von Nietzsches Bestreben nach der Überwindung des 'Apollinischen' im Westen. Wie weit diese modernen östlichen Interpreten hier Sprachrohr von westlichen Zuschreibungen von Rationalität zur Kultur des Westens und von Natürlichkeit zu den Kulturen des Ostens werden sei dahingestellt. Jedenfalls wird hier ein Prozess der kolonialen Vereinnahmung, der symbolische Sieg des Rationalismus der Eroberer über die magische und religiöse Weltanschauung der Besiegten in subtiler Weise so paraphrasiert, dass der Osten den Westen nunmehr als über die Schattenseiten derselben Rationalität belehrend auftritt. Dem Westen wird aus der Sicht des Ostens indes nicht nur Affinität zu Rationalismus und Emotionsferne zugeschrieben, sondern bisweilen auch das genaue Gegenteil, Naturnähe, nämlich in der Freiheit von restriktiven Vorschriften und künstlerischen Formalismen.

Die Suche nach einer neuen Naturnähe stellt nicht nur im Westen ein Motiv für die Hinwendung zum Fremden dar. Auch der Osten bedient sich mit Vorliebe jener fremden und auch westlichen Elemente, die eine gewisse Naturnähe oder Elementarität symbolisieren: Chitrasena und Vajira, die beiden Begründer des modernen singhalesischen Bühnentanzes, setzten lieber Elemente des Modern Dance als solche des klassischen Balletts ein, die sie wegen ihrer natürlicheren Körperhaltungen, vor allem auch wegen des Tanzens auf flachem Fuß, für eher übertragbar hielten. Sardono, der Begründer des experimentellen Tanzes in Indonesien, ist hingegen, in seinem Bestreben nach Erneuerung und Wiederbelebung der asiatischen Tradition, auch innerhalb der eigenen Traditionen auf der Suche nach der natürlichen Bewegung:

Hier zeigen sich bemerkenswerte Parallelen zu den Bestrebungen westlicher Begründer des Modern Dance, etwa einer Isadora Duncan nach Aufdeckung der natürlichen Wurzeln der tänzerischen Bewegung in den ikonographischen Darstellungen des alten Griechenlands .

Der Butoh ist unter den modernen Tanzstilen Asiens am meisten von den Ideen der Natürlichkeit, der Primitivität und der Ursprünglichkeit durchtränkt. Garafola (1989:66f) glaubt, wie auch andere Tanztheroretiker und -theoretikerinnen, dass der Butoh künstlerische Reaktion auf die zwei Atombombenangriffe 'auf das Land des haiku, Zen und Nô' ist, die sich in seinen bevorzugten Themen der Deformation, Verwüstung und Lebensbesessenheit vor und nach dem Fall der Bombe spiegeln. Die Natur kann im Butoh als Gegengift des Bösen erscheinen, welches sich seinerseits in den destruktiven Seiten der Zivilisation offenbart. Der Körper wird dabei zu einer Landkarte sozialer Krankheit. Ereignisse finden in einer Gegenwart statt, die in einem Akt imaginativer Primitivisierung zur Vergangenheit gemacht wird. Körperliche Intimität wird dabei zu einem der Schlüssel zur Erlösung aus den Verstrickungen des Seins. Butoh kann auch eine intensive Erotik ausstrahlen, die mit Gewalt, Faszination des Schrecklichen, Verführung, Wissen, aber auch einen unschuldigen und ver- spielten Hedonismus verbunden ist, der ohne Erinnerungen auch frei von Angst erscheint. Dabei peinigt Butoh den Zuseher oft geradezu durch Merkwürdigkeit. Aktionen werden zu zeitlich ausgedehnten Metamorphosen des Körpers von minimalistischer Gestik, in der auch Imitationen der Natur mit Nachahmung von Tieren, mit Wachsen und Vergehen, Geburt und Tod - im Sinne der bereits erwähnten reritualisierenden Vorliebe für lebenszyklische Themen - aufscheinen. Der weißgekalkte Körper und das zu einer Maske geronnene Gesicht tragen zu einer hieratischen Ausdruckskraft bei, die auch in der Verwendung von Schlamm, Wasser und Sand Erdriten suggeriert. Oft ist der Tanz in Bildern der Natur verwurzelt, Bilder, die verwandelt und transzendiert werden. Besonders neuere Interpreten und solche, die länger mit dem euroamerikanischen Raum verbunden sind, benutzen allerdings auch Absurditäten, die ganze Sequenzen trivialisieren. Während sich der frühe Butoh bis zu einem gewissen Grad durch eine Xenophobie im Gefolge der Erinnerung an die amerikanische Besetzung auszeichnete, bedient sich der heutige Butoh ebenso vieler japanischer wie westlicher kultureller Elemente, jedoch oft mit der oben erwähnten tendenziellen Intention, den Westen zu belehren.

Und auch der postmoderne Tanz des Westens sucht weiter im Archetypischen nach Universalien. Meredith Monk sucht nach dem Einfachen und Urtümlichen im Innersten des Menschen: die 'reine' Stimme, die Gebärde. Sie trachtet nach einer Überwindung der Minimal Art durch eine umfassendere Ausdrucksweise, in der der Mensch sowohl seinen ursprünglichen Ausdruck als auch seine Gesamtheit entdecken kann. In ihrer Suche nach Ganzheitlichkeit begreift sie die Wahrnehmungsfähigkeit als ein Geflecht aus vielen einzelnen Bereichen - auditiven, visuellen, kinästhetischen, mentalen, sexuellen oder emotionalen. Sie spürt einem originären, 'prälogischen', 'präverbalen' Ausdruck nach, wenn sie sich 'direkt an den einzelnen und sein zerbrechlichstes Besitztum, den Körper' wendet. Sie ist bestrebt, eine universelle, 'sofort lesbare' Sprache freizulegen. Sie möchte dabei - soweit dies möglich ist - die Schranken von Zeit, Raum, Geschichte und Geographie aufheben ebenso wie die Abgrenzungen zwischen den Völkern und auch den Kunstgattungen. So sind ihre Performances sowohl vokal als auch choreographisch, auf das Medium der Bühne ebenso bezogen wie auf den Film. Große Aufführungen finden zuweilen an verschiedenen Orten und verschiedenen Tagen statt. Meredith Monk übte mit diesen Ansätzen großen Einfluss auf das amerikanische und auch französische postmoderne Tanztheater aus (Brunel 1982: 27).

 

 

Zur Übersetzbarkeit performativer Traditionen

 

Die Einführung von Bestandteilen einer fremden Kultur in eigene performative Traditionen ist nie ein einfacher Akt der Übernahme, sondern setzt verschiedene mehr oder minder offensichtliche Veränderungsprozesse voraus, welche unter anderem die Zweckgerichtetheit und den Kontext der Aufführung, die soziale Herkunft, Vorbildung, Interaktion, Erwartung und Motivation von Publikum und Akteuren, die Gestaltung des Aufführungsorts sowie Inhalt und Form der Aufführung betreffen. Selbst bei starker Motivation zur Authentizität lässt sich eine tänzerische Darstellung nicht einfach eins zu eins übernehmen, sondern wird den Übertragungsprozess in nur annähernder Übereinstimmung mit dem Ausgangsprodukt überstehen. Lässt sich nun das Produkt einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Fremden auf die eigene Kultur und umgekehrt prognostizieren? Pavis verwendet ein 'Uhrglasmodell' um die Überführung von Theaterpraktiken von einer Kultur in die andere zu erklären. Im oberen Glas ist die fremde Kultur, die Quelle der Kultur, die mehr oder weniger kodifiziert ist und durch diverse anthropologische, soziokulturelle und künstlerische Konzepte konsolidiert wird. Um uns zu erreichen, muss diese Kultur durch einen schmalen Hals dringen. Wenn die 'Körner' der Kultur, ihre Konglomerate, fein genug sind, werden sie diesen Hals wie langsam auch immer ohne Schwierigkeiten passieren. Diese 'Körner' werden sich im unteren Glas, das die Form symbolisiert, in der sie in der Zielkultur Gestalt annehmen, in einer zufällig erscheinenden Form ordnen, die aber teilweise von ihrer Passage durch einige Dutzende Filter geregelt wird, welche durch die Zielkultur und die Zuseher angelegt werden (Pavis 1992:4). In diesem Prozess hat auch die Theorie ihren Platz, sie steht nicht völlig außerhalb dieses Prozesses und fließt immer wieder in die Praxis ein, wobei man von einem begrenzten, aber wahrnehmbaren Einfluss der Theorie auf die Praxis ausgehen muss (ibid: 89-92). Pavis geht von einem Überlappungsbereich zwischen den Aussagesituationen der Quellenkultur und der Zielkultur aus, der zum Ausgangsbereich einer Übersetzungs- und Verständigungsmöglichkeit wird (ibid.: 136).

Ein anderes Modell zum Verständnis des 'Übertragungsprozesses' wird von Leims präsentiert. Leims (1990:5) schlägt ein 'Radio'-Modell zur Erklärung von Phänomenen des exogenen Kulturwandels vor, das er wegen der bestehenden Terminologie favorisiert:

Leims geht sowohl von einem aktiven Anteil der beeinflussten Kultur an dem Wandelprozess, als auch von einer Akkomodation des 'Senders' an die Bedürfnisse des 'Receivers' aus (ibid.: 6f.). Wir haben es also nicht mehr mit einem Vorgang in einer eindeutigen Richtung zu tun, wie das Schütten von Sand durch einen Trichter, sondern mit einem komplexen reaktiven Prozess zwischen den beteiligte Kulturen. Dieser Prozess ist auch dort reaktiv, wo es sich nicht um einen eigentlich interkulturellen Prozess der gegenseitigen Befruchtung, sondern um einen 'bloß' transkulturellen Prozess der Durchdringung der einen Kultur durch gewisse Anstöße von einer anderen handelt. Leims, der sein Modell anhand der kulturellen Prägung des japanischen Kabuki im 16. und 17 Jh. durch das Jesuitentheater entwickelt, ist sich durchaus bewusst, dass exogener Kulturwandel zwischen Europa und Japan in beiden Richtungen nachweisbar ist, auch wenn die Auswirkungen des japanischen Theaters auf insbesondere das deutsche barocke Jesuitendrama nicht Gegenstand seiner Abhandlung sind. Weiters führt er an, dass Japan sich immer wieder durchaus selektiv, aber doch sehr produktiv mit dem Fremden auseinander setzte und zwar "mit quasi enkulturatorischem Effekt, d.h. der Aneignung und Betrachtung des Fremden als Eigenes" (ibid.: 3-7).

Eco (1993:424f) spricht über 'Decodierungsprozesse' die sowohl die Erzeugung eines poetischen Textes als auch die verschiedenen Formen der Übermittlung und Rezeption durch Kritiker oder Konsumenten umfassen. Das, was er den 'rhetorischen Apparat' nennt, enthält kulturabhängige und damit von Raum-, Zeit- und Sozialkontext abhängige Faktoren in den Kategorien der Systeme von Codes und Subcodes, auf die sich Sender - hier Autor - und Empfänger - hier Leser - beziehen. Bis zu dem Grad, in dem man Tanz mit Poesie vergleichen kann und in dem Ecos Modell auch allgemeinkünstlerische Charakteristika berührt, lässt sich hier eine Parallele zu tanzkünstlerischen Transfers zwischen den Kulturen ziehen. Jeder Choreograph, der fremde Elemente in seinen Tänzen darbietet, fungiert hier sowohl als Sender - seinem Publikum gegenüber - als auch als Empfänger - der fremden Kultur gegenüber - in Ecos Sinn. Ecos Modell beschreibt Decodierungsprozesse, die von einem Höchstmaß an Zufälligkeit bis zu einem Höchstmaß an Treue reichen können. Zufälligkeit besteht, wenn das Signifikans auf willkürliche Codes bezogen wird. Die verschiedenen Einflüsse und Subcodes können allein oder durch ihre gegenseitige Einwirkung "als willkürliche Codes wirken, d.h. als semantische Geräusche, oder als bereichernde Codes, die der Botschaft mögliche Signifikate hinzufügen, die sie als Informationsquelle enthält" (ibid.: 425). Eco beschreibt Treue nur als möglich:

Denn:

Mein eigenes 'mehrdimensionales' Modell, das ich in den Abschlusskapiteln dieser Arbeit genauer darlege, geht sowohl von komplexen reaktiven Prozessen zwischen den exportierenden und importierenden Kulturen als auch von einem gewissen Anteil der dazugehörigen Theoriebildung an eben diesem Prozess aus. Kulturelle Interaktion begründet und spiegelt nicht nur Theorien über performative Kunst, performative Kunst ist selbst bis zu einem gewissen Grad Theorie oder besser Metakommunikation im Sinne von Watzlawicks Pragmatik der Kommunikation (Watzlawick et al. 1993) über kulturelle Interaktion, über das Fremde und über das Eigene. In ihrem extremsten Ausdruck wird durch körperliche Darstellung hochgradig virtuelle Geschichte, Ethik oder Philosophie gemacht, indem Zusammenhänge neu gesetzt werden und neue Definitionen des Eigenen und Fremden geformt werden. Im alltäglichsten Ausdruck werden in oft mehr chaotischer als virtueller Weise Moden und Trends kreiert.

Die Suche nach Universalien und die Rückbesinnung auf Formen, die im Westen in Vergessenheit gerieten, ist einerseits eine Folge und Form der gewaltsamen Vereinnahmung in der kolonialen Konfrontation, bringt, aber andererseits auch dialoghafte Berührungen mit dem Fremden hervor, welche nicht nur die vielfältigen Neugestaltungen des Eigenen so wie Prozesse der Reritualisierung der westlichen Bewegungskunst und sekundär auch der neuen außereuropäischen Bühnenkünste bedingt haben, sondern auch zu neuen Ansätzen in der Pädagogik und Therapie führten. Gerade in diesen Bereichen kommt es nun zu Parallelitäten in der Funktionalisierung von Tanz zwischen dem Westen und den außereuropäischen Ritualtanzformen.

 

 

Die neuen Riten: Transformation, Therapie, Kritik

Interkulturelle Tanztherapie im Unterrichts-, Sozial- und Gesundheitswesen. Tanz als Kulturkritik und Kulturtherapie. Neue Tanzriten. Ekstatischer Tanz und Interkulturalität. Spiritualität und rituelle Intensität der Erfahrung im Theater.

 

Tanz- und Bewegungsriten begleiten mehr noch als überwiegend verbale Riten transformative Prozesse. Sie entsprechen weniger der Äußerung von Wünschen in Gebeten als einer tatkräftigen Umsetzung des Wunsches durch Bewegung: Fruchtbarkeit, Gesundheit, Sieg oder Frieden, werden in der Anwendung subtiler Einsichten in Prozesse der Umstimmung von Körper und Geist (vgl. Kapitel "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential") herbeigetanzt. Bewegung in Tanz- oder anderer rituell vorgeschriebener Form transportiert die Anwesenden, Akteure ebenso wie aufmerksame Zeugen, in ein rituelles Raum-Zeit-Kontinuum, das durch besondere außeralltägliche Wahrnehmungsgestalten gekennzeichnet ist und eine deutliche Zweckorientierung mit Bezug zur alltäglichen Wirklichkeit aufweist. Tanz spielte und spielt in vielen Gegenden der Welt noch immer in der rituellen Durchsetzung von sowohl kollektiven als auch persönlichen Transformationen eine überragende Rolle. In unserer Gesellschaft erinnern daran Bräuche, wie der Maitanz als kollektive Feier der Fruchtbarkeit oder Hochzeitstänze, die ebenfalls Fruchtbarkeit und Wohlstand des neuen Paares fördern sollten oder auch Kraft und Geschicklichkeit der Brautleute feierten. Im Gegensatz zu anderen Völkern geriet aber die rituelle Bedeutung und Zweckgerichtetheit der entsprechenden Körperbewegungen in den Kulturen des Westens infolge der Monopolisierung ritueller Macht durch die christliche Kirche in Vergessenheit und nur der Unterhaltungscharakter und emotionale, überwiegend kathartische Potentiale der unterschiedlichen Tänze bestimmten zuletzt ihr Überleben, Entwicklung und Neuformungen.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts begannen sich infolge der Auseinandersetzung mit dem Fremden verschiedene Künstler, Lehrer und Therapeuten der zunehmend brachliegenden sozialen und therapeutischen Bereiche des Rituals wieder vermehrt anzunehmen, indem sie tänzerische und virtuose Bewegung wieder bewusst für transformative Prozesse zu pflegen begannen. Ihre Aktivität betraf sowohl den kollektiven als auch den individuellen Bereich, wobei persönliche Geschichte, Vorlieben und Vorbildung der Künstlerinnen die Ausrichtung prägten. Rudof von Laban, der schon als Knabe mit den islamischen Derwischen tanzen durfte, entwickelte eine anhaltende Passion für das tanzende Kollektiv. Mary Wigman, seine Schülerin, die Spätberufene, entwarf bewegende Dramen der individuellen Transformation mit rituellen Anklängen, die durch Kostüm, Maske und die ihr eigene energetische Kraft erhöht wurden. Liljan Espenak, ausgebildet nach Carl Diem, Emile Jaques-Dalcroze und von Mary Wigman, wandte sich dem 'Ritual' der Heilung von Geisteskranken durch therapeutischen Tanz zu, das im Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv bis heute eine fruchtbare Entwicklung erfährt. Unter der Leitung von Piali Rai, einer indischen Emigrantin in Birmingham, lotet 'Sampad', eine hier bereits breit beschriebene Organisation für die Förderung südasiatischen Kulturguts, das soziale, pädagogische, kommunikative und integrative Potential indischen Ritualtanzes in der multikulturellen Umgebung Englands aus.

Der bewegungskünstlerische Dialog mit dem Fremden ist in vielfältiger Weise der Wiederentdeckung und Schaffung ritueller Räume, Kräfte und Mittel für den Westen dienlich. In Wien war der Tai Chi-Verein Shambala Wegbereiter für die energetisch orientierte medizinische Tradition des Ch'i Gong, die zur Zeit mit Workshops und Therapieangeboten boomen. Das Shivananda-Zentrum engagiert sich seit geraumer Zeit in Wien für die Verbreitung der indischen Tradition des Hatha Yoga. Die von Tucek in Wien gegründete Internationale Gesellschaft für Musikethnologische Forschung und Musiktherapie bettet ihr Ausbildungsangebot in das psychospirituelle System des Islam ein und lädt ihre Mitglieder auch zu Tanzriten aus der Tradition der Sufis ein. Ich glaube nicht, dass es eine Stärke solcher und anderer Schulen ist, sich - wie dies immer wieder öffentlich praktiziert wird - in erster Linie auf eine 'wissenschaftliche' Rationalität ihrer Methoden zu berufen. Hatha Yoga beispielsweise kann seine volle Wirkung nicht als bloße Kombination von Atemtraining und Gymnastik entfalten. Spirituelle Hingabe, innere Demut und jene innere Gelassenheit, die am unkompliziertesten über Glauben erreichbar ist. Religiöse Vereine, wie das hinduistische Shivananda-Zentrum in Wien tragen diesem Umstand besser Rechnung als Kurse, die von Yogalehrern gegeben werden, die keinen natürlich gewachsenen philosophischen Hintergrund aufzuweisen haben. Özelsel (1996:206) verweist im Rahmen ihrer Untersuchung über Tanzriten der Sufis ebenfalls mit aller Dringlichkeit auf die Notwendigkeit, die Authentizität des religiösen Hintergrundes von ritualtherapeutischen Praktiken zu wahren:

Viele dieser Techniken wirken durch 'rituelle' Rationalität, eine Leistung sinnlicher und emotionaler Intelligenz, die auf Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmung, Emotionalität, Vorstellungskraft und Physis aufbaut, und bezeugen m.E. in erster Linie die Notwendigkeit und Bedeutung ritueller Raum-Zeit für die Heilung und Pflege des Menschen. All die Reiki-, Kundalini-, Huna- und viele anderen sogenannten 'energetischen' und aus dem fernen Fremden importierten und adaptierten Körper-Geist-Therapien der New Age-Bewegung sind ihrem eigentlichen Wesen nach Bewegungsrituale, die sich aus konzentrativer innerer und körperlicher äußerer Bewegung über ein rituelles Raum-Zeit-Kontinuum hindurch konstituieren.

Wissenschaftlichkeit oder auch ein bloßer Anschein von 'wissenschaftlicher' Rationalität werden im Westen oft in erster Linie für das kommerzielle Bestehen auf dem Markt der Therapien missbraucht. Sind die angewendeten Techniken aus der Fremde eindeutig auf Krankenbehandlung ausgerichtet, wird diese Art von Wissenschaftlichkeit vielerorts auch von offiziellen Stellen nicht nur gefördert, sondern geradezu verlangt, will man nicht in einen Bereich der illegalen Kurpfuscherei verdrängt werden. Oft genug wird damit - wohl auch im Bereich konventioneller Medizin - eine Art von vereinfachendem und spekulativem 'Wissen' postuliert und weitergegeben, das einer kritischeren Überprüfung nicht standhalten könnte. Wenn man die Bedeutung von Erklärungsmustern auf das Erleben des Erklärten in Betracht zieht, muss das solcherart produzierte Ideenmaterial als recht unberechenbares Ingredienz des 'Zaubertopfes' eines therapeutischen Rituals erscheinen.

Auch gängige ärztliche Konsultationen und Spitalsbehandlungen weisen rituelle, transformative und Bewusstseinsverändernde Aspekte auf, deren Leugnung ihrem konstruktiven Einsatz bloß entgegensteht. Die Untersuchungen, Artikel und Bücher zu der performativen Rolle des Arztes beschäftigen sich an zentraler Stelle mit Fragen der Kommunikation und der Machtstellung in dem Verhältnis zwischen Patient, Arzt und anderen Unterstützern (Baer 1987; DiGiacomo 1987, 1992; Fisher & Todd 1983; Good 1990, 1991, 1993; Good et al. 1990; Kleinman 1980; Romanucci-Ross et al. 1983; Zerubavel 1981; zuletzt u.a. Biesele & Davis-Floyd 1996), aber auch mit dem rituellen Prozedere der Heraushebung des Krank- seins aus den alltäglichen Raum-Zeitstrukturen, der Materialisation der Ideologie des kartesianischen Dualismus von Geist und Körper und dem damit einhergehenden technokratischen ärztlichen Rollenverhalten, indem Mystifizierung durch die Verweigerung von Informationen dem Patienten gegenüber an der Tagesordnung stehen (Zerubavel 1981, Konner 1987, Stein 1990, Biesele & Davis-Floyd 1996). In einem Prozess des Widerstands gegen die Unmenschlichkeiten eines derart verleugneten Ritualaspekts, haben holistisch orientierte medizinische Praktiker verschiedenster Herkunft sich um die Restrukturierung eines bewusster anzuwendenden performativen Modells bemüht, in erster Linie, indem sie der Frage nachgingen, auf welche Weise symbolische Analysen den Weg zu neuen dynamischen Anwendungen der Macht der Symbole und des Dramas zu ebnen vermögen (z.B. Cousins 1979, 1989; Siegel 1996; Simonton et al. 1980). Biesele und Davis-Floyd (1996: 295f) schreiben über diese alternativen Mediziner:

Die beiden Autoren berufen sich in ihrem Vergleich auf Katz (1982), dessen Bericht über die kollektiven Heilriten der !Kung ebenso wie andere und auch ihre eigenen Untersuchungen bei diesem westafrikanischen Stamm in ihre Arbeit über die Ambivalenz der rituellen Rolle des Arztes als Todesbote und/oder Retter vom Tod einfließen.

Das Vorhandensein einer Wechselwirkung zwischen psychophysischer innerer und organisch-motorischer äußerer Bewegung ist durch Tanztherapeutinnen und -therapeuten verlässlich dokumentiert und belegt worden, doch herrscht bei den Berichten über die genaue Beschaffenheit dieser Wechselwirkung berechtigte Vorsicht vor und vielfach ist auf die Notwendigkeit therapeutischer Intuition hingewiesen worden. Einige von ihnen haben es sehr wohl verstanden, die heilende Qualität einer rituellen Raum-Zeit für ihre Klienten bewusst nutzbar zu machen, doch sperrt sich diese Ebene aufgrund ihrer sinnlichen Erlebnisqualität in vieler Hinsicht gegen konventionelle wissenschaftliche Aufarbeitung, vor allem, da hier ein fundiertes Instrumentarium an Begriffen und auch eine breitere Akzeptanz an gewissen, empirisch feststellbaren Phänomenen, die in den ungesicherten Bereich des sog. 'Paranormalen' verwiesen werden, noch kaum hergestellt sind.

 

 

Interkulturelle Tanztherapie im Unterrichts-, Sozial- und Gesundheitswesen

Tanz in Sozialarbeit und Pädagogik in Großbritannien. Finanzierung und Kulturpolitik für Tanz im Unterrichtswesen innerhalb der Europäischen Union.

 

Die psychosoziale Rolle des Tanzes war im Westen im Verlauf der Geschichte vielen Wechselfällen ausgesetzt. Wenn Tanz heute wieder als eine Aktivität gewürdigt wird, die Gesundheit und Wohlbefinden fördert, so steht dies im Zusammenhang mit einer generellen Veränderung der Einstellungen zum Körper und zu den Künsten, die in diesem Jahrhundert stattgefunden hat. Die Integration von Tanz in das erzieherische Ideal ist auf die Erkennbarkeit seines positiven Einflusses auf Kunsterziehung und Körpererziehung zurückzuführen. Zusätzlich zu dieser generellen Feststellung kommen eine Reihe von psychologischen Prozessen in Betracht, die während des Tanzes stattfinden und die seine Integration in die Unterrichtsarbeit angeraten erscheinen lassen. Die analytischen Ebenen auf denen diese Prozesse erkennbar sind, werden von Roubaud, basierend auf den Arbeiten von Clarkson und Skrinnar (1988), Dulicai und Biggins (unpubl.), Hanna (1979a), Humphrey (1987), Roubaud (1992) und Serre (1976), wie folgt zusammengefasst:

  1. Auf der Ebene der Psychophysiologie: Untersuchungen am Gehirn des Menschen beweisen, dass Tanz sowohl kognitive als auch emotionale Prozesse beinhaltet: Tanzaktivität involviert beide Gehirnhälften und erlaubt eine bessere Nutzung der Gehirnkapazität, während das meiste traditionelle Lernen linkshemisphärischer Natur ist.
  2. der Entwicklungspsychologie: frühe motorische und sensorische Erfahrung ist für die Konstruktion der emotionalen, relationalen, kognitiven und instrumentalen Fähigkeiten des Kindes von fundamentaler Bedeutung. Der menschliche Geist entwickelt sich vom Sensorischen und Konkreten hin zum Abstrakten. Dieser Prozess baut stark auf Körperaktivitäten auf. Tanzaktivitäten können diese Art von Lebenssituationen fördern und dadurch zu jenen Entwicklungsprozessen beitragen aus denen mentales Leben erwächst.
  3. der Kreativität: Da sowohl Vorstellungsfähigkeit als auch Geschicklichkeit miteinbezogen werden, bietet Tanz ein effektives Mittel um originelle Lösungen eines Problems zu suchen und auszudrücken. Kreativität bedeutet generell neue Ordnung für unstrukturiertes Material zu finden oder eine originelle Reorganisation angelernter Schemata. Die Suche nach neuen Formen verlangt eine Projektion der ganzen Persönlichkeit. In diesem Sinn öffnet eine kreative Haltung Wege zur Intelligenz. Darüber hinaus ist sie auch Quelle menschlicher Zufriedenheit.
  4. der Psychodynamik: Unbewusste Prozesse und Inhalte äußern sich über symbolische Prozesse. Die Aneignung tänzerischer Fähigkeiten ermöglicht die nonverbale Kommunikation persönlicher Bilder, Gefühle und Ideen und ist so ein Mittel psychodynamische Faktoren und die Symbolisierung unbewusster Inhalte zu aktivieren.
  5. der Kommunikation: Tänzerische Kommunikation beinhaltet multisensorische Kanäle. Bewegung ist auch der primitivste Kanal der Kommunikation, die Matrix, aus der sich die Befähigung zu Unterscheidung, Interpretation und Ausdruck kognitiver und emotionaler Informationen herausbildet. Selbstanpassung und -kontrolle hängen vom korrekten Gebrauch und Verständnis kommunikativer Signale ab. Tanz fördert Wahrnehmung und Ausdruck nichtverbaler Zeichen und in der Folge auch Gebrauch und Regulierung nichtverbaler Kanäle der Kommunikation.

 

Daraus folgt, dass Tanz unter günstigen Bedingungen in einmaliger Weise zur sozialen, emotionalen und kognitiven Regulierung des Selbst betragen kann. Tanz bietet die Möglichkeit der Replikation von Entwicklungsprozessen und kann deshalb sowohl pädagogisch als auch therapeutisch, aber auch als Diagnosemittel wertvolle Dienste leisten. (Roubaud 1994b:20-21)

Im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Ost und West entstanden im Westen neue Nischen für Tänzer, da diese die bis dahin vernachlässigten therapeutischen Bereiche des Tanzes wiederentdeckten, jene Bereiche, die in erster Linie durch die Profanation des Tanzes im Westen in den Hintergrund gedrängt worden waren. Die ersten Anfänge der Tanztherapie standen in Zusammenhang mit der Wiederentdeckung rituellen Tanzes. Dabei wurde die kurze Geschichte der Tanztherapie im Westen eng an jene des Ausdruckstanzes gekoppelt. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit von Körper, Seele und Geist gelangten viele Menschen zum Tanz außereuropäischer Länder (Wangenheim 1989:63). Sie fanden hier ein verschüttetes Lebensgefühl, eine Verbindung 'zwischen Kopf und Bauch' oder auch anderer Kräfte wieder. Während die Entdeckung außereuropäischer Tänze verschiedene Richtungen des euroamerikanischen Tanzes hervorbrachte, welche 'oriental dance', 'tribal dance' oder 'ethnic dance' genannt wurden, die den Deutschen Ausdruckstanz und den amerikanischen Modern Dance entscheidend prägten, entstanden unmerklich die ersten Vorläufer und Elemente der Tanztherapie durch die Auseinandersetzung mit den Bewusstseinsverändernden Wirkungen von Tanz und Bewegung. Die englischen und amerikanischen Schülerinnen dieser neuen Tanzrichtungen wurden zu den ersten Tanztherapeutinnen, die vor allem im psychiatrischen Bereich wirkten.

Rudolf von Laban gilt als einer der wichtigsten Begründer des Deutschen Ausdruckstanzes und als eigentlicher Begründer des Modern Educational Dance (Laban 1989:245). In England war der Weg zur Einbindung von Tanz in die öffentlichen Lehrpläne durch die schwedische Turnlehrerin Martina Osterberg geebnet worden, die bereits in den 1880ern Tanz an staatliche britische Schulen brachte. Um 1909 wurde Tanz dann als Bestandteil der Körperertüchtigung im ersten staatlichen Lehrplan Großbritanniens festgelegt. Labans Werk "Modern Educational Dance" wurde 1948 herausgegeben und war bald das Handbuch der englischen Lehrer. Sein Ansatz ersetzte die Betonung auf Körperertüchtigung durch eine Ausrichtung auf Kreativität und Ausdruck. Laban schloss hierin an das Konzept des Central European Dancing der Dreißigerjahre an, der bereits die Möglichkeit angedeutet hatte, Kindern durch Tanz Gelegenheit zu Ausdruck und Kommunikation ihrer eigenen Ideen in einer ihnen gemäßen Weise zu bieten. Er begründete 1943 sein Art of Movement Studio, das sich zum bis heute bestehenden Laban Centre for Movement and Dance in London weiterentwickelte (Bannerman & Sidall 1994:3). Laban hat unter der maßgeblichen Mitarbeit von Ann Hutchinson-Guest in Großbritannien die Labanotation entwickelt (Huxley 1985, Laban 1955). Dieses System sowie ihr Effort-Shape Konzept erlangten auch in der Tanztherapie große Bedeutung.

Laban interessierte sich für viele außereuropäische Tanzstile, empfand aber besonders asiatische Tänze als außerordentlich moralisch und aussagekräftig, wobei er die geradezu sprachnahe Beredtheit des chinesischen Tanzes hervorhob, den er in Amerika kennen gelernt hat (ibid.: 164-167). Laban wurde in seiner Jugend von einem Imam in einen türkischen Derwischorden initiiert, indem er die läuternde und psychisch erhebende Kraft religiösen, ekstatischen Tanzes erfahren durfte. Rudolf von Laban kommentierte 1935 in seiner Autobiographie den Zusammenhang zwischen Tanz, Ekstase und Unverwundbarkeit, den er in den Riten der Derwische selbst beobachten konnte (ibid: 69). Der Kontakt zu den Derwischen hatte einen anhaltenden Einfluss auf Labans Vision vom Tanz (ibid.: 232) und seine pädagogische und therapeutische Intentionen.

Innes (1981:51f.) erklärt in seinem Buch "Holy Theatre" die ritualiserenden und therapeutischen Aspekte des Deutschen Ausdruckstanzes: Während Dalcrozes Bewegungssystem, die Eurhythmie, auf die Übersetzung von durch musikalische Rhythmen hervorgerufenen Emotionen in Haltungen und Gesten beruhte, reduzierte Labans Eukinetik alle Bewegung auf Gegensatzpaare stilisierter Formen - z.B. zentripedal oder 'sammelnd' versus zentrifugal oder 'ausstreuend'. Indem sie auf ihre essentiellen Elemente reduziert wurden, brachten solche Bewegungen starke archetypische Assoziationen hervor. Die Tanzgruppe, die Laban gründete, um seine Ideen zu demonstrieren, wiederholte Variationen dieser 'reinen Formen' (pure shapes), um klar definierte Emotionen wie Ärger, Freude, Liebe oder Furcht auszudrücken, bis jener Punkt erreicht war, an dem alle Tänzer das Stadium einer 'universellen Feierlichkeit' (universal celebratory state) erreichten. Sowohl die Zweckorientierung der Aufführung als Therapie für die Ausführenden als auch die Abstraktion des physischen Ausdrucks auf universelle Formen führten zu einer Form von modifiziertem ekstatischem Verhalten. Die Anwendung repetitiver rhythmischer Bewegung zur Erzielung eines hypnotischen Effekts, welche emotionale Stadien bis zu jenem Punkt erhöhen, an dem die subjektiven Ausrichtungen sich ins Archetypische wandeln, die so klar in dieser Art von Tanz zu Tage tritt, illustriert sowohl das ritualisierende Prinzip im expressionistischen Theater als auch im Ausdruckstanz, die in naher Beziehung zueinander standen.

Mary Wigman, deren Dresdner Tanzschule bereits 1920 Aufsehen erregte, entwickelte die Labanschen Prinzipien weiter. Innes (ibid: 53) führt aus, wie sich der Wigmansche Stil von jenem des klassischen Balletts abhob: Die Choreographie des klassischen Balletts ist allegorisch, von hoch konventionalisiertem Ausdruck der Gefühle und Aktionen von Figuren, die mehr von den Tänzern repräsentiert als dargestellt werden. Es gibt keinen Raum für Improvisation. Der Fokus der Ballerina richtet sich auf eine Ebene ästhetischer Harmonie, die Illusion des mühelosen Sicherhebens über physische Grenzen, was einer Identifikation mit den dargestellten Charakteren weiter abträglich ist. Demgegenüber basierten Wigmans tanzdramatische Sequenzen auf der Spannung zwischen Streckung und Kontraktion und entwickelten sich als Gruppenimprovisationen. Um die Intensität persönlicher Emotion zu demonstrieren, wurde die physische Anstrengung betont statt verborgen. Die Tanzschritte wurden auch nicht durch externe musikalische Begleitung orchestriert, sondern schufen sich ihre eigenen ausdrucksvollen Klangmuster, durch den Rhythmus, den sie auf den Boden stampften oder auch durch Trommelschläge, die - ähnlich wie etwa auch im singhalesischem Tanz - dem Rhythmus der Tänzer zu folgen hatten. Diese Rhythmen wiederholten nicht nur den Herzschlag der Tänzer, sondern halfen eine korrespondierende Pulsfrequenz im Publikum zu erzeugen. Diese Betonung der subjektiven Authentizität führte auch zu einem Fehlen von Charakterisierungen. Innes (ibid.) zitiert verschiedene kontemporäre Zeitungsberichte, die belegen, wie verblüfft die Zuseher durch den tranceartigen oder schlafwandlerischen Eindruck, den die Wigman-Truppe vermittelte, waren. Es war dies ein Eindruck der ebenso durch eine 'nervöse Energie' vermittelt wurde, "die an Halluzination grenzte", wie durch die fixierten Augen und maskenartige Starre der Gesichter der Truppe.

Positive Kritiken bezeichnen den Ansatz der Wigmanschule als 'liturgisch', ablehnende als 'barbarisch' (Innes 1981:54). Das Gesehene wurde als 'Visionen und gespenstische Obsessionen eines Alptraums' bezeichnet. Beschreibungen der 'krampfartigen Gewalt' dieser Vorführungen betonen auch die totale Absorption der Tänzerin und die Abwesenheit von Täuschung, Qualitäten, die sich gleichermaßen auch auf den expressionistischen Schauspieler erstrecken, da die Bewegungen und Gesten eng mit denen des ekstatischen Schauspielstils korrespondieren (ibid.: 53). Diese Art von Tanz identifiziert emotionale Intensität mit religiösem Glauben. Mary Wigman betrachtete Ekstase als unverzichtbaren Bestandteil ihrer Tanzdarbietungen (Hanna 1983:39). Sie benützte Ekstase um Trancebewegungen und mystische Rituale tänzerisch darzustellen und zu erforschen. All dies trug ihr bezeichnenderweise im Nazideutschland 1935 den Vorwurf ein, sie würde "rassenfremde Kunst" betreiben (Müller & Stöckemann 1993:156,160). Als Mary Wigman 1928 ihr Londoner Debüt gab, war dies der Anfang eines Zustroms zahlreicher moderner Tänzer aus Deutschland und Österreich nach Großbritannien, von denen einige blieben, um dort als Lehrer und Tänzer zu arbeiten. Erst ab den 60er Jahren gab es für diesen Deutschen Tanz in England Konkurrenz.

Leicht hätten der deutschsprachige Raum die moderne Tanztherapie hervorbringen können, wenn dies nicht durch den Faschismus verhindert worden wäre. In Europa fiel stattdessen England die Vorreiterrolle im Bereich der Tanztherapie zu. England weist darüber hinaus bis heute weltweit die höchste Integration von Tanz in das Bildungs- und Sozialwesen auf. Zu dieser Entwicklung kam es in erster Linie, weil in der Wiege des Ausdruckstanzes, in Deutschland, seine besten Proponenten durch den Faschismus zur Auswanderung gezwungen oder im Falle ihres Verbleibs im Lande als 'entartete' Künstler verfemt wurden. Kurt Jooss, Sigurd Leeder und ihre gesamte Kompanie hatten in Essen die Aufmerksamkeit der Nationalsozialisten auf sich gezogen. Die Truppe wurde 1934 zur Emigration nach England gezwungen. Jooss (1901-1979) begründete 1928 das Folkwang- Tanztheater-Studio in Essen. Rudolf von Laban genoss lange Zeit unter dem Hitlerregime eine für heutige Sicht beschämende Popularität. Erst 1936 zog er sich mit seinen Plänen zu dem Bewegungschor "Vom Tauwind und der neuen Freude" während der Proben zu den olympischen Festspielen in Berlin Goebbels Ungnade zu. Kurt Jooss holte 1938 Rudolf von Laban aus Paris, wohin dieser sich vor den Nationalsozialisten geflüchtet hatte, nach England. 1947 fanden die Ballets Jooss in der Dartington Hall im englischen Devon und später in Cambridge ein neues Zuhause. In Dartington traf Laban auf eine frühere Schülerin und ehemalige Lehrerin der Folkwangschule, Lisa Ullmann, die nun an der Jooss-Leeder-Schule Unterricht erteilte (Huxley 1985:35, Partsch-Bergsohn 1994: 138-141, Stöckeman 1992:120f). Ihrer beider Tätigkeit hat die Weiterentwicklung des deutschen modernen Tanzes und des pädagogischen und therapeutischen Tanzes in Großbritannien viel zu verdanken. Dank Labans enormer Erfahrung und der aufopferungsvollen Unterstützung von Ullmann gelang es rasch, Tanz im Bereich des Erziehungs- und Sozialwesens in England fest zu etablieren. Die Entwicklung mündete in der Gründung einer Organisation, die sich Labans Arbeit widmete, The Laban Art of Movement Guild. Bis heute ist das Laban Centre for Movement and Dance, das heute in London stationiert ist, eine Institution von großem Einfluss auf das englische Tanzgeschehen.

Die Tanzarbeit der Graham, der Wigman und anderer Vertreter des Modern Dance und des Ausdruckstanzes kreiste um die Aufarbeitung und Lösung von psychischen Konflikten. Und auch die ersten Tanztherapeutinnen waren Schülerinnen und Mittänzerinnen der großen Ausdruckstänzer und -tänzerinnen ihrer Zeit. Liljan Espenak war eine Schülerin der Wigman, war aber auch ausgebildet nach Dalcroze und Diem. Ihre spätere Arbeit in Amerika mit neurotischen, psychopathischen und geistig retardierten Patienten war beEinflusst von Adlers Individualpsychologie (Pesserer 1988: 47). Doch schon vor ihr wurde Marian Chace, eine ehemalige Tänzerin der amerikanischen Tanzgruppe Denishawn - die Truppe der beiden großen Protagonisten "orientalischen Tanzes" Ruth St. Denis und Ted Shawn - vielleicht die Pionierin der Tanztherapie überhaupt (Pesserer 1988: 44). Sie war Schülerin des Neo-Freudianers Harry Stack Sullivan und betonte weniger die gängige psychoanalytische Trieblehre als die Bedeutung der Gruppe für die Persönlichkeitsentwicklung (Hörmann 1993:24).

Das folgende Zitat von Chace deutet einiges davon an, was in Bezug auf die therapeutische Wirksamkeit von Tanz allgemein gesagt werden kann, verweist andererseits aber auch auf die Grenzen der Vergleichbarkeit westlicher Tanztherapie und östlicher therapeutischer Riten:

Westliche Tanztherapie benützte seit ihrer Entstehung in den Vierzigerjahren in Amerika von Anfang an die entlastende und sozialisierende Wirkung darstellender Improvisation und konventioneller einfacher Tanzaktivität. Das tanztechnische Moment hat oft nur insofern Bedeutung als es zwanghafteren Patienten ermöglicht, die Hürde zur tiefen emotionalen Öffnung im Tanz leichter zu überwinden. In erster Linie wird immer wieder das aktive Ausagieren von Erotik, Aggression und Ekstase durch Tanz in sublimierter und sozial akzeptabler Weise als erreichbares Ziel der Tanztherapie genannt. "In sozial akzeptabler Weise" soll hier nur als Andeutung für die reich dokumentierte und vielfältige sozialisierende und resozialisierende Wirkung der Tanztherapie stehen.

Das therapeutische Szenario der südasiatischen Tanzriten besteht hingegen häufig darin, dass zusehenden Patienten Bewusstseinsveränderungen, körperliche Reaktionen, kathartische, emotionale und läuternde Erlebnisse sowie sinngebende ideologische Interpretationen durch technisch virtuose und hochspezialisierte Tänzer und Trommler verschafft werden. Die Patienten werden nicht immer selbst als Tänzer aktiv und wenn, so häufig nur zu zeitlich begrenzten Höhepunkten des Rituals. Das unterscheidet diese Riten auch von bestimmten Heiltänzen westafrikanischer Prägung, wie sie Diallo (Diallo & Hall 1989) beschreibt, in denen virtuose Trommler, die auch psychologisch geübt sind, ihre Patienten mit einfühlsamen Rhythmen zu heilenden Tanzimprovisationen bewegen. Diese Art der afrikanischen Musik- und Tanztherapie steht in einigen Aspekten westlicher Tanztherapie näher als südindische oder srilankische Formen. Sie ist auch geringer mythologisch dramatisiert. Es sind zum Beispiel keine maskierten oder kostümierten, speziell ausgebildeten Ritualtänzer, auf die die therapeutischen Funktionen des Charaktertanzes übertragen werden, welche das Erkennen der eigenen Schwächen, die kathartische Entladung der hemmenden Emotionen u. dgl. betreffen. Vielmehr tanzt sich der Patient selbst gesund über die sinnliche Anleitung durch den Trommelrhythmus, ein Prozess, der vorerst nicht notwendig von zusätzlicher Rationalisation außerhalb dieses unmittelbaren Geschehens begleitet wird. Solche Abläufe sind natürlich besser als höher mythologisch dramatisierte und dadurch kulturell geladene Riten dazu geeignet, in westlichem Kontext fruchtbar angewandt zu werden. Nichtwestliche Tanzriten gehen im allgemeinen davon aus, dass es notwendig ist, mit Göttern, Geistern und Dämonen auf ungewöhnliche Weise zu kommunizieren. Die westliche Tanztherapie geht in der Regel davon aus, dass es notwendig ist, mit Geistes- kranken und psychisch Labilen durch ungewöhnliche Mittel zu kommunizieren (Grotjahn 1938: 317). Dies vor allem, um social responsiveness (Rosen 1957: 3) zu initiieren. Wo die Art dieser Kommunikation am direktesten körperlich ist und wo die begleitenden Ideologien auf dem allgemeinsten Niveau funktionieren, wird sie zwischen den Kulturen am leichtesten übertragbar sein. Wo sich indes wie bei den religiösen Riten des afrikanischen Vodoo oder bei den Exorzismustänzen Sri Lankas ein reicher ideologischer Überbau in Ausstattung, in den Inhalten und im Bewegungsrepertoire ausdrückt, wird ein genaues Studium der Religion und Vorstellungswelt erforderlich werden, um aus den Riten einen möglichen therapeutischen Nutzen auch für Angehörige anderer Kulturen ziehen zu können.

Die moderne Tanztherapie hat sich von den Exotismen der Anfänge des "Modern Dance" ebenso rasch wieder losgesagt wie von seinem Mystizismus, aber auch von seiner Spiritualität. Im Westen vertragen sich Religion und Tanz schon seit dem Mittelalter nicht mehr so gut miteinander. Dennoch werden bis heute gerne Elemente außereuropäischer und ritueller Tanzkunst, wie etwa trancefördernde Afrorhythmen zur Erzeugung der notwendigen Spontaneität, genützt. Und die relativ große Bedeutung von C.G. Jung in der Arbeit der amerikanischen rezenten Tanztherapie verweist auf den nach wie vor vorhandenen Anteil asiatischen Denkens (Clarke 1993) an den Heilerfolgen in Therapie und Ätiologie der Tanztherapie.

Heute beziehen über die Arbeit asiatischer Emigrantinnen hinaus zahlreiche euroamerikanische Tanztherapeuten in verschiedenen Ländern asiatische Bewegungs-, Konzentrations- und Atemtherapien bewusst mit ein. Ein besonderes Beispiel stellt hier die von Freud, Jung und Erik H. Erikson beeinflusste Arbeit von Fe Reichelt dar. Fe Reichelt ist in China geboren und aufgewachsen und hat nach mehreren Jahren Mitarbeit bei Mary Wigman und einem Studium der Sonder- und Heilpädagogik einen eigenen Ansatz der Tanztherapie entwickelt. Sie ist Tänzerin, Choreographin und Fortbilderin für Tanztherapie an der "Tanz- und Theaterwerkstatt" in Frankfurt am Main. Sie schreibt über ihre tanztherapeutische Arbeit:

Oft gilt das wissenschaftliche therapeutische Interesse des Westens an fremden Kulturen nicht so sehr den eigentlichen Heiltherapien, die auch aus emischer Sicht bedeutsam für die psychische und physische Gesundheit wären, sondern anderen fremdkulturellen Phänomenen und Situationen, wie z.B. religiösen Ritualen, Initiationen, Erzählen von Mythen, Formen des sozialen Zusammenlebens, etc. (Maschke 1996:74). Die Ethnopsy- chotherapie begründet dieses allgemeinere Interesse damit, dass sie nach Walter Andritzky (1990:15, 24) eine "Evaluation aller gesundheitsrelevanten Parameter einer kulturellen Lebenswelt" beinhaltet, und er spricht in diesem Zusammenhang von einer Vielfalt von "therapeutischen Funktionen von Kultur". Norbert Heckelei (1993:85) weist darauf hin, dass im Westen eine einseitige Anerkennung des sprachlichen Bewusstseins gegenüber dem übrigen Handlungswissen vorherrscht. So wird auch das Denken mit Sprache assoziiert und etwa bildhaftes Denken eher negiert. Zu Asien (und anderswo außerhalb der europäischen Einflusssphäre) passend, schreibt er:

Moderne Berufstänzer und Choreographen engagieren sich in vielfältiger Weise für psychotherapeutische Belange, wie die Beherrschung und Transformierung der Psyche der Tänzer und Zuseher, die Erzeugung veränderter Bewusstseinszustände oder die Kritik an krankmachenden Aspekten der Gesellschaft. Dies drückt sich unter anderem auch darin aus, dass in die Lehrpläne von Tanz- und Bewegungskunstschulen vermehrt Techniken zur Manipulation des Bewusstseinszustandes aufgenommen werden. Der ungarische Bewegungskünstler Pál Regösz nennt seine Workshops beispielsweise: "Bewusste Körper- und Psychotechnik". Im Informationstext zu seinen Workshops werden als zwei parallele Bereiche Körper- und Psychotechniken aufgelistet, die sich quantitativ die Waage halten. Eine wachsende Anzahl von zeitgenössischen Tänzern und Bewegungskünstlern befasst sich mit verschiedenen Methoden der Meditation, der Visionssuche oder anderen konzentrativen Techniken, die entweder aus außereuropäischen Kulturen übernommen wurden oder aber zumindest Inspirationen von diesen erhalten haben. Zugleich betonen Vertreter der modernen Tanztherapieforschung, wie z.B. Norbert Heckelei, die Notwendigkeit der Akzeptanz von Bewusstsein außerhalb des Sprachlichen, die Existenz von Wissen jenseits von Sprache. Er schreibt weiters:

Meine Forschung innerhalb des Umfelds von südasiatischer Tanztherapie in England (128) brachte einen interessanten Aspekt zu Tage: Südasiatische Tanztherapie ähnelt im britischen Umfeld mehr euroamerikanischen Methoden als asiatischen. Signifikant ist dabei nicht nur ein Verzicht auf die spezifische religiöse und kulturelle Geladenheit des verwendeten südasiatischen technischen Materials, welches für die sozial- und psychotherapeutische Arbeit mit verschiedenen ethnischen Gruppierungen verwendet wird. Es wird auch kaum das therapeutische Potential der künstlerischen und ästhetischen Besonderheiten südasiatischen Tanztheaters ausgeschöpft. Es sind in erster Linie Folkloreformen und einfache soziale Tänze, die nach westlichem Vorbild therapeutisch genutzt werden. Die therapeutischen Besonderheiten südasiatischen Kunst- und Ritualtanzes kommen im Ausland nur jenen zugute, die südasiatischen Tanz außerhalb der modernen tanztherapeutischen Anwendungen im Unterricht durch traditionsverbundene Tanzlehrer und Institutionen erlernen. Ein Beispiel für diese Art von Unterricht findet sich in der Arbeit der ältesten Organisation für kulturelle Repräsentation Indiens in England, dem Bharata Vidiya Bhavan in London. Diese Organisation hat ihren Hauptsitz in Indien und verfügt über zahlreiche Zweigstellen in England sowie andere in Amerika und Spanien. Seine Arbeit ist im Vergleich zu den neueren Organisationen in erster Linie konservativ, d.h. Ziel der Institution ist vor allem die möglichst authentische Bewahrung und Förderung indischer künstlerischer Traditionen in England. Diesem Zweck dienen häufige Einladungen indischer Kunstexperten zu Vorträgen an den verschiedenen Zweigstellen des Instituts ebenso wie die Offenhaltung der Institution gegenüber allen Altersklassen, Konfessionen und ethnischen Gruppierungen. In diesem Rahmen werden unter anderem auch Tanzunterricht und Theaterklassen in dem Londoner Sitz der Organisation angeboten. Darüber hinaus werden Vorträge und Lehrdemonstrationen sowohl für die Medien als auch für Schulen und Universitäten organisiert, deren Inhalte sich strikt an den indischen Traditionen orientieren. Das offenste interdisziplinäre und interethnische Betätigungsfeld scheint die Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten innerhalb des Institutsgebäudes für Gastvorträge über alle Themen, auch über moderne und Grenzgebiete indischer Kultur zu sein. Dies ist somit die Nische, die dem gesellschaftlichen Wandel und der Auseinandersetzung mit der Gegenwart im Bharata Vidiya Bhavan eingeräumt wird. Die Konservativität des Unterrichts ermöglicht es indes, aus dem Fundus thera- peutischer Vorzüge indischen Tanzes, wie zum Beispiel der Förderung von emotionaler Wahrnehmung durch virtuosen emotionalen Körperausdruck, der Erfahrung von Transsexualität über körperlichen Ausdruck, der Förderung meditativen Erlebens durch spezielle Geist/Körper-Techniken, alltäglicher Spiritualität usw. vollen Nutzen zu ziehen.

Für die Londoner Schüler kommt auch noch die Erzielung einer "ästhetischen Distanz" - um Scheffs (1979) Begriff hier in einen neuen Zusammenhang zu stellen - zur europäischen Kultur hinzu, die es besonders Leuten mit generellen soziokulturellen Anpassungsschwierigkeiten ermöglicht, psychische Erleichterung zu finden. Solche Men- schen erhalten ein alternatives kulturelles Orientierungsmodell, in das sie gelegentlich aus der Enge des europäischen Modells entfliehen können. Einige Europäer, die sich über längere Zeit mit indischer Kultur auseinandersetzen, werden die eigene Kultur vielleicht auch wieder 'mit gnädigeren Augen' sehen, wenn sie die spezifischen Beschränkungen des indischen 'Alternativmodells' erlebt haben. Das ganzheitliche Erleben der Relativierung von Normen durch unterschiedliche Kulturerfahrung erweitert das Potential des Einzelnen, seine generelle Toleranz, seine Anpassungsfähigkeit und Selbstakzeptanz und kann das Auffinden des jeweils spezifisch eigenen Lebensweges und die Integration der Individualpersönlichkeit erleichtern.

Der Verlust therapeutischer Besonderheiten südasiatischen Tanzes in den modernen therapeutischen Anwendungsformen asiatischen Tanzes wurde auch durch die Vorträge und Diskussionen der Vinimay - Skills Exchange Conference, an der ich am 9.6.1995 in London teilnahm, bestätigt. Diese Konferenz bemühte sich in erster Linie um einen Wissensaustausch zwischen verschiedenen Richtungen innerhalb südasiatischer Tanzlehre und um den Vergleich mit westlichen Trainingsmethoden.

Die Geschichte der Auseinandersetzung westlicher Tanztherapie mit asiatischem Tanz ist ein beredtes Zeugnis der Veränderung grundlegender Einstellungen gegenüber dem Fremden, der langsamen Abkehr von einem Denken, das sich in den Klischees von 'Primitivität' oder 'Animalismus' bewegte. Irmgard Bartenieff, die Begründerin des Laban Institute of Movement Studies in New York, kann als Beispiel für eine Tanztherapeutin gelten, die ein anspruchsvolleres Interesse an asiatischen Bewegungstherapien, wie T'ai Chi oder Yoga, entwickelt hat (Bartenieff 1980: 143, 147f.). Auch das Laban-Centre in London übernahm hier Vorreiterrolle. Es war das erste Institut, das eine Tanzlehrerprüfung auf Hochschulniveau für asiatische Tänze in England einführte, gefolgt von der Surrey University, dem National Teaching Resource Centre und der London School of Contemporary Dance (Rea 1983: 3). Diese Entwicklung kann als ein Hinweis auf die Vertiefung der Auseinandersetzung des Ausdruckstanzes, des modernen Tanzes und der Tanztherapie mit außereuropäischen Formen verstanden werden.

 

 

Tanz in Sozialarbeit und Pädagogik in Großbritannien

 

Nach Laban übte die Arbeit von Robert Cohan, der die London Contemporary Dance Theatre and School 1966 begründete, einen weiteren wichtigen Einfluss auf die enge Verbindung von Erziehung und Tanzkunst in England aus. Er verbreitete die Initiative des Royal Ballet, "Ballet for All", indem er auf seine Erfahrungen in Amerika aufbaute. Cohan sandte Lehrer und Kompaniemitglieder seines Institutes zu anderen Tanzlehrerausbildungsinstituten um Technik und Choreographie praxisnah zu vermitteln und auch theoretische Auseinandersetzungen zu fördern. Auf diesen Erfahrungen aufbauend wurden dann education officers ausgebildet, die die erzieherische Arbeit seiner Kompanie betreuten (Bannerman & Siddall 1994:3).

Education officers, Spezialisten für den Erziehungsbereich, gibt es mittlerweile auch für nichteuropäische, für südasiatische und afrokaribische Tanzformen in Großbritannien. Heute ist für alle Tanzgruppen und Tanzorganisationen der Empfang von staatlichen Geldern aus den Mitteln des Arts Council an die Bedingung geknüpft, dass auch erzieherische Arbeit geleistet wird. Es gibt heute in Großbritannien ein funktionierendes Netzwerk von community dance workers, zumeist professionellen Tänzerinnen und Tänzern, die für die Entwicklung von Tanz an Schulen verantwortlich sind, die vor Ort Workshops für Laien anbieten, Weiterbildung für Tänzer und Gelegenheiten für junge Leute, ihre Interessen weiter zu entwickeln, zum Beispiel über Jugendtanztruppen, und die auch professionelle Tanzarbeit über Workshops und Aufführungen bewerben. All dies sind Schlüsselfaktoren, die dazu beitrugen, dem Tanz zu höherem Ansehen zu verhelfen und ihn im Bereich der Erziehung besser zu verankern. Dies schlug sich auch in der Gleichstellung von Tanz mit Turnen in den staatlichen Lehrplänen seit den späten 80er Jahren nieder. Jedes Kind im Alter von 5 bis 11 Jahren erhält so tänzerische Erziehung, und Tanz stellt in der Altersgruppe der 11- bis 16-jährigen ein Wahlfach dar, wodurch Tanz in Großbritannien auch in einen festen rechtlichen Rahmen eingebunden wurde (Bannerman & Sidall 1994:3f). Es stellt dies europaweit ein einzigartiges Wiederanknüpfen an jene zentrale gesellschaftliche Bedeutung dar, welche Tanz in den vor- und frühchristlichen Gesellschaften gehabt haben muss, und die dem Tanz in den meisten außereuropäischen Gesellschaften noch immer zukommt. Sozialisierende und therapeutische Funktionen des Tanzes konnten in Großbritannien in moderner und säkularisierter Form wieder aufleben. Schulen, Jugend- und Kulturzentren bieten dabei zumindest teilweisen institutionellen Ersatz für archaischere und ganzheitlichere rituelle Einbindungsformen von Tanz. Neue Formen und Varianten entstehen heute, die auch den neuen Bedingungen des multiethnischen postkolonialen Staates gerecht werden müssen.

Seit etwa einem Jahrzehnt wird der überwiegende Teil der sozialen, pädagogischen und therapeutischen Arbeit auf dem Sektor asiatischen Tanzes in England über indische Kulturorganisationen, die in England ihren Sitz haben, geleistet. Auf diesem Sektor spielen die Organisationen Sampad, mit Sitz in Birmingham, die Academy of Indian Dance, mit Sitz in London und auch die Kunstmanagement-Organisation ADiTi, von wechselndem Sitz, eine hervorragende Rolle. Sie alle sind an einer möglichst breiten Wirkung und auch Popularisierung südasiatischer Kunst und Kultur interessiert. Sie haben sich im Laufe ihres Bestehens eine Strategie erarbeitet, die in erster Linie aus der Nutzung möglichst vieler tänzerischer Möglichkeiten innerhalb des Sozial- und Unterrichtssektors in England besteht. Ihre Aktivitäten umfassen animatorische Arbeit mit Kindern indischer und nichtindischer Herkunft an Pflichtschulen oder in Judenzentren und in der Erwachsenenbildung ebenso wie Arbeit mit sogenannten special needs groups, Behinderten, aber auch mit Gefängnisinsassen, schwererziehbaren Jugendlichen, Alten, Nur-Frauen- oder Nur-Männer-Gruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Über die spezielle Ausrichtung ihrer Tätigkeiten hat sich ergeben, dass sich das Vermittlungsziel von künstlerischen Anliegen weg und zu pädagogischen und therapeutischen Zielen hin entwickelt hat.

So gab es auch schon vor dem Amtsantritt von Mira Kaushik an der Academy of Indian Dance eine Unterrichtsabteilung. Das ihr zugrundeliegende Konzept war aber bloß die Verbreitung klassischen indischen Tanzes an englischen Schulen. Erst 1990 wurde beschlossen, diesen Kurs aufzugeben und sich um eine Verbreitung der Aktivitäten zu bemühen, um deren Aktualisierung und Anpassung an britische Bedürfnisse, um die Berücksichtigung der durch die englische Gesellschaft geprägten persönlichen, erzieherischen und sozialen Erfahrung. Es ist dies die moderne Transformation alter sozialisierender und integrativer Funktionen des Tanzes. Doch waren die Traditionen des Bharata Natyam und auch anderer klassischer indischer Tänze immer an bestimmte Eliten und Spezialisten gebunden. So lernte die Mehrheit der indischen Töchter nicht klassische, sondern Volkstänze, jene Tänze, die in den jeweiligen Lokalgemeinschaften als Ausdruck gemeinsamer Identität gepflegt wurden. Erst im Zuge der Nationalbewegung wurde dann auch klassischer indischer Tanz als Erziehungsmittel verstanden, um gute Bürger, Mütter, Nachbarn etwa, innerhalb der Gesellschaft, innerhalb des bestehenden religiösen und sozialen Rahmens heranzubilden. Anstatt einer 'Kulturpolitik des Zeichensetzens', wenn etwa an allgemeinbildenden Schulen vereinzelte 'internationale Abende' organisiert werden, soll indischer Tanz zur permanent genutzten Quelle der Lösung erzieherischer oder sozialer Anliegen in England werden. Die folgenden Beispiele von Projekten der Academy of Indian Dance sollen einige Aspekte der Arbeit im Therapie-, Sozial- und Bildungswesen erhellen.

Das erste Projekt, das nach den neuen Richtlinien für den Bildungsbereich der Academy unter der Leitung von Tina Cockett entstand, hieß "Chipko". Cockett ist als englische Lehrerin ausgebildet, verfügt über praktische Erfahrungen mit dem Unterrichtssystem und mit sogenannten special needs groups, also mit Menschen, die spezielle Bedürfnisse haben, wie Behinderte, Alte oder Schwererziehbare. Sie revisionierte die Erziehungsarbeit mit asiatischem Tanz, um eine größere Relevanz für die Anwendung an englischen Schulen zu erreichen. Der erste Schritt dazu war die Wahl eines aktuellen Themas, das sich im Rahmen der Umweltkonferenz 1991 anbot: "Chipko", das Bäume-Umarmen, entstand als eine frauenspezifische Widerstandsbewegung gegen das Abholzen waldarmer Gebiete Indiens. Daraus ergaben sich Bezüge sowohl zu Umwelt- als auch zu Frauenfragen. Darüber hinaus wurden aber auch die Bereiche Geographie, Geschichte, Sprache und Kunsthandwerk durch dieses Unterrichtsprojekt angesprochen. Obwohl eine tänzerische Gestaltung des Stoffes durch Schüler allgemeinbildender Schulen im Zentrum des Unterrichtsprojektes stand, bot es nicht primär Tanzunterricht, sondern beinhaltete ein fächerübergreifendes Unterrichtspaket, dass Lehrern erfolgreich zum Ankauf angeboten werden konnte.

Traditioneller orientierte indische Tänzerkreise Englands werfen diesem Projekt und auch den Nachfolgeprojekten vor, dass sie zuwenig "indisch" sind, zu wenig auf südasiatische kulturelle Besonderheiten eingehen. Es stellt sich hier die Frage wie Multikulturalität als Unterrichtsauftrag verstanden werden soll. Gegner der Linie, die von Instituten wie der Academy vorgegeben wird, beharren darauf, dass Multikulturalität nicht durch Universalismen ersetzbar ist, dass multikulturelle Projekte nicht in einer Suche nach den westlichen, weißen oder englischen Kulturbildern in der fremden Kultur enden dürfen. Multikulturalität bedeute vielmehr Differenzen anzuerkennen und zu dulden, ganz bewusst zu versuchen, über das Andere und Fremde zu unterrichten, so dass am Ende die Kinder der Schwarzen, der Moslems, der Südasiaten oder der Weißen an den Schulen Englands mehr über eine besondere Kultur wüssten. Es wird nicht erwartet, dass sie nun dieser Kultur in irgendeiner Weise folgen, erstrebt ist aber eine umfassende Erfahrung. Doch für einige Eltern und Politiker stellt ein solches Erfahrungsangebot bereits eine Bedrohung dar. Es wird berichtet, dass Klagen vor Gericht eingebracht wurden, weil weiße Kinder, die als Teil tanztechnischer Terminologie indische Zahlworte gelernt hatten, heimkamen und vor ihren Eltern auf Punjabi zählten. Daraufhin hätten einige Eltern empört reagiert und verlangt, dass Sprach- fragmente des Punjabi kein Teil moderner Bildung sein sollten.

Ein zweiter Kritikpunkt wirft den 'Tanz im Unterricht'-Projekten im südasiatischen Kontext generell vor, dass eine Tendenz besteht, südasiatische Tänzer als bloße Exotika in den englischen Unterricht einzuplanen, insbesondere wenn sie mehr eine ganzheitliche kulturelle Erfahrung vermitteln sollten, als eine anspruchsvolle Tanzkunsttechnik vorzustellen. Andrée Grau (1997:58) stellt in diesen Zusammenhang, dass von einigen Tänzerinnen eine Kochdemonstration indischer Küche erwartet wurde, und sie fährt fort:

Das zweite Projekt der Academy of Indian Dance zu südasiatischem Tanz im Unterricht war "River Journey", in dem mittels tänzerischer und bildnerischer Animation an allgemeinbildenden Schulen unter anderem ökologische und geographische Kenntnisse über die Bedeutung von solch großen Flüssen wie dem Ganges, über indische Ornamentik und über mathematische Prinzipien indischer Musik vermittelt wurden, während die eigentliche Tanzaktivität nur bescheidenste Grundkenntnisse in einigen Bewegungsweisen des indischen Tanzes lehrte. Neben der umfangreichen Materialienmappe gehört auch eine einfache moderne indische Musikkomposition auf Kassette sowie bei Bedarf persönliche Projektbetreuung durch indisches Lehrpersonal zu dem käuflichen Angebot für Lehrer. Heute werden diese Projekte nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur Präsentation von klassischem indischen Tanz an englischen Schulen verstanden. Es herrscht jedoch an der Academy die Auffassung, dass dieser von anderen Lehrern ohnehin reichlich angeboten werde und, gemessen am Bedarf, eigentlich vergleichsweise überrepräsentiert sei. Die öffentlichen Schulen favorisieren die neuen Projekte, auch weil sie ihnen mühsame Vorbereitungs- und Kommentierungsarbeit abnehmen. "Chipko" war wahrscheinlich englandweit das erste Projekt dieser Art, das auf indischem Tanz basierte. Vergleichbare Projekte hatte es aber schon längere Zeit basierend auf westlichen Tanzformen gegeben.

Der soziale Bereich (community) ist erst unter der Direktion von Mira Kaushik an der Academy begründet worden. Kaushik war zuvor im Sozialbereich tätig gewesen und brachte auf diese Weise ihre Erfahrungen ein. Sie überlegte sich, dass der klassische indische Tanz nur Inder und selbst unter ihnen nur sehr spezielle Gruppen, die sich in verschiedenen engumgrenzten Gegenden in exklusiven und elitären Tanzzirkeln konzentrierten und nichts mit den kulturellen Hauptströmungen Englands zu tun hatten, betraf. Um Tanzformen in Aktivitäten mit einzubeziehen, die eine größere Popularität versprachen, sollten nun auch die zeitgenössischen Formen der traditionellen Stile, die Volkstanzformen, Gesellschaftstänze und alle kommerziellen und populären Formen, wie etwa Tanzstile, die in den Diskotheken Londons getanzt werden, der populäre Bhangra oder auch der Tanzstil der indischen Filme miteinbezogen werden. Alle diese Formen erscheinen als angemessene Ressourcen für Sozialarbeit, indem sie den Bedürfnissen des Westens und der Neunzigerjahre entsprechen. Als Zielgruppen für die Aktivitäten kommen neben Menschen mit speziellen Bedürfnissen auch bestimmte ethnische Gruppen in Frage. Schließlich gibt es auch gruppenübergreifende Projekte. So wurden 1994 zu dem neuntägigen indischen Fest Navarati in London 200 Teilnehmer von unterschiedlichster Herkunft erwartet.

Ein Kathak-Projekt (129) therapeutischer Arbeit mit Sehbehinderten vermittelte vergleichsweise fundiertes Tanzkönnen. Die Sehbehinderten erarbeiteten Grundschritte und Armbewegungen des Kathak, indem sie, unterstützt durch einen Trommler und den Klang der Fußschellen, den authentischen Kathak-Rhythmen folgten. Ein Videomitschnitt der Academy of Indian Dance illustriert eine der Besonderheiten des indischen Tanzes - die taktile Lehrmethode: Der Lehrer bringt die Gliedmaßen des Schülers mit Fuß- und Handkontakten in die richtige Form und Stellung. Dies macht gemeinsam mit der akustischen Unterstützung indischen Tanz für Sehbehinderte hoch geeignet.

Ein Projekt mit moslemischen Frauen in London musste relativ bescheidene tänzerische Ziele ins Auge fassen. Generell ist die Haltung von Moslems in Bezug auf Tanz ambivalent: nicht alle von ihnen halten Tanz für eine erlaubte Beschäftigung. In dem speziellen Fall wurde der vorgesehene Trommler von den Frauen und ihren Familien überdies aufgrund seines männlichen Geschlechts nicht als Begleiter des Unterrichts akzeptiert. Die Tanzinhalte mussten sich aufgrund der überwiegend hinduistischen Inhalte des indischen Kunsttanzes auf Volkstanzformen beschränken. Dennoch gelang es, ein paar moslemische Frauen für einige Zeit aus ihrer engen häuslichen Isolation zu holen und damit einen Schritt zu ihrer besseren Integration in die englische Gesellschaft zu setzen (Interview mit Mira Kaushik, Direktorin der Academy of Indian Dance, 1995). Auch Nilima Devi (Interview 22.3.1994 in Leicester), die in Leicester als Kathak-Animateurin arbeitet, hat ähnliche Erfahrungen mit Moslemgruppen. Sie war zum Beispiel für ein Kulturprogramm zur Feier des Endes der Fastenperiode, Ramad( an engagiert worden.

Die Britische Regierung beschloss Anfang der Achtzigerjahre, nach einer Untersuchung des Dance Council, Tanzanimateure zur Kultivierung der interethnischen Kontaktzonen einzusetzen, nachdem sich Tanzanimateure für europäische Tanzstile im sozialen Bereich, an öffentlichen Schulen und in Kulturzentren bewährt hatten. Piali Ray gehörte von 1986 an zu jenen Tanzanimateurinnen für südasiatischen Tanz, die vom Arts Council seit dem Beginn der Achtzigerjahre angestellt wurden. Auch bei ihrer animatorischen Arbeit geht es um die Erfassung der ganzen Breite und Komplexität der asiatischen Gemeinde in England, aber auch von Nischen für asiatischen Tanz innerhalb nichtasiatischer Gruppen. Gerade die asiatische Tanzkunst existiert nicht in Isolation von anderen Künsten. Tanz hat Verbindungen zur Musik und hat dabei viele visuelle Komponenten. Dekor, Theater, Erzählkunst und Kunsthandwerk spielen eine Rolle. Möglichkeiten zu Querverbindungen ergeben sich auf natürliche Weise: ein Geschichtenerzähler kann mit einer Tänzerin zusammenarbeiten, ebenso kann ein Bildhauer mit einer Tänzerin zusammenarbeiten. Workshops in solchen Kombinationen bringen Leute zu asiatischen Kulturorganisationen wie Sampad, die sich ansonsten kaum mit Tanz beschäftigen würden. Dabei sind die verschiedenen Religionen, Altersgruppen, Generationen, Geschlechter und Interessensgruppen zu berücksichtigen. So verstehen noch in Indien geborene Frauen die Repräsentation des Weiblichen in den klassischen Tanzstücken besser, als die in England geborenen, die mit dem Tugendbild des scheuen und gehorsamen Wesens nicht mehr viel anzufangen wissen. Knaben sind oft generell schwieriger zum Tanz zu motivieren als Mädchen. Um die männliche Jugend bei der Stange zu halten, kann jedoch zum Beispiel auf aktuelle Modeformen des Worlddance, wie Bhangra oder Rap, zugegriffen werden. Frauen verlangen oft eine spezifische inhaltliche Orientierung, ebenso wie Behinderte, jugendliche Straftäter oder andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen. Asiatische Tanzanimateure brauchen deshalb ein breites Basiswissen, das Tanz, Kostümkunst, Bühnenbild, aber auch weiter entfernte Bereiche, wie Geographie und Geschichte Indiens, umfasst und müssen über enorme Anpassungsfähigkeit und Flexibilität verfügen. Animateure müssen Gelegenheiten erfinden, die Interesse am asiatischen Tanz erwecken. Sie arbeiten an Schulen und Colleges, in Vereinen und Zentren, in Kontaktgruppen, Hilfeorganisationen, in informellen und formellen Ausbildungssituationen.

Nilima Devi (Interview am 22.3.1994), Kathak-Tänzerin, berichtete von ihrer Arbeit als Tanzprojektleiterin und Tanzanimateurin in Leicester. Als Angestellte des City Councils ist sie Kulturverantwortliche für den Bereich asiatischer Tanz in der Region. In dieser Funktion leitet sie ein sechsköpfiges Team für Tanzaktivitäten in dem lokalen Community Centre, das über Übungsräume und auch einen Vorführungsraum verfügt. Es ist interessant, dass dieser Halbtagsposten in Leicester nur für asiatischen, nicht aber für westlichen Tanz existiert. Das hat mit dem hohen Anteil an Asiaten, hauptsächlich Indern in der Region zu tun, aber auch mit der speziellen kulturellen Bedeutung, die Tanz für diese Bevölkerungsgruppe und dadurch auch für die Lokalpolitik des Ortes hat. In dem Zentrum wird - so wie in vielen anderen Community-Projekten - Unterricht geboten, der darauf abzielt, Leute unterschiedlichster Herkunft durch möglichst rasche Vorführmöglichkeiten zu motivieren. Das bedeutet, dass wieder mit einfachen Formen, hauptsächlich aus den Bereichen Volkstanz und kreativer Tanz gearbeitet wird, die von professionellen indischen Tänzerinnen vermittelt werden. Die meisten dieser Animateure sind im Bharata Natyam ausgebildet, unterrichten dann aber auch etwa Volkstänze aus dem Gujarat, in Stilen also, in denen sie keine vollwertige Ausbildung erhalten haben. Darüber hinaus arbeitet Nilima seit 1990 im Rahmen einer zweiten Halbtagsanstellung in der asiatischen Sektion der Bildungsabteilung desselben Zentrums, wo unter anderem auch Ballett, Modern Dance und zeitgenössischer Tanz, aber auch asiatische und westliche Musik unterrichtet werden. Dieses zentrale Tanz- und Musikservice ist eine Spezialität der Ortschaft Leicester und stellt einen englandweiten Einzelfall dar, während in anderen Städten nur wochenweise Projekte lanciert werden. In diesem Rahmen wird in Leicester ein regulärer und an Traditionen orientierter Unterricht in wöchentlichen Klassen geboten. Diese sind an den allgemeinbildenden Schulunterricht angegliedert, wenn sie auch nicht Teil des regulären Unterrichts sind. Obwohl Nilima Devi für diese Tätigkeiten als Angestellte vom City Council entlohnt wird, wird doch von ihr erwartet, dass sie gewinnbringend arbeitet, indem sie für ausreichende zahlende Kundschaft an Schulen, sowie für Studenten und Projektbesucher des Kulturzentrums sorgt.

 

 

Finanzierung und Kulturpolitik für Tanz im Unterrichtswesen innerhalb der Europäischen Union (Daten 1994/1996)

 

Vertreter des Arts Council erklärten 1994, dass früher ein Budget für eine große Anzahl von Schulen von einem Ressortverwalter verteilt wurden, während gegenwärtig jede Schule ihr eigenes Budget für irreguläre Aktivitäten verwaltet und selbständig über dessen Verteilung entscheidet. Glücklicherweise würden viele Schulen die Wichtigkeit der Arbeit mit Tanzkompanien und Tanzinstitutionen anerkennen und setzen deren Finanzierung von ihrem relativ engen Budget aus fort. Im selben Jahr wurden mir jedoch in England Fälle zugetragen, in denen Tanzprojekte durch diese neue Regelung gefährdet erschienen und entweder kurz vor der Aufgabe standen oder nur durch die Rekrutierung massiver zusätzlicher Subventionsmittel aufrecht erhalten werden konnten. Eine Strategie zur Sicherung der Tanzaktivitäten an englischen Schulen ist deshalb das Bestreben Tanz in das reguläre Fach Körpererziehung als konstituierenden Bestandteil einzubeziehen. Es wird jedoch befürchtet, dass dies nicht zu einer vermehrten Anstellung von Tanzlehrern führt, sondern nur dazu, dass Turnlehrer nebenbei auch etwas Tanz unterrichten. Dies würde insgesamt als Rückschritt in bezug auf die Qualität des Tanzunterrichtsangebots bewertet werden müssen.

Das Arts Council bezahlt nicht direkt für die Versorgung mit Tanz im Unterricht. Vielmehr sind alle Tanzkompanien, die Förderungsgelder erhalten, dazu angehalten, tänzerische Erziehungsarbeit zu leisten. Historisch betrachtet stellt darüber hinaus in England privates Sponsoring eine wichtige Geldquelle dar. Auch Treuhandgesellschaften und Fonds sind potente Geldgeber. Der verantwortungsbereich des Arts Council erstreckt sich vor allem auf die Entwicklung und Förderung der verschiedenen Kunstformen. In Verwirklichung dieser Zielsetzung wird die grundlegende Notwendigkeit, an der Seite von Lehrern und Schulen zu arbeiten um KunstBewusstsein früh zu fördern, anerkannt (Tanz direkt 1994:15). Jeanette Siddall (ibid.: 11) streicht die diesbezüglichen, der britischen Kulturpolitik zugrundeliegenden, erzieherischen Gesichtspunkte und Erkenntnisse heraus:- Bewegungen gehen Worten als Mittel des Ausdrucks, der Erkundung und der Kommunikation voraus und es erscheint daher sinnvoll, auf dieser Anlage aufzubauen.

Weiters stellt sie fest (ibid.: 12), dass Tänzer ihr tanztechnisches Können durch den Erwerb pädagogischer Fähigkeiten erweitern, da das Lehren von Tanz, als einer kreativen oder technischen Übung, ein umfassendes Verständnis des verwendeten tänzerischen Materials verlangt und eine besondere Klarheit in seiner Ausübung. Tanz ist also nicht nur Bereicherung für die Pädagogik, sondern dies gilt auch umgekehrt. Dieser Erkenntnis wird durch die Förderung von Tanz auch aus den Mitteln anderer öffentlicher Stellen, zum Beispiel der City Councils Rechnung getragen - wie dies bereits anhand der Anstellung von Nilima Devi als Beauftragte für asiatischen Tanz in Leicester weiter oben erläutert wurde.

In Irland sind die zwei Hauptsponsoren für Tanz im Unterricht das Department of Education und das Arts Council. Offiziell ist es nicht Sache des Arts Council die Erziehung durch Tanz zu fördern. Dennoch wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass zur Realisierung solcher Arbeit die Unterstützung des Arts Council notwendig ist. Dieses Eingeständnis führt zu einer Widmung von etwa 6,5% ihrer Budgetausgaben für den Unterricht. 1994 war von einer Anhebung dieses Satzes auf 15% die Rede. Professionelle Tänzer werden direkt dafür bezahlt, an öffentlichen Schulen zu arbeiten. Daneben wird auch speziell Theatergruppen für den Unterricht unterstützt und eine eigene Tanztruppe für den Unterricht, die Daghda genannt wird.

In Irland gab es 1994 kein nennenswertes privates Subventionierungswesen. Es wurden aber Finanzierungen über Europäische Fonds, wie Kaleidoscope, ein europäischer Fonds, der transnationale Zusammenarbeit unterstützt, und den Ireland Fund, einen Amerikanisch-Irische Treuhandgesellschaft die durch US- amerikanische Geschäftsleute gegründet wurde, gefunden und zugänglich gemacht (ibid.: 17) Spanien hat ein föderatives System, durch das Subventionen direkt durch den Staat oder durch lokale Ämter zur Verfügung gestellt werden. Zusätzlich gewinnt in Spanien die Subventionierung über Elternvereine zusehends an Bedeutung. Dabei zahlen Eltern in einen gemeinsamen Fonds ein, um ihren Kindern die Teilnahme an mit Tanz verbundenen Lehrveranstaltungen zu ermöglichen, die ansonsten nicht ausreichend durch öffentliche Gelder subventioniert wären. Der Nachteil dieses ansonsten recht gut funktionierenden Systems ist die Vergrößerung des Gefälles zwischen Spaniens reichen und armen Gebieten und die damit einhergehende Ungerechtigkeit des Systems. Zu geringe öffentliche Unterstützung verhindert auch eine Entwicklung des Standards von Tanz für das Unterrichtswesens auf Universitätsniveau, was seinerseits den Status der Disziplin erhöhen würde und neue und größere Subventionen erschließen würde. Einige Kompanien, wie Provisional Danza erhalten Gelder des Bundes für Unterrichtsarbeit. Dies geschieht jedoch nicht in erster Linie aus pädagogischen oder künstlerischen Motiven heraus. Die Kompanie rekrutiert und trainiert junge Arbeitslose, die sich für Tanz interessieren, und bietet der Regierung daher eine willkommene Möglichkeit zur Reduktion der Arbeitslosenzahlen. Ähnlich wie in England ist auch die private Subventionierung von gewisser, wenn auch hier deutlich begrenzter Bedeutung. Die wichtigsten Geldgeber sind hier die nationalen Spar- kassen und Blindenorganisationen. Private Sponsoren stellen neben Geld auch Räumlichkeiten und Werbemöglichkeiten zur Verfügung (ibid.).

Demgegenüber erfasst in Deutschland tanzbezogenes Sponsoring in erster Linie die Unterstützung der staatlichen Theater. Kulturfinanzierung ist in Deutschland öffentlicher und dezentralisierter Natur. Kulturelle Aktivitäten und Institutionen werden durch Bundesländer und Städte finanziert, wobei Tanz aufgrund seiner Subsumierung unter das Theaterressort generell unzureichend gefördert erscheint. Die Tanzerziehungsabteilung des Tanztheaters Mind of the Gap arbeitete deshalb mit ihrem lokalen Kunstministerium in Wuppertal zusammen, um eine erfolgreiche Initiative zu starten. Mind of the Gap produzierte ein Tanzerziehungssystem, das in den Schulen der Region anwendbar war, und das Kunstministerium agierte als Referent der Kompanie, um ihr System zu bewerben und fortzusetzen. Der Kompanie gelang es auch, das zuständige Amt für Unterricht der Stadt für geringfügigere Subventionierungen ihrer Aktivitäten zu gewinnen. Das regionale Amt für Unterricht subventionierte ein Modellprojekt "Nachbarschaftsschule" in Solingen als ein Experiment mit dem Ziel rassistischen Strömungen und Gewalt unter Jugendlichen entgegen zu wirken. Das Projekt baute auf dem theoretischen Ansatz auf, dass eine aktive Miteinbeziehung von Individuen mit aggressiven und gewalttätigen Tendenzen in Tanzaktivitäten und andere Kunstformen helfen kann, negative Spannungen und Aggressionen abzubauen. (ibid.: 16)

An den staatlichen allgemeinbildenden Schulen in Österreich sind Tanzaktivitäten im allgemeinen und interkulturelle Tanzaktivitäten im besonderen auf sehr sporadische und individuelle Initiativen beschränkt. Einige Pionierprojekte auf diesem Gebiet sind bereits im Abschnitt "Förderung marginalisierter Sozialgruppen in Wien" des Kapitels "Multikulturalität und Tanz" behandelt worden. Zum Zeitpunkt der Erhebungen, 1995 und 1996, gab es in Österreich noch keine öffentliche Stelle der Zuständigkeit für langfristige Tanzprojekte an Schulen. Trotz der Existenz von einzelnen richtungsweisenden Projekten auf dem Gebiet ist in Österreich der Sektor Tanz an Schulen offiziell nicht vorhanden und deshalb werden dafür auch keine Subventionen zur Verfügung gestellt. Die Mittel für die wenigen realisierten Projekte stammten deshalb, wie dies bereits an der oben genannten Stelle dargelegt wurde, aus privaten Vereinen und aus thematisch benachbarten öffentlichen Förderungsfonds, sofern sie nicht in Eigeninitiative finanziert wurden. Ein Zusammenhang dieser unterrichtspolitischen Situation des Tanzes mit der fehlenden Präsenz von Tanzunterricht auf Hochschulniveau kann als wahrscheinlich gelten. Beide Defizite stehen in starkem Kontrast zu der im Rahmen der Europäischen Union herausragend hoch entwickelten Tanzfestivalkultur Österreichs.

 

Zusammenfassend kann daher, so wie dies in der Conference for Dance in Education within the European Union 1994 festgestellt wurde, folgendes Vorgehen empfohlen werden:

  1. Sowohl Kunst- als auch Unterrichtssektoren der staatlichen Finanzierungsbehörden sind dazu angehalten gemeinsam die Verantwortung für die Unterstützung von Tanz im Unterrichtswesen zu übernehmen - und nicht nur eine der beiden Stellen oder gar überhaupt keine.
  2. Die Subventionskörperschaften sollten sich insbesondere auch durch die sozioökonomischen Vorzüge von Tanz im Unterrichtswesen motiviert fühlen.
  3. In den meisten Ländern sind Defizite in Bezug auf die Entwicklung einer Identität für Tanz im Unterricht und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für diese Art der Erziehungsarbeit zu beheben. Hierbei sollten Tänzer und Tanzkompanien auch kompetentere Marketingstrategien anwenden. (Tanz direkt 1994: 18)

 

 

Tanz als Kulturkritik und Kulturtherapie

Zur interkulturellen Kulturtherapie der Plötzlichkeit - ein Streiflicht auf Sardonos "Passage through the Gong". Kontinuität und Revolution in liminoider Kunst - Isadora Duncan und Ruth St. Denis. Europäische Beispiele kulturtherapeutischen Tanztheaters. Tanz, Demokratie und Gegenkultur. Sichtbarmachung der Emotionalität der Unterdrückten - Ismael Ivos Tanz. Südasiatischer Tanz in der Emigration als kulturverändernde Kunst.

 

Maschke (1996: 39-41) stellt insbesondere drei Gründe für die Hinwendung zum Fremden heraus, die indes alle bei näherer Betrachtung auf eine Kritik der eigenen Kultur zurückzuführen sind.

  1. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenswelt und der eigenen Identität hat zunächst einmal seine Wurzeln in der eigenen Kultur, doch ist sie oft direkter Auslöser der Neugier auf das Fremde. Die Hinwendung zum Fremden wird dort besonders stark, wo sich ein Ohnmachtgefühl, was die Veränderungsmöglichkeiten des Eigenen angeht, einstellt. Dieses entsteht, wenn eine Gesellschaft an die Grenzen ihrer Veränderungskapazitäten stößt, oder wenn sich die Individuen vom System 'überrollt' sehen. (130)
  2. Die Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit kann ebenfalls eine Hinwendung zum Fremden auslösen. Die Ausschau nach neuen Identifikationssubjekten und Sinnsystemen kann zum Versuch der 'Verschmelzung' mit dem Fremden führen. Maschke führt hier auch die "postmoderne Sucht nach Neuem" an, wobei das Interesse am Fremden Teil dieses Strebens wird.
  3. Die Hinwendung zum Fremden soll historisch gewachsene Schuldgefühle gegenüber der fremden Kultur abwenden. Im Westen entspricht das "einer nachträglichen und verein- zelten Kompensation der imperialistischen Schuld, die im politisch-wirtschaftlichen Rahmen entstanden ist". Maschke macht darauf aufmerksam, dass auch hierbei das Fremde instrumentalisiert wird und zu einem Mittel der individuellen Selbstbestätigung und Abgrenzung wird.

Victor Turner (1989a) bezeichnet jene marginalen Bereiche des Tanzes, Theaters und der Performancekunst, die sich der Gesellschaftskritik annehmen und denen gesellschaftserneuernde Kräfte zu eigen sind, als liminoides Theater. Weit öfter bieten Riten, Tanz und Theater 'nur' Raum für ein kathartisches Ausleben (Scheff 1979) gesellschaftlich erzeugter psychischer Spannungszustände. In dem, was Turner als liminelles Theater bezeichnet und dem liminoiden Theater gegenüberstellt, wird durch eine temporäre Verkehrung der Ordnung, durch eine sogenannte Antistruktur, für eine begrenzte 'liminale' Zeit eine Phase der Einheit, der Communitas, heraufbeschworen, ohne die alltägliche Struktur der Gesellschaft in Frage zu stellen (Turner 1989a, 1989b). Dies kann zum Beispiel bedeuten, für eine bestimmte Zeitspanne einem Niedrigen durch rituelle Statusumkehr Respekt zu verschaffen und so den Zusammenhalt der Gesellschaft nachhaltig zu fördern. Liminoides Theater formt und prägt die Gesellschaft neu, während liminelles Theater strukturerhaltend wirkt. Entgegen weitverbreiteter Ansichten finden sich in Riten nicht ausschließlich Elemente des liminellen Theaters, funktionieren Riten nicht ausschließlich strukturerhaltend, sondern auch liminoid, als Auslöser für Strukturveränderungen. Liminoides Theater ist beispielsweise von alters her Bestandteil srilankischer Tanzriten. Das kollektive Hochlandritual Kohomba Kankariya, das älteste Ritual der Insel, geht, wie bereits dargelegt wurde, in seinen zentralen Inhalten auf die liminoide Dramatisierung eines Friedenskonzils zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes zurück. Und auch die moderneren persönlichen exorzistischen Tanzriten des Tieflandes enthalten neben strukturschützenden Elementen auch solche, die immerhin auf heilsame Änderungen in der körperlich-geistigen Verfassung des Klienten sowie in seiner unmittelbaren sozialen Umwelt abzielen, nicht zuletzt indem sie Anweisungen über Änderungen in der Lebensführung und in der Gestaltung von persönlichen Beziehungen beinhalten. Liminoides Theater kann nicht naiv als evolutionsbedingt jüngere Schwester limineller Riten betrachtet werden, vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass einige der wichtigsten Riten stets liminoide Anliegen hatten, dass sie nicht auf die Erhaltung einer Struktur, sondern auf deren Veränderung abzielten, sobald alte Strukturen bedrohlich für die Integrität einer Kultur wurden. Die Bedeutung körperlicher Ausdrucksbewegung in solchen Riten ist sicherlich sehr alt, weil sie eine tiefe und vorsprachliche Erfahrung veränderter Seinszustände ermöglicht - und zwar sowohl in der gemeinschaftlichen Bewegung als auch durch Anschauung und Einfühlung bei virtuosen Bewegungen von Spezialisten.

Es wird noch anhand eines Vergleichs zwischen Isadora Duncan und Ruth St. Denis dargelegt, dass ein Künstler oder Ritualspezialist um liminoide Wirkung entfalten zu können, um einem gesellschaftstherapeutischen, gesellschaftsverändernden Anspruch gerecht werden zu können, nicht zu sehr aus dem gesellschaftlichen Rahmen fallen darf. Er muss einen formalen und inhaltlichen Balanceakt erbringen. Er darf gerade so viel Neues durch Werk und Lebensstil einbringen, wie die Gesellschaft, für die er sich engagiert, noch erträgt, ohne sich in ihrer Kontinuität gefährdet zu erfahren, und doch genug Neues, um beispielsweise eine gesellschaftliche Korrektur von Selbstbild, Werten und Lebensformen zu provozieren. In komplexen Gesellschaften können sich Inspiration und Anstoß zur Veränderung auch auf beschränkte Teile oder Eliten beziehen, wobei ein Großteil der restlichen Gesellschaft unberührt bleibt oder erst viel später bewegt wird.

Sardono, ein Künstler, der sich im multikulturellen Umfeld Indonesiens für die Anerkennung der Kultur der Minderheiten und Machtlosen engagiert, sieht die schicksalsverändernde Funktion seiner Tanzkunst geradezu darin, nicht kontinuierlich Gegenrealität für breite Schichten zu schaffen, sondern sich auf das plötzliche Auftauchen im Sinne einer Offenbarung von Wahrheit für Einzelne zu beschränken. Er erzählt ein Gleichnis um diese Sichtweise zu erläutern, anstatt sich in irgendeiner Form theoretisch mit der gesellschaftstransformierenden Funktion von Kunst auseinander zu setzen:

Sardono, der 1945 in Surakarta (Solo) auf Java geboren wurde, studierte die javanische Kampfsportart silat, bevor er in der verfeinerten Art (alus) des klassischen javanischen Tanzes bei einem lokalen Tanzmeister ausgebildet wurde und seine Studien später am Hof von Solo fortsetzte. Ende der Achtzigerjahre gründete er die erste experimentelle Tanztheatergruppe Indonesiens, Canthang Balung, benannt nach einer Gruppe von Hofkomödianten von Surakarta. In zahlreichen Tourneen wurde er auch in Amerika und Europa bekannt und unterrichtete im Gefolge des Festivals von Nancy 1972 auf Veranlassung durch Peter Brook und Ariadne Mnouchkine in Paris in einer Reihe von Workshops. Trotz dieser Auseinandersetzung mit dem Westen weist er immer wieder (z.B. im persönlichen Gespräch am 11.3.1996 in Wien) darauf hin, dass seine Kunst in erster Linie Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem pluralistischen und multikulturellen gesellschaftlichen Umfeld Indonesiens ist. Insbesondere engagiert er sich für den indonesischen Regenwald und jene Menschen, die ihn bewohnen. Er besuchte zahlreiche Gebiete Indonesiens und ließ die Tänze der verschiedenen Regionen in seine Choreographien einfließen. So bereiste er 1975 die Regionen von Batak im Norden und Nias im Westen Sumatras. Er lebte einige Zeit bei den Dayak in Ost Kalimantan, mit denen er auch gemeinsam Theaterarbeit machte, sie unterrichtend und auch umgekehrt von ihnen lernend. Seine Stücke "Meta Ecology" (1979), "The Plastic Jungel" (1983) und "Lamenting Forest" (1987), sind unmittelbare Ergebnisse dieser Auseinandersetzung.

 

 

Zur interkulturellen Kulturtherapie der Plötzlichkeit - ein Streiflicht auf Sardonos "Passage through the Gong"

 

In Wien zeigte das Sardono Dance Theatre im Rahmen des 8. Wiener Internationalen Tanz-Festivals Tanz'96 im Museumsquartier, Halle E, am 11. und 12. März 1996 (131) Sardonos "Passage through the Gong", als physische und philosophische Reise des Menschen, ein Stück, das einmal mehr belegt, wie sehr die Suche nach dem Platz des Menschen in der globalen Gesellschaft, sein kulturelles und natürliches Umfeld universelle zeitgenössische Belange sind. So wie in seinen Werken "Maha Buta" (1988) und "Ramayana-ku" (1990) ist auch "Passage through the Gong" eine intellektuelle und künstlerische Forschungsreise, die eine ausgeprägte spirituelle und mystische Sensibilität bekunden. Marcia B. Siegel sagt über dieses Stück

In der ersten Szene des Stückes tanzt der Choreograph nur mit einem Lendenschurz bekleidet auf der ansonsten menschenleeren Bühne, auf deren rechter Seite Gongs zu sehen sind und auf linken Seite ein Gamellan-Orchester. Sardono bewegt sich langsam und zumeist in tiefer Hockhaltung, wobei der Tanz zunächst an ein langsames Erwachen erinnert.

Die universalistische Suche bringt nicht nur die verschiedensten Ausdrucksweisen wieder gemeinsam auf die Bühne, es wird auch der Atem, bislang unhörbar gemacht und unterdrückt, bewusst als 'direktes' Ausdrucksmittel eingesetzt. Man gebraucht den Atem, indem man ihn zum Beispiel durch Bewegung sichtbar macht, wie etwa Agnès Denis und Dominique Petit dies in "Souffle" vorgeführt haben (Brunel 1982). Sardono, dessen Herkunft näher an den großen geographischen, asiatischen, Zentren der Kultivierung des Atems liegt, erweckt in seinem Stück "Passage through the Gong" über die Hörbarkeit seines Atems -

Die kriegerischen Schreie und das Fauchen erschrecken das Publikum.

In der zweiten Szene taucht eine schattenhafte Prozession im Hintergrund auf. "Mysteriöse Figuren" (ibid.), traditionell gekleidete graue Mädchen und Frauen, tragen einen Schirm und Statuen eines Elefanten, eines Pfaus und eines Baums. Dahinter kommen die Musiker, die als solche erst erkenntlich werden, als sie sich hinter die Instrumente setzen. Eine Hälfte von ihnen ist in traditionellen Hüfttüchern gekleidet, die andere in grauschwarzen Uniformen, in Masken und Halbmasken, die Krieg und Unheil assoziieren lassen. Der Körper eines riesenhaften, beleibten Kerls ist außer mit einem kurzen Hüfttuch noch über und über mit glitzerndem Staub bedeckt. Er lässt sich bei den Gongs nieder. Zuletzt nimmt noch eine Sängerin vor dem Mikrophon zur linken Seite Platz, die von Kopf bis Fuß in ein Tuch gehüllt ist. Nachdem sich die Prozession mit den Figuren an der Rampe vorbei und wieder in den Hintergrund bewegt hat, gleiten vier Frauen herbei "Geistern oder Erinnerungen gleich", "fremdartig und exotisch in ihren Sarongs, den Schärpen und den mit Edelsteinen geschmücktem Haar" (ibid.). Sie vollführen einen traditionellen, sehr eleganten javanischen Tanz, Srimpi Sangupati (132), der zu Beginn des 19. Jh. vom Sultan von Surakarta, Susuhunan Paku Buwono IV., in Anlehnung an wesentlich ältere Formen erfunden wurde:

Laut Marcia B. Siegel (Programmheft 8. Wiener Internationales Tanz-Festival Tanz'96) wurde der simulierte Angriff zunächst mit dem Kris ausgeführt. Während der Kolonialzeit wurden die Waffen durch jene der Holländern ersetzt und mit ihnen auch der Inhalt des Tanzes verändert:

Jede funktionale Bewegung dieses Tanzes wird dem ausdrucksvollen Stil entsprechend von großräumigen und kurvigen zweimal ausgeführten Gegenbewegungen eingeleitet, die die Bedeutung der einzelnen Gesten herausstreicht. Angeführt wird der anmutige Tanz hier von Prinzessin Koes Murtiyah (133).

Das leise Spiel des Gamelan wird durch irritierende Schreie der Musiker und der Sängerin akzentuiert:

Während die Eleganz der Bewegung die westlichen Zuseher beeindruckt, wenn etwa die Feinheit der winzigen Stielgläser durch die abgespreizten und gebogenen Finger noch erhöht wird, entspricht die Beleibtheit mancher Tänzerinnen nicht dem westlichen Körperideal. Die Anführerin und Älteste zeigt einige kleine virtuose Extrabewegungen, zum Beispiel ein beeindruckend leises Seitwärts-Schütteln des Kopfes aus dem Nacken heraus. Auf exaktes Gleichmaß wird indes trotz weitgehender Parallelität der langsamen Bewegungen kaum Wert gelegt. Die stoffreichen Kostüme der Tänzerinnen wirken in faszinierender Weise auf die Formen der Bewegungen ein: Sie bedingen eine Steifheit der Hüften, welche durch Draperien betont werden. Ein Teil des Tuches schleppt über den Boden und wird kunstreich durch exakte Bewegungen der Füße manipuliert und in jene Lage gebracht, die der Bewegungsrichtung entspricht.

Die gesamte Sequenz wirkte auf viele der Zuseher, die ich beobachtete, eher langatmig. Sie ertrugen die Musik schlecht oder waren kaum in der Lage, die Eleganz des langsamen Tanzes zu erfassen oder zu genießen. Sie sind erst wieder ganz bei der Sache, als die vier Frauen plötzlich lange Revolver aus ihren Gewändern ziehen und "in einem schrecklichen Moment der Direktheit" aufeinander zielen und die Zuseher mit Platzpatronenschüssen erschrecken. "Allein der Anblick dieser plumpen modernen Waffen" in den Händen der anmutigen Tänzerinnen "ist bereits ein Gewaltakt" (ibid.). Sie beugen die Oberkörper zurück, die Waffen in ihren ausgestreckten Armen. Dann lassen sie die Waffen in den Falten ihres Gewandes verschwinden, vollführen noch einige Drehbewegungen und setzen sich langsam in meditativer Ruhe.

Die Tänzerinnen verschwinden nach und nach, während die dritte Szene beginnt. Figuren in modernen Kriegermasken und in Kostümen, die an das 19. Jahrhundert anklingen, an Militäruniformen und an viktorianische Kleider, verlassen ihre Gamelan-Instrumente und mischen sich unter die Tänzerinnen, die sie nach und nach mit plumpen und ausgreifenden Bewegungen verdrängen. Einer von ihnen hält eine pompöse indonesische Ansprache, die gelegentlich von den beifälligen Rufen der anderen unterbrochen wird. Ein Maskierter trägt ein weites, steifes dunkles Kleid, das an einen Uniformrock erinnert und beginnt vor der Gruppe der Redner und Zuseher zu tanzen. In seiner Puppenhaftigkeit und den von dem steifen Kostüm eingeschränkten Bewegungen mit abgespreizten Armen und Beinen erinnert dieser Tanz an die Raum-und-Form-Experimente Oskar Schlemmers (134). Hinter ihnen beginnen 'Soldaten' Wein auszuschenken und zu trinken, aber in einer im Gegensatz zu dem vorangegangenen Tanz der Frauen stehenden, groben Form und immer deutlicher auch Trunkenheit darstellend. Der Solist beginnt seine Kleider abzulegen, er tanzt noch eine Weile indem er das bereits Großteils ausgehakte Kostüm vor sich hält und verschwindet dann fast nackt und seine Blößen mit den Resten des Kostüms bedeckend - es ist Sardono selbst, der diese Rolle tanzt. Die grauen Figuren beginnen in ihrer nun orgiastischen Trunkenheit miteinander zu kämpfen und verlieren ebenfalls ihre Kostüme und Masken. Vier Männer entblößen ihre langen wilden Haare und muskulösen Oberkörper. Sie tragen traditionelle bunte Hüfttücher. Sie bringen Peitschen hervor, mit denen sie kunstvoll um sich schlagen ohne einander oder die Frauengestalt, welche zwischen ihnen die abgeworfenen Kostüme aufliest, zu verletzen. Aus dem rechten Seitenvorhang kommen die Tänzerinnen mit ihren Waffen zurück, mit denen sie bedrohlich um sich zielen und gelegentlich auch auf das Publikum richten. "Ihr heiliger Platz ist entweiht, ihre innere Konzentration verloren, sie starren um sich" (ibid.). Sie defilieren an der Rampe entlang, drehen sich mit gezogener Pistole um die eigene Achse, wobei ein 'Schuss' in Richtung Publikum gefeuert wird. Die Atmosphäre ist nun außerordentlich bedrohlich und gespannt und das Publikum vibriert förmlich vor Anteilnahme.

Die vierte Szene wird durch eine Prozession eingeleitet, die mittlerweile auf die Bühne getreten ist. Eine in langen Gewändern gekleidete Frau oder Göttin, getanzt von Eko Kadarsih, wird auf einer verzierten Plattform stehend hereingetragen. Die Betrunkenen beginnen einen quadratischen Tanz, der zunächst an den Srimpi erinnert und sich allmählich zu einer tranceähnlichen Ekstase steigert. Die Frau dreht sich dazu auf der Plattform langsam im Kreis und -

Dieser Tanz erscheint als höhere Transformation und Apotheose des ersten Entkleidungstanzes durch den Militaristen. Der hünenhafte Gongspieler, der bisher mit dem Rücken zum Publikum die Gongs gespielt hat, erhebt sich, gleichsam von ihr angelockt, und tanzt mit ausladenden Bewegungen auf sie zu. Er klettert gewandt zu ihr auf die Plattform und tanzt hinter ihr, wobei er seinen mächtigen Körper mit erstaunlicher Ruhe in Stellungen von prekärer Balance bringt. Unter seiner Fettschicht kommen riesige Muskeln zutage. Er "besiegt" die Frau, indem er sie unter manischem Gelächter wörtlich "zu Fall" bringt. Da tritt ihm ein weniger muskulöser und schlankerer Gegenspieler (Sardono) in der Gestalt des gütigen weißen Affen Hanuman entgegen und entführt ihm die Schöne, indem er sie davonträgt. Das Lachen des Riesen schlägt in verzweifelte Gebärden um und schließlich in ein seinem Lachen nicht unähnliches lautes Schluchzen. Doch Hanuman hat seine lange Keule bei ihm gelassen. Damit tröstet sich der Riese. Er lässt den riesigen Schlägel als Phallus zwischen seinen Schenkeln emporwachsen, bricht wieder in Lachen aus, dreht sich mit einer großartigen Wendung von seiner Sitzposition in den Stand und nach hinten, holt gleichzeitig mit dem Schlägel aus und schlägt auf den großen Gong der neben anderen an der hinteren Bühnenmitte angebracht ist.

Sein wildes Schlagen mischt sich mit dem Gongtanz. Die Gruppe der vier Männer im Bühnenvordergrund tanzen auf Gongs stehend und dann in primitiver Ekstase, ihre Mähnen wild schüttelnd und etwas unkoordiniert auf ihre Gongs schlagend. Während dieser Ereignisse hat sich die Sängerin erhoben und einen Schreittanz begonnen, den sie mit einem phantastisch exaktem Gesang a cappella begleitet. Sie tanzt so in einem großen Bogen an dem Tisch des Riesen vorbei in den Bühnenvordergrund, ohne hörbares Schwanken in der Stimme, anmutig und langsam. Nach und nach folgen ihr die verbliebenen Gamelan- Musiker, ihre Gongs schlagend. Die tanzenden Gongspieler, die Sängerin und die Gamelan- Musiker erzeugen eine für westliche Ohren ungewohnte, sehr stimmungsvolle Art von Zusammenklang, einen Klangteppich.

Da werden die Statuen wieder hereingetragen, "aber anstatt ihrer dumpfen Farbe werden sie nun in Gold verwandelt - vermutlich ein Trick von Clifton Taylors magischer Beleuchtung. Langsam verlassen die Spieler, mit Ausnahme von Sardono die Bühne, der" - während die Lichter langsam verlöschen - "wieder in Meditation versinkt. Dank Sardono begannen diese Bilder, auch für das westliche Publikum zu sprechen, von Leidenschaft und Selbstbeherrschung, von der Natur und der Zivilisation, von der Kraft der Rituale, die diese Kräfte nicht unterdrücken, sondern im Spiel aufleben lassen" (ibid.).

Sardono sieht in seinem Stück auf Befragung kein nationalistisches Anliegen. Durch seine Arbeit mit den verschiedenen Stämmen seiner Heimat, deren Tanztraditionen er auch in seine Stücke einbaut, ist er sich der Vielfalt der Kulturen seines Landes bewusst, die, wie er meint, jede Art von Nationalismus ad absurdum führen. Stilistisch ist er an einer Zusammenführung von Volks- und Hoftanzformen seines Landes interessiert, inhaltlich an einer Auseinandersetzung mit globalen Fragen des Schutzes von Kulturen der Machtlosen und des Umweltschutzes, an einer Vision mystischer Einheit in Anerkennung von Unterschiedlichkeiten. (persönliches Gespräch mit Murgiyanto und Sardono am 11.3.1996, Wien)

Was Integrität und Selbstachtungsvermögen bedroht, dem wurde von Alters her mit Riten aus zahlreichen Gesten, Lauten und Tänzen und unter intensiver Beteiligung der betroffenen Gemeinschaft begegnet, mit performativem Verhalten also, das vor allem Bewusstseinsveränderung bewirkt und einen fruchtbaren Boden für flexible und subtile gesellschaftliche Steuerungsprozesse schafft. Auch diese Prozesse dienten der Erhaltung jenes kulturellem Kontinuums, in dem nach E. Erikson (1995) der Präadaption des Menschen genüge getan wird, in der ihm entsprechenden Weise Identität zu erlangen.

Wenn daher in einer Suche nach neuen Formen, die gesellschaftliche Kontinuität garantieren können, auf fremde Tanzriten und konzentrative Körpertechniken zugegriffen wird, so müssen diese einen notwendigen Prozess der Umdeutung und Umformung erfahren, um in die eigene Kultur eingepasst zu werden und deren Erfordernissen zu entsprechen. Hier wird das Publikum zur Bedingung der Kunstausübung. Es muss adäquat reagieren können, das aus dem Fremden entlehnte Dargebrachte in den Sinnzusammenhang der eigenen Kultur stellen können. Sardonos Stück wird diesen Anforderungen vor allem dort gerecht, wo seine Choreographie durch starke und kontrastreiche Bilder aus sich selbst heraus wirkt. Dann gelingt ihm bisweilen auch seine "Schocktherapie" des Publikums, wenn diesem Beispielsweise plötzlich bewusst wird, dass die Revolver, die auf sie gerichtet werden, etwas mit der Geschichte der Kolonisation zu tun haben könnten.

Doch ganz ohne die begleitenden Worte des Programmhefts ist auch hier kein Auskommen. Seiner künstlerische Reise durch die verschiedenen Epochen und Kulturen seiner Heimat ist dort am besten für das westliche Publikum nachvollziehbar, wo er sich auf seine Grenzgänge zwischen östlichen und westlichen Stilen begibt, wie in der Szene mit den Soldatengewändern. Hier kommt das von vielen tanzethnologischen Anfängern favorisierte Puritätsprinzip von der unbedingten Notwendigkeit der Erhaltung der Authentizität eines Tanzes (135) auch in einer Inszenierung für Fremde in ein kritisches Licht. Authentizität ist im Sinne integrativer Kulturleistung nur soweit sinnvoll, wie diese vom Publikum verkraftet werden kann. Oft ist eine Entlehnung sinnvoller als eine traditionelle Darbietung, um ein Sympathiepotential nicht von vornherein zu ersticken. Das Publikum muss auch durch Information und Motivation herangebildet werden. Die Darsteller dürfen bei der bloßen Pflege von Tradition nicht verharren, wenn sie Fremdes wirklich näher bringen wollen. Ist darüber hinaus eine gesellschaftskritische Wirkung angestrebt, die über bloß museale Vorführungen hinausreicht, wird ein Zugehen auf das Publikum oft mit einem Verlust an Authentizität einher gehen. Gemeinsam mit den Künstlern müssen auch die Zuseher durch ihre Interpretation einen Beitrag zur kulturellen Kontinuitätserhaltung leisten. Ähnlich wie in alten Riten geht es dabei in mehr oder weniger offener Form in erster Linie um die Erneuerung und Neuformulierung von sinnstiftenden Mythen und von Erklärungen des Seins. Tanz- und Bewegungskunst transportiert und erneuert diese Mythen und Aussagen auf einer nonverbalen Ebene. Ich möchte dies an einigen Beispielen illustrieren:

 

 

Kontinuität und Revolution in liminoider Kunst - Isadora Duncan und Ruth St. Denis

 

Dem amerikanische Modern Dance wurde in der Neuerschaffung einer amerikanischen Front gegenüber Europas aristokratischem Ballett der Charakter einer kontinuierlichen Revolution zugeschrieben, (Novack 1990 zitiert in Davida 1992:21). Die Tänzerin Isadora Duncan konnte in Europa eine Vorreiterrolle in Bezug auf die Befreiung des weiblichen Körpers von Bekleidungszwängen und des Kunsttanzes von den Zwängen der Bewegungskonventionen des klassischen Balletts übernehmen. In ihrer amerikanischen Heimat war ihr das nur teilweise und zeitweilig vergönnt. Thomas (1995) argumentiert im wesentlichen, dass ihr unkonventioneller Lebensstil, ihre "dionysische Feier des Körpers im Tanz" und ihre offenen Männeraffären dem amerikanischen Puritanismus zu stark widersprachen. Duncan predigte in Anlehnung an Nietzsche die Rückkehr zum Körper, um sein lebendiges sinnliches Dasein in der Welt zu feiern und bezog ihre Inspiration dafür so wie auch Nietzsche aus 'der Fremde' der griechischen Antike. Sie sah ihren Tanz als einen Weg zur sozialen Verbesserung (Daly 1995: 26) und als einen Wegbereiter für die Zukunft (ibid.: 29f). Sie war eine offene Kritikerin der amerikanischen Jagd nach dem Dollar und der Schattenseiten des Puritanismus. Die glitzernde Scheinwelt des amerikanischen Vaudeville lehnte sie ab, bevorzugte vielmehr Soloauftritte in einfachen Kostümen vor einem Hintergrund aus blauen Samtdrapierungen.

Daly (1995:14f.) vertritt, dass gerade diese Attribute ihr nach ihrer ersten Rückkehr aus Europa in ihrer eigentlich ersten amerikanischen Phase, zweimal in 1908, dann 1909 und 1911, große Erfolge unter den Angehörigen der höheren und mittleren Gesellschaftsschicht und unter den Radikalen, Künstlern und Intellektuellen ihrer Heimat brachten. Duncan sprach in dieser Phase nicht nur jene Modernisten an, die die alte gentile Organisation umstürzen wollten, sondern durchaus auch Antimodernisten, die Duncans 'Natürlichkeit' gefiltert durch ihre eigenen Sehnsüchte nach der Rückkehr zu Authentizität, Einfachheit und Reinheit lasen.

Daly macht außerdem insbesondere die provokante Koketterie Duncans mit dem Kommunismus während ihrer dritten und letzten amerikanischen Phase für ihre Sympathieverluste in den USA verantwortlich. Als Duncan den russischen Dichter Sergej Esenin heiratete und für den Bolschewismus in roten Kostümierungen eintrat, überstürzten sich die amerikanischen Zeitungen in Skandalberichten über ihren Lebensstil, während ihre Tanzkunst immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. In den Nachwehen der 'roten Gefahr' war eine idealistische 'Revolutionärin' in Amerika gesellschaftlich untragbar geworden.

Jedenfalls scheint es, dass Duncan in Paris und London von Anfang an mehr das Leben führen konnte, das sie wollte und vor allem als Künstlerin ernstgenommen wurde, ein Schicksal, das sie mit der berühmten Licht- und Draperiekünstlerin, der Tänzerin Loie Fuller teilte (Thomas 1995:61,63,69f.). So brachte Duncan ihre Botschaft vom befreiten weiblichen Körper zuerst nach Europa, wo man an ihren Exzentrizitäten weniger Anstoß nahm und sie als Revolutionärin des Tanzes anerkannte. Ihre ersten Triumphe feierte sie in Deutschland. Thomas (ibid.70) weist darauf hin, dass Deutschland weniger stark als Paris oder London den Idealen des klassischen Balletts verpflichtet war. Deutschland war offener gegenüber neuen nichtakademischen Tanzformen, wie sie durch Duncan und St. Denis geboten wurden.

Thomas (1995:78-80) fasst auch Forschungen zu Ruth St. Denis zusammen, einer Tänzerin, die sie als in geringerem Widerspruch zu den amerikanischen Konventionen stehend klassifiziert als Isadora Duncan. St. Denis gelang es durchaus ihr Anliegen der Verwirklichung von Spiritualität in der Tanzkunst ohne vorangehende Erfolge im Ausland in ihrer Heimat Amerika vom Start weg durchzusetzen. Sie stand auf gutem Fuß mit den populären Techniken und nahm keinen Anstoß daran, auf den Bühnen des Vaudeville und der Music Halls aufzutreten. Ihre Theaterausstattungen waren exotisch und üppig, so wie das Publikum es liebte. Sie wurde die erste Amerikanerin, die sich über ihre orientalischen Themen in etwas fundierterer Art informierte. Ihr Interesse am Osten lag ganz auf der Linie der respektablen amerikanischen philosophischen und literarischen Tradition seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die seit Ende des 19. Jahrhunderts durch Übersetzungen aus östlicher Literatur, wie der Bhagavad Gita oder des Koran befruchtet wurde. Und was noch wichtiger war, Ruth St. Denis blieb stets, was man als 'attractive and nice' bezeichnete, also ohne erotische Untertöne, von keuscher Anmutung und ohne Provokation gegenüber dem amerikanischen Puritanismus.

Auch schlug es ihr zum Vorteil aus, dass sie eben nur eine 'New Jersey Hindu' war und keine echte Inderin, denn in ihren Darstellungen konnten die Amerikaner ihre hausgemachte Version des Orientalismus durchaus wiedererkennen. Amerika vermochte auch ihre Botschaft vom Tanz als einer Art spirituellen Yogas aufzunehmen. Yoga selbst war nicht mehr gänzlich unbekannt. Delsarte hatte Yoga als eine Form der Körperertüchtigung in sein Training einbezogen. Die neue bürgerliche Moral Amerikas predigte Mäßigung, Selbstzucht, Keuschheit und Tugend. Amerikanischer Delsartismus war jedoch noch nicht an einer Transzendierung des Körperlichen interessiert, Yoga war nur als Körperertüchtigung integriert worden. Erst St. Denis suchte den Körper durch yogische Methoden spirituell zu transzendieren, und sie fand dabei in Amerika ihre Anhänger und Bewunderer, eben weil sie sich nicht zu weit von bereits Bekanntem und Erwarteten entfernte.

 

 

Europäische Beispiele kulturtherapeutischen Tanztheaters

 

Kurt Jooss erinnert sich in einem Interview mit Partsch-Bergsohn (1995, Video) an Labans zentrale Vision, der moderne Tanz werde die Erlösung der Gesellschaft in diesem Jahrhundert bedeuten. Laban (1989:108f.) stellte die Pädagogik und die Erarbeitung einer pädagogisch wirksamen Festkultur in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Dabei lässt er sich bevorzugt durch das Fremde, einerseits der europäischen Kulturen der Vergangenheit und andererseits auch von außereuropäischen Hochkulturen inspirieren, die er sich reiner und tugendhafter vorstellte, als die eigene, gegenwärtige. Seine Tanzfeste sollten die Ethik und das Zusammenleben der Teilnehmer fördern, "der Gestaltung und Vertiefung des Gemeinschaftsempfindens und der Hebung des Selbstwertgefühls jedes einzelnen" dienen. Zur Erreichung dieses Ziels hielt er die Bedürfnislosigkeit für eine der wichtigsten Quellen des menschlichen Glücks. Denn der Mensch sollte seine Zeit nicht für die Erreichung von Bequemlichkeit und Wohlstand vergeuden. Er sollte vielmehr "an dem großen Gemeinschaftsgedanken und an der festlichen Erhebung" mitwirken, "die doch der Gipfel und das Ziel aller Kultur sein soll". Im Zusammenhang mit der Erarbeitung seines Tanzstückes "Istars Höllenfahrt" entwickelt er die Idee vom "Tendenzstück", das pädagogischen Zielen dienen soll (ibid.: 110 f.):

In diesem Zitat sind die kulturverbesserischen Anliegen Labans, seine geradezu messianistischen Züge, unverkennbar formuliert: eine elitäre, sozial engagierte und untereinander im Sinne einer fiktiven und 'besseren' Urgesellschaft egalitäre Gemeinschaft von Menschen, die frei von den Begierden normaler Menschen sind, soll herangebildet werden. Das erinnert zweifellos an jene Ziele, die als typisch für die Aufbauphase religiöser Sekten gelten (Douglas 1993).

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren florierte im deutschsprachigen Raum sowohl der abstrakt-formale Tanz, wie er sich etwa in Schlemmers Raum-und-Form-Experimenten der Bauhausperiode findet, als auch der expressionistische freie Tanz, wie ihn Mary Wigman oder Valeska Gert repräsentierten. Während sich ersterer kaum um gesellschaftliche Anliegen bemühte, sind Vertreter des zweiteren immer wieder auch gesellschaftskritisch aktiv geworden. Im Rahmen des Internationalen Choreographen-Wettbewerbes zu Paris 1932 zeigte Kurt Jooss am 3. Juli des Jahres sein expressionistisches, pazifistisches Ballett "Der grüne Tisch" (137) in Uraufführung (138) im Théâtre des Champs-Élysées, das bis zum heutigen Tag als die bislang schlüssigste Formulierung politischen Tanzes gilt (Stöckemann 1992: 120, Schleier 1984: 8). Während des Zweiten Weltkrieges und bis zu den Sechzigerjahren wurden die meisten Vertreter des neuen, sogenannten 'freien Tanzes' aufgrund der politischen Inhalte ihrer Tanztheaterstücke, aufgrund der Beschäftigung von Tänzern in ihren Tanztruppen, die als nicht 'rassenrein' galten und aufgrund von Anspielung an Riten und Gebräuche sogenannter 'nichtarischer' Völker in die Emigration getrieben. Es war dann hauptsächlich ein importiertes klassisches Ballett, das sich während des Wiederaufbaus der Nachkriegsära etablieren konnte, bis sich in den Siebzigerjahren das neoexpressionistische Deutsche Tanztheater bemerkbar zu machen begann. Nach Johannes Odenthal (1990, zitiert nach Davida 1992: 21) beabsichtigten die Vertreter dieses Genres eine ernste Kritik der historischen Illusion, die sich in der unvergleichlichen Materialisation von Reichtum in der BRD ausdrückte, im Hinterfragen des Fortbestandes sozialer Kommunikation, von Lebensqualität, von Mechanismen der Macht. Im Tanztheater fand das Individuum in einem Prozess visionärer Freiheit zu sich selbst.

 

 

Tanz, Demokratie und Gegenkultur

 

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren entwickelte die Anthropologie ethnographische Paradigmen, die eine unterschwellige Kritik westlicher Zivilisation beinhaltete. Die drei zentralen Kritikpunkte - das Fehlen von Respekt gegenüber der Natur, von zufrieden- stellenden sozialen Gemeinschaften und von einem Sinn für das Sakrale im Alltag - begleiteten eine rasante Entwicklung empirischer Methoden der Datenerhebung mit einem naiven Glauben an die Selbsterklärungsfähigkeit von empirischem Augenschein. Dieser Hunger nach Dokumentation wurde auch im Bereich der Kunst sichtbar. Fiktion tendierte zum Realismus mit dokumentatorischen Anklängen (Markus und Fischer 1986:126-129). Auch das Martha Graham Ballett änderte seine Themenschwerpunkte in Hinblick auf die Lage in Amerika und die soziale Unordnung in Europa. Seit den Dreißigerjahren gab es in Amerika Tanzgruppen, die ihre Kunst als Mittel zum politischen Widerstand gegen den Faschismus, für gewerkschaftliche Anliegen und immer wieder gegen den Krieg, den Zweiten Weltkrieg und vor allem im Amerika der Sechzigerjahre dann auch gegen den Vietnamkrieg gebrauchten. Viele Choreographien können trotz ihrer Abstraktion und Verschlüsselung als Antwort auf politische und soziale Verhältnisse der Zeit gesehen werden. Zu ihnen zählen Martha Grahams "Chronicle" und Doris Humphreys "With My Red Fire", die beide 1936 entstanden und sehr individuelle Antworten auf den Spanischen Bürgerkrieg und den Aufstieg des Faschismus in Deutschland darstellen (Jowitt 1981: 65).

Nach Deborah Jowitt (1988: 313, zitiert nach Davida 1992: 21) spiegeln die Prinzipien des sogenannten "zeitgenössischen", "neuen", "postmodernen Tanzes" oder auch "danse d'auteur", jene der sozialen Aufrührer der Sechzigerjahre wider:

Die neue Tanzbewegung der Siebzigerjahre wurde durch den intensivierten interkontinentalen Kontakt zwischen Europa und Amerika befeuert und erfasste in den Achtzigerjahren Kanada und den Großteil des westlichen Europas. Die erste all dieser Revolutionen und nach Davida (ibid.) vielleicht die am extremsten gegenkulturelle brachte indes Japan mit dem Ankoku Butoh, dem "Tanz der Finsternis", hervor und dessen shuaku no bi, der Ästhetik der Hässlichkeit, einem einzigartigen Produkt asiatischer Kultur. In dem Bemühen der japanischen Butoh-Tänzer und -Tänzerinnen um Sinnfindung greifen sie gleichermaßen auf rituelle wie auch interkulturellen Elementen zurück:

Die besondere Geschichte des Butoh und sein Beitrag zur kulturellen Integration inter- kultureller Erfahrungen und gesellschaftlicher Wandelprozesse wird in dem noch folgenden Kapitel "Tanz und Kulturwandel - ein dreidimensionales Entwicklungsmodell" im Abschnitt "Interaktivität der Genres quer durch Raum und Zeit" ausführlicher gewürdigt.

In letzter Zeit haben Choreographen die unterschiedlichsten fruchtbaren Methoden angewandt, indem sie sich nicht mehr auf bekannte Tanzterrains beschränkten. Jeder dieser 'Tanzentdecker' muss in neue und noch nicht von anderen beanspruchte künstlerische Territorien vordringen, "um sein einzigartiges ästhetisches Ökosystem aufzubauen" (Davida 1992:21). Die frühen Vertreter dieser Richtung waren direkte Erben der Anfänge des Modern Dance, indem sie zur Bilderstürmerei und radikalen Individualität seiner Begründer zurückkehrten, deren Arbeit gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bereits eng kodifiziert worden war. Die Diskussion dieser Parameter wurde durch das Studium und die Anwendung alltäglicher Bewegungen wieder eröffnet. Ende der Sechzigerjahre spaltete sich diese neue Bewegung in verschiedene Richtungen auf, während eine nächste Generation ihr Interesse vermehrt erzählenden Inhalten, der Virtuosität und Theatralität zuwandte.

Davida (1992:25) bemerkt, dass die internationalen neuen Tänze gewissermaßen Sinnbild jener demokratischen Gesellschaften sind, die sie hervorbrachten. Simmel (1993) hat schon 1896 zwischen den grundlegenden und geschichtsmächtigen Formen des Gesellschaftsaufbaus und Grundtypen ästhetischer Formgebung Verbindungen im Sinn von Vorbild und Strukturmuster erkannt. Davida meint mit ihrer Bemerkung jedoch, dass es wenige Tänze der Welt gibt, die perfekter als die neuen internationalen Tänze die Prinzipien individueller Freiheit, Gleichheit und kultureller Vielfalt verkörpern. Die Frage drängt sich auf, inwieweit diese individuelle Freiheit und Vielfalt nicht selbst wieder unter den Bedingungen kapitalistischer Marktwirtschaft zum Zwang wird, da es ständig neue Marktnischen zu erobern gilt, da sich jeder Künstler in einem Klima absoluter Konkurrenz um Überlebensressourcen vom anderen unterscheidbar machen muss. Dem entspricht auch Ecos Auffassung, der die "Bestimmungen des Marktes" vor allem als eine modellhafte Beschränkung in künstlerischer Standardisierung und auf bekannte Kommunikationserfahrung sich verwirklichen sieht (Eco 1993:412). Die künstlerische Facette der 'Produktion künstlicher Bedürfnisse', von denen schon Marx erkannt hat, dass sie inhärente Notwendigkeit eines Wirtschaftssystems sind, das auf Expansion beruht, reduziert sich oft genug auf eine bloß äußerliche Veränderung gleichbleibender Modelle, die letztlich in einfallslosen Manierismen erstarren.

Es stellt sich auch die Frage, inwieweit das von Davida zitierte Prinzip der Gleichheit im realen Kunstbetrieb gewahrt bleibt, in dem nur ganz bestimmte Randgruppen vertreten sind, nämlich letztlich nur jene, denen es gelingt, sich eine Lobby zu verschaffen, und in dem auch unter relativ demokratischen Arbeits- und Probenbedingungen, die die Kreativität jeder einzelnen Tänzerin fordern, letztlich immer nur wenige namentlich genannt werden, populär werden und künstlerisch überleben. Ohne Zweifel gibt es hier Probleme des Besitzes und der Aneignung von Bewegungen. Freiheit der Wahl und ästhetischer Pluralismus sind wohl auch Ausdruck positiver ideologischer Ansprüche. Doch bevor man sich dazu aufschwingt, den Status westlichen oder des westlich geprägten sogenannten World Dance in ethnozentrischer Weise als einen Kulminationspunkt gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten zu preisen, lohnt es sich, ein kritisches Auge auf die bestehenden realen Verhältnisse hinter den großen Worten und Phrasen zu werfen. Einige Zeilen weiter unten ist Davida dann auch dazu gezwungen, ihre euphorische Idealisierung wieder einzuschränken:

Den gesellschaftlichen und ästhetischen Rahmenbedingungen sind dann auch noch ökonomische hinzuzufügen, wie dies in den aktuellen Zeiten der Rezession erst so richtig zum Tragen kommt.

In Europa ist bis heute ein breites Spektrum an gesellschaftskritischen Ansätzen im Bühnentanz zu beobachten. Insbesondere wird das Spannungsfeld zwischen Individualität und gesellschaftlichem Zwang auf vielfältige Weise interpretiert. Im deutschsprachigen Raum hat Johann Kresnik (139) etwa mit seiner Produktion von "Hänsel und Gretel" 1995 die Problematik des Kindseins in der modernen Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt. Nach Hans Vollmer ("Das Schicksal gealteter Monster" in Salzburger Nachrichten vom 30.11.95) handelt Kresniks Stück über Kinder,

Kresnik selbst macht allerdings für den Erziehungsmissstand nicht die Eltern, sondern die Gesellschaft verantwortlich:

Wie viele andere zeitgenössische westliche Choreographen bietet er indes keine Lösungsvorschläge an, sondern bleibt bei einer Präsentation der Risse und Wunden der Gesellschaft. Wie viele andere verzichtet auch dieses gesellschaftskritische Tanzstück auf die Hinwendung zum Fremden. Kresnik benützt Überzeichnung, Verfremdung und Paradoxien in seinem bewegungssprachlichen Aufzeigen dieser Mängel.

Tanzkunst ist nicht "objektiv", sondern immer kulturimmanent, subjektiv und interpretierend. Kresniks Tanztheater ist politisch und enthält Wertungen und bisweilen auch radikale Sichtweisen, die, trotzdem sie keine Lösungsvorschläge enthalten, Denk- und Verhaltensrichtungen mitprägen wollen. In diesem Sinn wirkt auch ein solches Tanztheater an der Herstellung kultureller Kontinuität mit, wo diese durch Funktionsverluste veralteter Strukturen gefährdet erscheint. Kresnik engagiert sich für eine "inhaltliche Berechtigung des Deutschen Tanztheaters", indem die Tradition erhalten bleiben muss.

Theater ist für Kresnik ein "Aufruf, sich nicht alles gefallen zu lassen". Die Gesellschaft soll zur Diskussion gestellt werden. Zu bestehenden Streitpunkten sollen Beiträge geleistet werden (ibid.).

Problematisch werden gesellschaftskritische Anliegen auf der Tanzbühne unter anderem auch dort, wo sie im Interesse von kommerzieller Ästhetik oder auch einfach aufgrund fehlgeleiteter Regie verkitscht und so verfälscht werden. Ein Beispiel hierfür lieferte die Tumbuka Dance Company aus Simbabwes Hauptstadt Harare, in ihrer Aufführung im Rahmen der Steps 96 in Zürich:

Ismael Ivo (Interview, 20.8.1994, Wien) ist bekannt dafür, dass er in seinen Tanzstücken Themen der Unterdrückung, des Widerstandes und der Emanzipation aufgreift. Ismael Ivo, der künstlerische Leiter der Sommer- und Wintertanzwochen in Wien, bringt in seine Arbeit, die jener von Kresnik verwandt ist und auch immer wieder gemeinsam mit Kresnik erfolgt, Erfahrungen aus seiner Heimatkultur ein. In seiner Herkunft als schwarzer aus São Paolo stammender Tänzer und auch durch seine jahrelangen Erfahrungen als Straßenkünstler ist für ihn Körperlichkeit eng mit politischen Fragen und Rassendiskriminierung verknüpft. Schon während seiner Anfänge als Schauspieler erfuhr er einerseits aufgrund seiner Begabung - und auch seiner kulturellen Prägung in der afro- brasilianischen Kultur, die den Körperausdruck pflegt und feiert - seinen Körper als großes und befreiendes dramatisches Ausdruckspotential. Andererseits drängte ihn seine Körperlichkeit als Schwarzer in ganz bestimmte Theaterrollen, als Chauffeur, als Diener, zum Beispiel, und versagte ihm andere, große Rollen, in denen er wirklich all seine Gefühle und Emotionen, seine Ideen und Visionen hätte einbringen können. Aus einem Ankämpfen gegen diese Beschränkung heraus wandte er sich dem Tanz zu, denn er erkannte rasch, dass er als Tänzer, als Choreograph, ganz einfach sein eigener Erzähler werden konnte. Indem er aus der reichen Formenvielfalt brasilianischer Tanzkultur schöpfte, diese aber als Mittel der Erforschung seiner Situation und Identität anwandte, näherte er sich in seinem tänzerischen Stil dem deutschen Ausdruckstanz an, ohne dass er zu dieser Zeit auch nur von ihm gehört hatte. Diese Entwicklung war durch Parallelitäten zu Interessen entstanden, die auch der deutschen Tanzbewegung der Zwanziger- und Dreißigerjahre zugrundelagen, einerseits die Erforschung der natürlichen körperlichen Möglichkeiten, andererseits durch das Interesse an größere Zusammenhängen zwischen Mensch, Natur und der Welt als Schöpfung. Freilich waren es bei Ismael Ivo die Riten des Candomble, des Makumba und des Umbanda, die verborgenen Seiten der Karneval-Feste oder auch der Kampftanzkunst des Capoeira, die ihn anzogen und inspirierten, doch was er aus diesen Eindrücken machte - auch in seinem Interesse an sozialkritischen Themen - brachte ihn in oft verblüffende Nähe zum Ausdruckstanz. Sein Interesse an den sozialen Lebensbedingungen entstand auf eben diesem lebendigen Boden aus Tanzfeiern und Riten, hinter deren oft fröhlicher und lauter Fassade er die Armut, die alltäglichen Bedrängnisse und die Not seiner Landsleute nicht übersehen konnte.

 

 

Sichtbarmachung der Emotionalität der Unterdrückten - Ismael Ivos Tanz

 

Ismael Ivo wurde mit seinem Stück "Ritual of a Body in Moon" in Wien, in Österreich und in Deutschland erstmals bekannt. Das Thema ist "Moon as being the inner state", wie Ivo (Interview, 20.8.1994, Wien) erklärt. Am 17.3.1984 erklingen auf der Bühne des Wiener Serapionstheaters Afrotrommeln. Der in ein großes Tuch verhüllte Tänzer erscheint mit einem Leuchter in der Hand, den er auf der Bühne plaziert. Er windet sich das Tuch vom Körper, bis nur mehr sein Gesicht davon bedeckt ist und der Großteil des Tuchs als ein zusammengerollter überdimensionaler 'Rüssel' erscheint, hinter dem Ivo laut herauslacht, heraus kreischt, prustet, bis die Laute in das unmenschliches Quäken einer Trompete übergehen. Auf allen Vieren zu Boden gehend zeigt Ivo extreme Wirbelsäulenundulationen, wie sie dem panafrikanischen synkretistischen Stil des Afrotanz entstammen. Er spannt seinen 'Stoffrüssel', zeigt Kontraktionen. Dann ein langsam balancierendes Schreiten - da ist wieder die Afrotrommel - und afrikanische Schritte um seinen 'Rüssel' herum. Schrille Trompetenlaute begleiten einen Kampf des gequälten Tänzerkörpers auf dem Boden. Schluchzen - die Tuchmaske wird abgenommen - ein Flötensolo verändert abrupt die Stimmung. Der Tänzer richtet sich auf, räkelt und krümmt sich. Flatternde nach unten sinkende Handgesten, Wellenbewegungen und ein Tanz auf den Knien folgen. Flugähnliche Bewegungen tragen ihn empor. Endlich aufrecht stehend verbergen seine Handrücken sein Gesicht bevor er mit seinen Händen das Mondlicht so zu trinken scheint, dass man vermeint es selbst zu schmecken. ... Ein Berimbao (140) (brasilianischer Kalebassenbogen) erklingt, Ivo ist wie festgekettet am Boden. Zu Gesang windet er sich, dreht sich schließlich immer schneller um seinen Ellenbogen. ... Ivo erklettert eine Leiter, ein scharfer Lichtstrahl holt Details seines Körpers hervor: ein Zehentanz, ein Handtanz. ... Zu den nervösen Klängen einer Glasharfe baumelt Ivo kopfüber von der Leiterschräge und gleitet langsam, ganz langsam - zu Schreigesang und Glasharfenspiel hinab. ... Der Abschluss: Ivo hebt sein Tuch vom Boden, geht vor dem Trommler in die Knie, tanzt mit dem Tuch, verbeugt sich vor dem Leuchter und nimmt ihn hoch, bläst in seine 'Trompete', geht durchs Publikum ab - hoheitsvoll, in sein Tuch gehüllt wie in eine Robe. (Ausschnitte, Video: Ivo 1984).

Mit dem eineinhalbstündigen Solostück hatte er zuvor schon Alvin Ailey in Brasilien so begeistert, dass dieser ihn an seine New Yorker Schule einlud, obwohl er normalerweise Stipendien nur an nordamerikanische Staatsbürger vergab. Alvin Ailey war Ismael Ivo schon davor nicht nur als schwarzer Choreograph ein Begriff gewesen, sondern vor allem auch wegen seiner Kompanie, in der viele exzellente schwarze Tänzer und auch Japaner, Europäer und weiße Amerikaner miteinander arbeiteten. Brasilien ist kein Paradies hinsichtlich rassistischer Probleme. Ailey war nach Gastspielen seiner Tanztruppe in São Paolo und Rio de Janeiro- die Ismael Ivo zu seinem Bedauern wegen seiner eigenen Tournee versäumte - mit einigen Freunden noch etwas länger im Land geblieben und zufällig besuchten sie die Vorführung Ivos. Nach der Vorstellung sprach Ailey mit Ivo:

Ivo verbrachte vier Jahre am Alvin Ailey Dance Centre, wo er nach nur drei Monaten zur Teilnahme an der Arbeit der Kompanie eingeladen wurde und sowohl als Choreograph als auch als Repertoire-Tänzer der Kompanie ausgebildet wurde. Noch einige Zeit nachdem er "Ritual of a Body in Moon" erstmals in Wien aufgeführt hatte und auch noch nachdem er mit Regensburger die Wiener Tanzwochen startete, pendelte er von der Alvin Ailey Schule für ein oder zwei Monate nach Europa - vor allem Österreich und Deutschland - so wie es ihm eine recht großzügige Vereinbarung mit der Ailey Kompanie gestattete. Diese außergewöhnliche Regelung war ihm zuerst aufgrund der Erfolge seiner Solostücke am Off-Broadway - Ivo erwähnte etwa einen Artikel in der Times über seine erste Performance am La Mama Theater in New York - gewährt worden.

"Ritual of a Body in Moon" enthält Anklänge an brasilianischen Tanzriten und ist doch in erster Linie moderner Ausdruckstanz. Ivo sagt:

Ismael Ivo ist es auf diese Weise gelungen, eine für Europa relevante Form moderner Bühnentanzkunst zu entwickeln, die ihn trotz jahrelangen Aufenthalts in Nordamerika und in Europa nicht dazu gezwungen hat, seine Herkunft und seine Identität als schwarzer Brasilia- ner zu verleugnen, sondern ihm im Gegenteil ermöglicht, seine sozialpolitischen Anliegen und sein Bemühen um Verständnis für die Kultur seiner Heimat zu transportieren. In einem rückblickenden Gespräch (Interview, 12.1.1995, Wien) vergleicht er die Erfahrungen von New York mit jenen des deutschsprachigen Europa:

Ivo greift in seinen Stücken immer wieder das Problem der Rassendiskriminierung auf, jedoch selten so zentral, wie in seinem 1987 im Berliner Literaturhaus uraufgeführten Stück "Under Skin". Es entstand mitten in der Zeit und im Zusammenhang mit der Inhaftierung Mandelas. Winnie Mandelas Buch über ihre Erfahrungen mit dem Apartheid-System hat es entscheidend beeinflusst. Zwei Jahre später, 1989, tanzte Ivo im Berliner Schillertheater sein "Delirium of Childhood" in Uraufführung, ein Solo über das Thema Kindertod durch Hunger. Die wichtigste Inspirationsquelle zu diesem Stück war ein Buch der indischen Autorin Kamala Mandarndaya, "The Hunger Project", darin insbesondere die Geschichte eines afrikanischen Knaben, der jene gefürchtete Hungergrenze von Kindern überschritten hatte, hinter der keine Nahrungsgabe ihren Tod mehr aufzuhalten vermag. Und Mandarndaya beschreibt, wie das Kind nach jedem Missglückten Versucht Nahrung zu sich zu nehmen mehr und mehr in traumwandlerische Zustände gerät, in verzückte Delirien. Ivo erzählt über dieses Buch und seine Arbeit:

Die Begleitmusik zu "Delirium of a Childhood" entstammt einerseits Gustav Mahlers "Kindertotenlieder" andererseits einer UNESCO-Collection afrikanischer Wiegenlieder.

Es sind immer wieder existentialistische Sichtweisen, die Ivo faszinieren. So hat Ivo in seinem 1991 uraufgeführten Stück "Kreisrunde Ruinen" einen existentialistischen Text des argentinischen Dichters Jorge Luis Borges verarbeitet. "Im Traum des Mannes, der träumte, erwachte der Geträumte zum Leben. Erleichtert, beschämt, entsetzt erkannte er, dass auch er nur ein Scheinbild war, dass ein anderer ihn erträumte" (Borges zitiert nach Wangenheim 1991, Video). Die Performance entstand in enger Zusammenarbeit mit deutschen Künstlern. Annette Wangenheim (ibid.) berichtet:

"Labyrinthos", Ivos erste Gruppenchoreographie, entstand dann 1993. Die Vorarbeit dazu war eine Choreographie, die Ivo für die sechsköpfige Londoner Truppe "Common Ground" kreierte, die auch drei Körperbehinderte, einen im Rollstuhl und zwei gehör- geschädigte Mitglieder hatte. Die Inspirationsquelle zu diesem Stück ist ein anderer 'Liebling' Ivos, die griechische Mythologie. Die Geschichte entwickelte sich als Trio und zwischen den Figuren des Minotaurus - halb Stier und halb Mensch, des Theseus und der Ariadne. Dann kam im selben Jahr "Francis Bacon" als Zusammenarbeit mit Johann Kresnik. Die Idee hatte Ivo, als er in Japan, gemeinsam mit dem Choreographen Ushio Amagatsu und dem Pianisten Takashi Kako, an ihrem Stück "Apocalypse" arbeitete. Amagatsu wies ihn darauf hin, dass es Ähnlichkeiten zwischen Ivos Körperarbeit und den Gemälden von Francis Bacon gäbe. An Bacon faszinierte Ivo die Radikalität, mit der er seiner Gesellschaft einen Spiegel vorhält, in einer Kunst, die nicht Unterhaltung ist, sondern notwendige geistige Nahrung an Ideen, Reflexionen, an Dialog und Austausch. "Bacon legt seinen Finger an jene Wunde, die unsere Kompetenzen und Inkompetenzen im menschlichen Miteinander betrifft", sagt Ivo. Und so kam es wieder zu einer seiner Auseinandersetzungen mit dem Existentialismus und zu einem Blick auf den Tod:

Auch diese Thematik ist eng mit Ivos brasilianischer Herkunft verbunden und spiegelt eine Sehnsucht wider, Elemente brasilianischer Identität in seine moderne kosmopolitische Kunst und Lebensweise zu integrieren und seinem westlichen Publikum zugänglich zu machen:

Letztlich ist der Tod für Ivo nicht nur in dem Spannungsfeld zwischen westlicher Negierung und brasilianischer Festkultur, sondern auch für seine Identität als Tanz- und Performancekünstler von eigenständiger Bedeutung:

In diesem Sinne identifiziert Ivo sich mit Bacon, der sich seinem Betrachter mit dem Wunsch nähert, ihn gewaltsam 'zum Leben hinzuwenden', dessen Darstellungen die Zuseher durch- dringen sollten, sie wirklich berühren wollen, um deren Sichtweisen zu erweitern, auch schockartig oder gewaltsam, um ihre Emotionen zu treffen und Impulse zu gesellschaftlichen Veränderungen zu geben. Ismael Ivo gesteht ein:

In seiner nächsten Arbeit wandte sich Ivo Shakespeare zu. Er gestaltet "Othello" als Tanzstück. An dem Thema interessierte ihn neben dem Kannibalismus als künstlerische Metapher possessiver Liebe, die existentielle Frage nach der Bedeutung schwarzer Identität in einer weißen Welt.

 

 

Südasiatischer Tanz in der Emigration als kulturverändernde Kunst

 

Ähnlich wie der Tanz afroamerikanischer Provenienz hat auch südasiatische Bühnentanzkunst als nationale Unterhaltungskunst ihren Beitrag in der Produktion von nationaler Identität und neuen Identifikationsfiguren übernommen und betreibt dieses Anliegen auch in der Emigration in England. Man findet neuen Identifikationsfiguren in modernen synkretistischen Neuschöpfungen ebenso, wie in Neuaufarbeitungen der alten südasiatischen rituellen Themen, Dramen und Mythen.

Die Tänzerin Pushkala Gopal und ihr männlicher Partner Unnikrishnan zeigen eine ganz neue Gestalt der weiblichen Heldin Draupadi aus der indischen Mahabharata auf der Bühne. Es werden zeitgenössisch relevante Fragen aus dem traditionellen Material extrahiert oder auch neu gestellt. Sie lassen Draupadi diese Geschichte eines 'gerechten' Krieges erzählen, die damit natürlich nicht mehr jene Geschichte ist, die der Erzähler Vyasa vor etwa zweitausend Jahren niederlegte. Die Gestalt der Draupadi thematisiert durch ihren besonderen Blickwinkel an erster Stelle Trauer - Trauer um ihre Kinder, die sie verloren hat. Draupadi hat Macht gewonnen und ihr Königreich zurückerhalten. - Aber ist sie damit auch wirklich glücklich? Die Antwort fällt negativ aus, denn Macht und Herrschaft kann ihr kein Glück garantieren, bedeuten vielmehr Kampf ein Leben lang und sind vielleicht an sich auch nicht das, wonach sich man sich in Wirklichkeit sehnt. Das dritte Thema betrifft dann eine lebensphilosophische Frage: Kann man durch persönliche Taten wirklich etwas an der Zukunft verändern? Die angebotene Lösung ist ambivalent: nicht alle Situationen sind durch Machteingriffe zu bemeistern. Auch Kriege können indes notwendig sein, um etwas Positives zu schützen, etwas das durchaus außerhalb von Gewinn- und Machtinteressen liegt. Die Mahabharata handelt von so einem Fall.

In dem modernen Tanztheaterstück wird die Handlung in erster Linie über zwei Figuren transportiert: Draupadi und Krishna. Doch Krishna führt diesmal nicht - wie in der Originalerzählung - Arjuna auf seinem Kampfwagen in den Krieg, vielmehr begleitet er Draupadi auf einer symbolische Wagenfahrt, die eigentlich eine Reise durch ihre Persönlichkeit, eine innere Reise ist - womit sich ähnlich wie in Ismael Ivos Arbeit die Kulturkritik mit einer Offenlegung subjektiver Emotionalität, der Erlebniswelt der kulturell Benachteiligten - in diesem Fall der Frau - und mit psychologischen Erkenntnissen verbindet.

Anders als in den traditionellen Tanztheaterstücken ist Krishna nicht archetypischer Liebhaber, sondern er steht hier - seiner Erotik entkleidet - in einem platonischen Verhältnis zu Draupadi:

Krishna verwandelt sich in dem Tanztheaterstück durch das Wechseln einfacher Requisiten in sieben verschiedene Gestalten aus der Heldenpalette der Legende, die hier zugleich aus Draupadis Einbildungskraft und Erinnerungen entspringen, wie Yudishtira, Karuna, usw. Aber er bleibt immer sichtbar der Gott Krishna, der diese Persönlichkeiten annimmt, um Draupadi auf ihrer Reise nach innen und durch ihr Leben weiterzuführen.

Pushkala Gopal und Unnikrishnan übersetzen und thematisieren auf diese Weise Teile indischer Kultur und transkulturelle, allgemeinmenschliche Fragestellungen, die quer durch die Kulturen Menschen ergreifen und bewegen, und auch frauenspezifische Perspektiven, wie sie im zurückliegenden Kapitel über "Tanz und das Fremde", im Abschnitt über "Geschlechterrollen" angerissen wurden.

Andere südasiatische Produktionen setzen sich noch expliziter mit feministischen Themen auseinander. Hier war sicher auch das Wirken verschiedener westlicher Frauentanzgruppen, wie die Twyla Tharps (Hanna 1983: 42) und von Performerinnen wie Joan Jonas (Almhofer 1986: 38f,47) von Bedeutung, die sich in den Sechzigern und Siebzigern um eine Transformation des gesellschaftlichen und politischen Frauenbildes engagiert haben. Die Frauenthematik hat für Inderinnen in Asien und Europa eine erhöhte Dringlichkeit und erneute brennende Aktualität durch das Wiederaufleben frauenfeindlicher Praktiken, wie Witwen- und Mitgiftmorde, in Indien erhalten.

Im Rahmen der interkulturellen Forschungsgemeinschaft Pan, die ihren Sitz im Goldsmith College in London hat, entstand unter der Direktion von John Martin 1990 die Produktion "Shakti - The Power of Women". Die Tänzerin und Schauspielerin Mallika Sarabhai stellte mythische und historische indische Frauenfiguren als einen neuen Typus des weiblichen indischen Helden vor. Das Programm enthielt:

Auch die Musik, die unter der Leitung des Komponisten Adrian Lee teils zusammengestellt und teils neu geschaffen wurde, trägt bei diesem Projekt einem transkulturellen Anliegen Rechnung:

So wie in anderen Pan-Projects wurde auch hier versucht, den Horizont britischer Aufführungskontexte zu erweitern und Ideen und Praktiken einer interdisziplinären und interkulturellen Arbeit zu entwickeln, welche sowohl den Reichtum als auch die Varianten- breite britischer Gegenwartskultur reflektieren. In anderen dieser Projekte wurden bereits Performer aus Indien, Afrika, der Karibik und aus China gezeigt, die auch Workshops und Sommerschulen gemeinsam mit britischen professionellen Performern leiteten oder auch über längere Zeiträume am Goldsmiths' College Kurse anboten. 1989 war der Rahmen beispielsweise durch ein Maskentheater-Treffen gesetzt. Pan-Project kooperiert mit Institutionen im Ausland und kreiert eben auch Aufführungen, wie die genannte, die sowohl national als auch international auf Tournee geschickt werden.

Finanziert werden diese Produktionen durch das Arts Council of Great Britain sowie andere lokale staatliche Administrationsstellen, durch gemeinnützige private Fonds und verschiedene Subventionen aus der Industrie. Die genannten Arbeiten von Pushkala Gopal und Unnikrishnan sowie von Mallika Sarabhai und ihren Kollegen aus verschiedenen Kulturen sind alle auch Beispiele dafür, wie durch eine gezielte Kulturförderungspolitik des Gastgeberlandes sozialkritische Stücke, die auch die Herkunftskultur verändern helfen, entstehen könnte, indem das soziopsychologische Potential neuer fremder und interkulturell ausgerichteter Bühnenkunst, sowie kreative Möglichkeiten der Selektion alter Materialien und Einführung neuer Blickwinkel und Schwerpunkte ausgelotet werden.

 

 

Neue Tanzriten

 

In Bezug auf die Wiederbelebung und Neuschaffung von tänzerischen Gemeinschaftsriten im 20. Jahrhundert kommt dem Werk Labans große Bedeutung zu. Rudolf von Laban bemühte sich mittels seiner 'Bewegungschöre' um die Ethik und Moral sowohl der Zuseher als auch der Teilnehmer. Auf seinen Reisen, die ihn nach Südeuropa bis zur Türkei (1989: 69) und nach Amerika führten, wo er die Tänze der Sufi, türkische, afrikanische, indianische und auch asiatische Tänze sehen konnte, entdeckte er die Macht des Gemeinschaftstanzes für sich, der er in seinen Stücken immer wieder Ausdruck verlieh (1989: 143). In Amerika traf Laban auf Indianer, deren "Maskentänze, Fruchtbarkeitstänze, Kampftänze, Totenfeiern und Medizintänze" er mit großer Anteilnahme verfolgte (ibid.: 157-161). insbesondere an diesen Tänzen erkannte er,

Ich habe in den Abschnitten über kontextbedingte Veränderungen der Funktion und des Sozialstatus von Tänzern bereits dargelegt, dass nicht jede Kultur der Welt soviel Aufhebens um individuelle Stars wie die euroamerikanische macht. In Bezug auf die Auffassungen Labans besteht jedoch der Verdacht, dass sein Interesse am Gemeinschaftstanz ihn bisweilen den Blick für nichts desto trotz vorhandene individuelle Variationen und Leistungen verlieren lässt. Denn mit seiner Idee der 'Festkultur' vertrat er in erster Linie einen stark pädagogischen Anspruch, ein Anspruch, der bis heute in der Tanztherapie und Tanzpädagogik vor allem in Großbritannien weiter gepflegt wird. Elemente dieser Festkultur sind die Feier des Kollektivs, des sozialen Zusammenhalts und der Eingliederung des einzelnen in eine Menge von gleichberechtigten anderen Menschen (141). Unglücklicherweise sind gerade hierin Verbindungen zu den Propagandamethoden des Faschismus und seinen Feiern des Kollektivs zu finden. Im übrigen hat er selbst den politischen, kommerziellen und weltanschaulichen Missbrauch seiner Idee der 'Bewegungschöre' schon früh (vor 1935) kritisiert (Laban 1989:193), freilich ohne selbst von der Einbindung seiner Bewegungschöre in den Rahmen faschistischer Großfeiern - im Sinne seiner 'Festkultur' und als 'reiner Ausdruck von Bewegungsfreude' - Abstand zu nehmen. Laban blieb stets von der Idee des Festes als kollektives Ritual fasziniert. Er organisiert schon früh ritenähnliche Feste zu verschiedenen zyklischen Ereignissen der Natur, wie etwa Sonnenriten, in denen die Idee des Bewegungschores ihren eigentlichen Ursprung hat (ibid.: 195).

Die Deutsche Mary Wigman fand ebenso wie die Amerikanerin Martha Graham im Tanz Ausdruck für persönliche und gemeinschaftliche Prozesse der Transformation zur Bewältigung von Krisen und gewaltsamen Erschütterungen. Wigman suchte nach Zugängen zu einer urtümlichen Spiritualität, nach quasimythologischen Formen, die einen Raum für emotionale Intensität als Qualität religiöser Erfahrung schuf. Ihr Repertoire umfasste Titel wie 'Totenmal', 'Ekstatische Tänze' (bestehend aus den Teilen 'Gebet', 'Opfer', 'Götzendienst', 'Tempeltanz') oder 'Die Feier' (die erste Fassung enthält die Teile 'Gruß', 'Der Bann', 'Die Weihe', 'Lied', die endgültige Fassung enthält 'Der Tempel', 'Im Zeichen des Dunklen', 'Festlicher Ausklang'), 'Szenen aus einem Tanzdrama' (enthält u.a. 'Aufruf', 'Wanderung', 'Chaos', 'Die Wende', 'Vision') oder 'Das Opfer'. Sie alle verweisen auf eine besondere Art der Abstraktion, die einen eigenen Typus von universalistischer Mythisierung prägt und die gleichzeitig den Rückzug in die Exotik wie auch den Versuch beinhaltet, Bedeutung durch Universalität zu erlangen (Innes 1981:54; Sorell 1986: 333-342). In diesem Sinne nimmt Wigman sich gemeinsam mit ihrer Tanztruppe auch Stravinskys 'Frühlingsopfers' an, einem Ballett, das so auch in vielerlei Hinsicht die Exotismen und mythischen Elemente des Expressionismus in sich vereint. Über das berühmte Stück 'Totenmal', das 1930 in München uraufgeführt wurde, schreibt Wigman:

So vereinte Wigman hier Aspekte persönlicher und kollektiver Riten unter dem Thema der Trauer der Frauen über die Gefallenen der Kriege. Dass sie mit solchen Themen auch auf heftigen Widerspruch ihrer Zeitgenossen stieß, kann nicht überraschen (ibid.: 107f).

Eine besondere Rolle in Bezug auf die Wiederbelebung ritueller Aspekte auf der Bühne kommt im Westen dem Einfluss von emigrierten Asiaten zu. Der Japaner Hidyuki Yano war zum Beispiel einer der ersten in Frankreich, die den Körper des Tänzers nicht als bloß technisches Instrument auffassten sondern ihm rituelle und transformative Agens zusprachen. Wie Yano in Paris hat auch die Japanerin Tei Takei in New York eine Art Tanz geschaffen, der sich mit Ritualen verbindet und aus dem Leben entwickelt. Das spirituelle und poetische 'Light', ein großes choreographisches Werk in 15 Teilen, das sie mit ihrer Truppe tanzte, wurde jedes Jahr um ein oder zwei Fortsetzungen erweitert und verstand sich als eine Beschwörung der Erde und der Brüderlichkeit (Brunel 1982:27). Das Werk nahm dabei direkte Anleihen bei asiatischen Riten. Die Gesänge erinnerten an buddhistische Zeremonien. Dem Stampfen der Füße auf der Erde und den Gebetsgesten, die sich in Anrufungen auf der ganzen Welt finden, wie das Emporstrecken der Arme gegen die Sonne, kommt große Bedeutung zu. Unter dem Eindruck kollektiver außereuropäischer traditioneller und moderner Formen ritueller und ritualähnlicher Tänze kommt es im Westen seit der Jahrhundertwende immer wieder zu eigenständigen Versuchen in einer ähnlichen Richtung. Die Amerikanerin Ann Halprin veranstaltete in den Achtzigerjahren in Kalifornien vergleichbare Aktivitäten. Sie bezog den Tanz noch stärker als die genannten asiatischen Proponenten ins Leben ein, weitet ihn aus bis zu Gruppenprozessen, "bei denen ausgebildete Tänzer und Laien in gemeinsamen Improvisationen eine kollektive Ausdrucksform finden, die wieder an die großen Riten der Menschheit anschließt" (ibid.).

In der Erzeugung gemeinschaftlicher und ritualähnlicher Erfahrung durch performative körperliche Bewegung kommt der Suche nach neuen Performanceräumen besondere Bedeutung zu. Viele Künstler fanden einerseits in der frontalen westlichen Bühne ein unbefriedigendes Ambiente dafür, ihre Zuseher möglichst direkt in ihre Aktionen einzubeziehen. Andererseits wurden neue Performanceräume auch gerade aus der Not der Off-Szene und aus dem Mangel an Bühnenangeboten heraus erfunden und erobert. Neben Plätzen in der freien Natur, Wiesen und Bergkuppen, wie sie etwa Laban für seine kollektiven Feiern verwendete, neben verschiedensten leerstehenden Räumen, wie Fabrikhallen und Schuppen, wie sie Mnouchkine mit ihren Truppenmitgliedern adaptierte, ist es dann immer wieder die Straße, oft mitsamt dem architektonischen Raum der Häuserfassaden, die für Performancekünstler auf der ganzen Welt zur Bühne wird. Die Straße ist in besonderem Ausmaß ein Performanceraum, in dem der kommunikative Spezialist gefragt ist - der, der in kürzester Zeit die Blicke auf sich ziehen kann, der eine Intensität des Spektakels rasch aufzubauen weiß, und der auch betroffen macht und schockiert - soweit dies von öffentlichen Ordnungshütern toleriert wird. Ismael Ivo ist ein solcher kommunikativer Spezialist, einer, dessen Karriere so begann und dessen Stilform und Inhalte durch diesen Beginn bis zu seiner heutigen internationalen Präsenz als Bühnenkünstler entscheidend geprägt wurden. Im Spannungsfeld zwischen bloß sensationsbetontem Spektakel und Tanzereignissen mit eigentlich rituellen, eben transformativen Anliegen gewinnt die Erlebbarmachung weltanschaulicher und spiritueller Bereiche über die Erzeugung einer spezifischen rituellen Erfahrungsintensität, die nicht auf Sensation sondern auf Läuterung beruht, an qualitativ unterscheidender Bedeutung.

 

 

Spiritualität und rituelle Intensität der Erfahrung im Theater

 

Immer wieder haben sich die Künstler der performativen Genre auf die Suche nach einer spirituellen, magischen oder rituellen Intensität der Erfahrung im Theater gemacht. Ähnlich wie Wigman oder Laban verstand auch Artaud sein stark auf choreographischer Bewegung basierendes provokatives Theater als Gesellschaftstherapie und griff bewusst den sozial- therapeutischen Effekt von Riten wieder auf. Er orientierte sich dabei jedoch weder an lebenszyklischen oder mystischen sondern eher an schicksalskorrigierenden und insbesondere magischen Riten. Für Artaud verband sich die Suche nach nichteuropäischen Theaterformen explizit mit der Suche nach 'unzivilisierten' Formen, womit er sich auch im Rahmen der Theaterwelt deutlich von Anderen abhob, die sich mit außereuropäischen Formen auseinander setzten: von Strindbergs thematischen Ausflügen zur indischen Religion ebenso, wie etwa von Yeats Imitation des japanischen Nô als seinem Streben nach Nachahmung einer edlen und hochentwickelten Kunst. Was Artaud am balinesischen Tanzdrama faszinierte, war das, was er als 'ein instinktives Survival der Magie' begriff, in den, wie er irrtümlich annahm, 'unwillkürlichen' und 'visionären' Gesten der Tänzerinnen, die 'die Bewegung religiöser Furcht' erweckten, 'welche die Massen bei der Pariser Kolonialausstellung ergriff'. Er glaubte, dass sowohl sein Théâtre Alfred Jarry als auch das balinesische Tanzdrama aus denselben 'magischen Quellen desselben primitiven Bewusstseins' gespeist würden. Artaud lehnte Logik und Vernunft 'als jene Ketten ab, die uns in einer versteinernden Dummheit des Geistes binden'. Stattdessen erhebt er irrationale Spontaneität und Delirium zu positiven Werten. Sie könnten unterdrückte Tendenzen in einem Prozess der emotionalen Reinigung analog dem klassisch-tragischem Effekt der Katharsis befreien (Innes 1981:58). Aus anderen Äußerungen wird klar, dass das balinesische Theater für Artaud nicht nur ein ideales Beispiel für magisches und mythologisches Drama war. Er hob daran etwas hervor, das er 'reflektive Mathematik' nannte, welche sich in dessen präzisen, regulierten und unpersönlichen Gesten erwies, die alle 'methodisch kalkulierte Effekte' hervorriefen, die den 'Rückzug in spontane Improvisation verboten' (ibid.: 64).

Die Kluften in Artauds Niederschriften, die Widersprüche und Brüche, die sich darin finden, erscheinen als Metaphern für die Verbindung zwischen dem Physischen und dem Spirituellen, für die es im okzidentalen Raum keine Worte gibt. Die Metaphysik soll sich dem Geist durch die Haut einprägen, die Dynamik des Bewusstseins soll sich in szenischen Rhythmen verkörpern, die lineare Harmonie eines Bildes soll direkt in das Gehirn eingreifen. Das Theater Artauds muss eine rituelle Sprache aus der Wiederentdeckung physischer Zeichen oder 'Hieroglyphen' entwickeln, während der verbale Ausdruck zur Anrufung gerät. Zu seinem 'Theater der Grausamkeit' gehört auch die thematische Inversion von Gut und Böse, als einem allgemeinen Charakteristikum der anarchistischen Avantgarde seit Strindberg. Denn die Natur wird als antisozial definiert, während die Zivilisation - und insbesondere die moralischen Anforderungen des Christentums - schwächende Bindungen darstellen, die entkräftete Eliten zur Unterdrückung der Starken entworfen haben (ibid.: 59).

Wie kommt nun Artaud zu solchen Sichtweisen? In unserer westlichen Gesellschaft finden Entfremdungsprozesse auf allen Ebenen des Seins statt. Wissenschaftsgläubigkeit und der industrielle Produktionsprozess fördern nach Heintel (1985: 291-294) eine "Enteignung an Erfahrung". Für diesen Prozess wird häufig die Massenkultur, mit Massenkonsum und Massenmedien mitverantwortlich gemacht (z.B. Maschke 1996: 44) (142). Hierbei spielt auch die christliche Kirche in ihrer Wirkung als Enteigner an persönlicher spiritueller Erfahrung eine nicht zu unterschätzende Rolle (ibid.: 56f., Goodman 1983: 207, 209). Goodman assoziiert in diesem Zusammenhang die religiöse Praxis mittelalterlicher Hexen mit einer egalitären Religionsform der 'Hagazussas' oder 'Zaunreiterinnen'. Das egalitäre Wesen dieser Religion, für deren Wiederbelebung Goodman eintritt, besteht in erster Linie darin, dass jede einzelne Person die Gelegenheit erhält, das 'Heilige' selbst und direkt zu erfahren. Es sind keine kirchlichen Spezialisten, wie etwa Priester, als Vermittler zum Heiligen nötig, die die persönliche Erfahrung des Heiligen durch den Laien verhindern.

Populärere Interpretationen aus New-Age Publikationen berufen sich immer wieder auf das Vorbild ekstatischer Religionsformen und stellen den etablierten 'organisierten' Formen von Religiosität Beispiele von Formen mystischer Traditionen entgegen, in denen ein unmittelbarer Zugang zum Göttlichen gesucht worden ist. Es ist mehrfach hervorgehoben worden (z.B. Zinser 1992:282), dass alle institutionell eingebundenen Religionen Ekstase als eine Bedrohung ihrer institutionellen Regeln und ihrer 'Monopolstellung' bezüglich des 'Heiligen' auffassen müssen. Die Ekstase an sich widerspricht schon der christlichen Glaubenslehre, die die Möglichkeit eines direkten Kontaktes zu Gott negiert. Man kann aus dieser Sichtweise das Bestehen einer Konkurrenz der Ekstase zur christlichen Lehre ableiten, und eine mögliche Begründung dafür finden, weshalb es zu einer Marginalisierung ekstatischer Religionsformen und zu sich immer wiederholenden Prozessen der 'Sekten'-Bildung kommt. In einem solchen erlebensorientierten Ansatz, wird in der Ekstase eine Grundfähigkeit und Grundanlage menschlicher Spiritualität erblickt, der jedoch aufgrund von Machtinteressen durch die etablierten Kirchen entgegengesteuert wird. Dieser Auffassung steht die soziologistische These von Douglas gegenüber, welche besagt, dass ekstatische Religionsformen und Sektenbildung notwendig religiöser Ausdruck eines relativ unstrukturierten Stadiums von Gesellschaftstypen und -teilgruppen sind (Douglas 1993). Hiernach könnte man natürlich keinen Sinn mehr darin erblicken, so wie dies Goodman vorschlägt, ekstatische spirituelle Erlebnisse per se und ohne Rücksicht auf die soziale Herkunft der Beteiligten wiederbeleben zu wollen - denn hier wird die allgemeinmenschliche Natur eines Wunsches und Strebens nach spirituell motivierter Ekstase implizit geleugnet. Indessen drängt sich hier die Frage auf, wie weit stark strukturierte Gesellschaften ein ebensolches ziemlich generell verbreitetes Bedürfnis nicht bloß gesellschaftlich so stark unterdrücken, dass es nicht zur Entfaltung gelangen kann. Man wird wohl auch Goodmans Tendenz, moderne westliche städtische Gesellschaften als Formen mit flexiblen Klassifikationsschemen, starker Wettbewerbsorientierung und mit relativ gleichen Ausgangsbedingungen für alle zu betrachten, eher kritisch bewerten müssen. Ekstase anzustreben gilt jedenfalls in unseren Breitengraden bis zum heutigen Tag generell als kein prestigeträchtiges Unterfangen.

Die Eliminierung von Tanz aus dem christlichen Gottesdienst ist immer wieder unter dem Aspekt der Ekstasefeindlichkeit der Kirche betrachtet worden. Dennoch gibt es heute - vor allem seitens der anglikanischen Kirche - immer wieder Versuche der Wiedereinbindung von Tanz in Gottesdiensten und der Wiederbelebung sakralen Tanzes in Kirchen. Doch nicht nur die Kirche, auch die Wissenschaft steht bis heute der subjektiven Erfahrung von Ekstatikern sehr skeptisch gegenüber. Ekstatische Erfahrung wird für die wissenschaftliche Deutung des Ekstasephänomens nicht gerne herangezogen. Man vertraut hier weit lieber Ergebnissen der Hirnforschung. Auch hier findet 'Enteignung von ekstatischer spiritueller Erfahrung' statt (Zurfluh 1981: 482). Wissenschaftler, die sich 'zu sehr' auf eigene Erfahrung berufen, werden schnell ins abseits gedrängt. Religiöse Erfahrungen und Erklärungsmodelle werden als irrational abgelehnt und die Existenz von außergewöhnlichen Wahrnehmungen, wie außerkörperliche Wahrnehmungen, Hellsehen, Wahrsagen, Telepathie, Telekinese usw. wird bestritten oder bleibt unberücksichtigt. Tanz war und ist dennoch für viele Menschen unterschiedlichster Herkunft auf der ganzen Welt und auch im Westen ein mystischer und ekstatischer Weg zu unmittelbarer spiritueller Erfahrung geblieben.

Die theatertheoretisch orientierte Arbeit Schechners zur Analyse von Erfahrungsintensität, spiegelt in gewisser Weise das wachsende künstlerische Interesse an Bezügen zwischen modernen performativen Formen und traditionellen rituellen Formen auf wissenschaftlicher Ebene wieder. 'In gewisser Weise' insofern, als er sich konsequent und im Einklang mit den wissenschaftlichen Vorbehalten unserer Zeit der Frage nach dem Platz der Spiritualität entzieht. Schechner (1990: bes. 18f) untersuchte die Gesetzmäßigkeiten, die hinter dem Erlebnis der 'Intensität' einer Aufführung stehen, im Zusammenhang mit seinen Studien über universale Prinzipien des Theaters, die insbesondere auch Grenzbereiche theatralischen Erlebens umfassen. Er erkannte, dass diese Intensität im Zusammenhang mit sich akkumulierender Energie oder speziellen 'performativen Rhythmen' steht. Zu diesen Rhythmen gehören zum Beispiel bewusst eingesetzte Monotonie oder sich steigerndes Tempo. Gleichzeitig finden kollektive Erfahrungen, zum Beispiel von Bewusstseinsveränderung statt. Diese Merkmale verfolgt Schechner vom Ritual zum Theater und in ihnen findet er das Ritual im Theater und auch in anderen performativen Situationen, wie zum Beispiel öffentlichem Fußballspiel, wieder. Der Gesamtprozess einer Aufführung von der ersten Vorbereitungs- und Trainingsphase bis zum gemeinsamen Essen und Trinken der Schauspieler nach der Vorführung weist nach Schechner (ibid.: 26-31) Rhythmen ähnlich jenen von Initiationsriten auf, wie sie Van Gennep (1960) als eine Abfolge von Separation, Transition und Inkorporation benannt und analysiert hat.

Die Theateranthropologie hat sich mehr als die Tanzwissenschaft mit Phänomenen der Bewusstseinsveränderung durch performative Techniken auseinandergesetzt, vor allem, indem sie Konzepte über Vorgänge bei Ritualen aus der Ethnologie übernahm, um sie in theatertechnische Theorienbildung einzubeziehen. Diese funktionelle Ausrichtung trübt jedoch bisweilen den Blick für ethnographische Details. Schechner (ibid.: 143-146) glaubt, die Vorgänge der Bewusstseinsveränderung von Schauspielern in zwei grundsätzliche Formen, Ekstase und Trance, gliedern zu können. Ekstase entstehe durch die Subtraktion der Eigenpersönlichkeit, er vergleicht sie mit dem Erleben des Schamanen und dem was Grotowski den 'heiligen Schauspieler' nennt. Trance indessen bedeute die Aneignung von etwas Neuem, vergleichbar dem Erleben von Besessenheit und dem Charakterschauspieler vom Typ Stanislawskis. Um sein Argument hier durchzubringen, ist er allerdings gezwungen, sich auf eine der üblichen immunisierenden Theorien der Leugnung von spiritueller Realität zurückzuziehen: Besessenheit ist gespielt, das Bewusstsein des Besessenen ist in 'betrügerischer Weise' intakt. Trance wird so zur bloß gewährenlassenden Hingabe an verdrängte Wünsche, Ekstase zum entleerenden Fortschwingen des Körpers. Die Wahrheit eines therapeutischen Rituals - die konkrete Natur und Form des Eingriffs in ein Schicksal - hat in seinen Konstrukten keinen Platz, der sich von dem üblichen Schein der Theaterwelt irgendwie unterscheiden ließe. Unkritisch und wohl auch ohne tieferen Erfahrungshintergrund vermerkt er erstaunt, dass nach ethnographischen Berichten auch schamanistische Ekstase in Formen der Besessenheit resultieren kann. Ohne zu erwähnen, aus welchem Kontext er seine Information bezieht, behauptet er in der Folge, dass der 'ekstatische Flug' den Körper des Schamanen 'transparent' und 'verletzlich' mache. Es ist müßig mehr seiner Verallgemeinerungen anzuführen: Ich habe in dem Abschnitt über rituelle Wirksamkeit auf die Bedenklichkeit solcher etischen Kategorisierungen und oberflächlichen interkulturellen Vergleiche hingewiesen. Schechner, dessen originelle Ansätze mein Denken immer wieder befruchteten, interessiert sich hier nicht für eine 'dichte Beschreibung' konkreter ritueller Wahrheit, und er trennt in diesen Untersuchungen rituelle Intensität in meines Erachtens unzulässiger Weise von Spiritualität und anderen Metaebenen des Wissens.

Anders als die meisten Wissenschaftler und Theatertheoretiker fanden professionelle performative Künstler auf der Suche nach Intensität und Bühnenpräsenz jedenfalls immer wieder zu persönlichen Formen von Spiritualität. Ruth St. Denis, eine der wichtigsten Initiatorinnen des modernen amerikanischen Tanzes, betrachtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Körper als Manifestation der spirituellen Kondition des Menschen. Sie suchte den Ausdruck des Heiligen und der höchsten spirituellen Entfaltung im Tanz. Die Dalcroze- und Laban-Schülerin Mary Wigman benützte ebenfalls den Körper als Spiegel spiritueller Stadien des menschlichen Seins (Hanna 1983: 39). Auch für Laban (1989:115-117) ist der wahre Tanz wesentlich spirituell. Er sieht im Tanz "das Land des Schweigens", ein Land der Seele, in dem der Tänzer die Welt des "schwingenden Tempel" erfährt.

Aus diesem Land soll der Tänzer seinen Zusehern "Blüten und Früchte" bringen, die "aus den Seelenurgründen gewebten Kunstwerke, die man Tanz nennt". 1933 schrieb Mary Wigman:

Diese Anforderung an die Tänzer, ihr Publikum so zu faszinieren, dass sie in direkte Kommunikation ohne störende Kommentierung durch den Ratio gelangen, ist vergleichbar mit dem im Kapitel über rituelle Wirkkraft erläuterten singhalesischen Konzept des wasi kirima, das eine hypnoseähnliche Fixierung der Aufmerksamkeit des Zusehers auf den Ritualtänzer bewirkt, die als eine der Voraussetzungen zur Entfaltung der Heilwirkung des Rituals gilt.

Wäre die Entwicklung des Deutschen Ausdruckstanzes ungestört weiterverlaufen, so hätte sich mit großer Wahrscheinlichkeit im deutschsprachigen Raum eine Blüte therapeutischen Tanzes in einem engen Zusammenhang mit der Erforschung außereuropäischer ritueller Tänze entwickelt. Die Schockreaktion auf die grausamen Exzesse der national- sozialistischen Ära verhinderte bis heute eine umfassende Einbindung der heilsamen mystischen und magischen Bereiche der Tanzerfahrung in die Tanztherapie. Als Reaktion auf den Missbrauch des mystischen und rituellen Aspekts des modernen Tanzes und der 'Freikörperkultur' durch den Faschismus kam es zu einer extremen Gegenbewegung hin zu einem neuen, rationaleren, abstrakteren und entmystifizierten Tanz nach dem zweiten Weltkrieg, der die christliche Verhinderungspolitik gegenüber persönlicher und körperlicher religiöser und ekstatischer spiritueller Erfahrung unwillkürlich wieder verstärkte und auch noch über die historische Erfahrung rational untermauern konnte. Doch kann dies nur eine Pendelbewegung instabiler Natur sein, da sie letztendlich ein zutiefst menschliches Potential der transzendenten Erfahrung einfach leugnet. Die antimystische Haltung der postfaschistischen Ära des deutschsprachigen Raums reproduziert in tragischer Weise dieselbe Gefahr, der sie zu entgehen versucht: Der kulturelle Ausdruck der machtvollen spirituellen Sehnsucht nach ganzheitlichem Bewusstsein wird in Strömungen wie der New Age-Bewegung marginalisiert, die über Vermarktungsprozesse erneut in die Arme neofaschistischer Ideologien getrieben werden.

Brook (1985) unterscheidet zwischen einem 'tödlichen' und einem 'heiligen' Theater. Ein Theater, das Konventionen, Formen und Aufführungspraktiken enthält, ohne sich mit der Gesellschaft mitzuverändern, ist 'totes Theater'. Denn "Theater ist immer eine sich selbst zerstörende Kunst und immer in den Wind geschrieben" (ibid.: 19). Aus diesem Grund greift er zum Beispiel die Institution der Oper an (ibid.: 21) und verteidigt die Politik Chinas, die Peking Oper nicht mehr zu fördern (ibid.: 18). Demgegenüber soll das 'heilige Theater' jene Lücke schließen, die im Westen durch 'das Verrotten' der Riten hinterlassen blieb (ibid: 36). Einerseits sind alle Formen sakraler Kunst "unzweifelhaft durch die bürgerlichen Werte zerstört worden", andererseits muss das "Bedürfnis nach echter Berührung mit einer sakralen Unsichtbarkeit" durch das Theater erfüllt werden können (ibid.: 68). Ein 'heiliges Theater' soll das Unsichtbare zeigen und auch die Bedingungen, die die Wahrnehmung ermöglichen, bieten - sollte eine Zusammenkunft sein, die nach einer Unsichtbarkeit fahndet, um das Alltägliche zu durchdringen und zu beleben (ibid.: 80). Er beruft sich auf Artaudsche Ideen von rituellem Theater, wenn er die Sprache der actions, die Sprache der Töne, der 'Worte-als-Teil-der-Bewegung' und dergleichen mehr heraufbeschwört (ibid.: 69f). Brook sieht Cunningham (82f.) und auch Grotowski (ibid.: 85) als Vertreter dieser 'heiligen Kunst'. Cunninghams "ungemein trainierte Tänzer" gebrauchen ihre Disziplin, um die zarten Ströme bewusst werden zu lassen, die in einer Bewegung fließen, wenn sie sich zu erstenmal entfaltet:

Folgerichtig sind Tanzriten wie jene des Voodoo für Brook, anders als etwa für Schechner oder für Goffman, nicht in erster Linie Performance, sondern sie dienen der Erreichbarmachung der Götter, dem allnächtlichen Kontakt mit den großen Mächten und Mysterien, die den Tag regieren. Bewusstseinszustand und Spiritualität wirken gemeinsam, um 'heiliges Theater' zu ermöglichen.

Grotowski (1968:37-52) fasst - ähnlich wie Goffman - den Alltag als theatralische Inszenierung auf. Doch besteht für ihn das 'alltägliche Theater' aus 'Masken von Lügen'. Hinter diesen Masken wirken 'geheime Motoren', die es zu entlarven gilt, indem das 'Alltags-Ich' mit seinen 'tiefen Wurzeln und verborgenen Motiven' zu konfrontieren ist. Grotowski hofft, Offenbarungen zu produzieren, "einen Exzess von Wahrheit" (ibid.: 53). Der Künstler soll seine Rolle benützen, "als ein Trampolin, ein Instrument, mit dem er studiert, was hinter unseren Alltagsmasken steckt - den innersten Kern unserer Persönlichkeit - um ihn zu opfern, zu exponieren" (ibid.: 37). Gleichzeitig ist dieser gleichsam psychotherapeutische Akt der Selbstentblößung eine Einladung an den Zuseher diesen Prozess auf einer weniger extremen Ebene nachzuvollziehen, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden und sich mit dieser zu konfrontieren. Das erinnert an die Erwägungen Scheffs (1979) zur therapeutischen Wirkung ästhetischer Distanz, wie im Kapitel über rituelle Wirkkraft erwähnt. Grotowski privilegiert das Selbst über die Rolle, da die Rolle zum Instrument des Selbstausdrucks wird. Das Selbst ist nicht einfach durch den 'geheimen Motor hinter der Maske' bestimmt. Grotowski wünscht vielmehr aufzudecken, dass, auch wenn wir unsere private Erfahrung behalten, wir uns bemühen können, eine " Mythe zu inkarnieren", indem wir uns ihre "schlechtsitzende Haut überziehen", um die Relativität unserer Probleme und ihre Verbindung mit den 'Wurzeln', aber auch die Relativität dieser 'Wurzeln' im Lichte der Gegenwart zu erfahren (ibid.: 23). Solcherart priviligiert Grotowski in gewisser Weise das Selbst auch über die archetypischen Erfahrungen und Wahrheiten, auf die das Selbst zwar antwortet, die aber auch auf das Selbst antworten. Das 'arme Theater', das Grotowski anstrebt, ist nicht nur über das Selbst, sondern für das Selbst - seine Funktion ist es, der Therapie, sowohl der Zuseher als auch der Akteure, zu dienen.

Zarilli (1984, 1986, 1995a und b) setzt sich explizit mit der ethnologischen analytischen Aufarbeitung der psychophysischen Erfahrung asiatischer Trainingsmethoden der Tanz- und Schauspielkunst im Westen auseinander. Hinter der Suche nach einem 'neutralen' oder 'leeren' Kern des Darstellenden versucht er, die inneren psychophysiologischen Dynamiken von Charakterisierung und Schauspiel aufzudecken. Zu ihrer Erklärung sieht er sich gezwungen, auf asiatische Modelle von einer Atem-, Energie- oder Lebenskraft, die sich in verschiedenen Konzepten in allen Bereichen asiatischer Medizin, Magie und Tanz-/Theatertechniken findet, zurückzugreifen. Diese Energie wird als durch den Körper kultivierbar aufgefasst (1995a:81). Er bezieht sich auf Derrida (1978, 1982) und Grotowski (1968), wenn er meint, dass die Sprache des neuen Theaters eine des Körpers ist, die neue Sprache des Körpers aber eine des Geistes sei, indem sie aus Ideogrammen und aus physikalischem Ausdruck grundlegender psychischer Bewegungen besteht (Zarilli 1995a.: 64f). Indem er Grotowskis Ansatz als auf metaphysischen Gesamtheiten basierend ablehnt (ibid.: 66), bemüht er sich um eine differenzierende Auseinandersetzung mit den psychophysischen Trainingsinhalten und ihren kulturellen Implikationen. Zarilli, der selbst mit der Integration von asiatischen Kampftechniken, wie Kalaripayattu und T'ai Chi Ch'uan in das Schauspieltraining experimentierte, streicht heraus, dass das Zwanzigste Jahrhundert eine Suche nach alternativen Paradigmen und Trainingstechniken gebracht hat, die nicht nur theatralische Strukturen und Formen verändert hat, sondern auch den Körper des Schauspielers. Im Zusammenhang mit dem internationalen Charakter und der durchaus auch vorhandenen Gegenseitigkeit des Austausches von theatralischen Techniken zwischen Ost und West macht er darauf aufmerksam, dass der generelle Diskurs über Interkulturalismus nicht andere Kulturen deformieren darf, indem er sie in der Sprache der dominanten Kultur sprechen lässt (ibid.: 74f).

Die Kulturgebundenheit performativer Kommunikation überwindend, kann sich über die Faszination virtuoser Bewegung eine hypnotische Wirkkraft auch auf Angehörige anderer Kulturen entfalten, die allgemein konzentrationssteigernd ist und den hingebenden Zuseher in verfeinerte Wahrnehmungsbereiche führt. Unter günstigen Verhältnissen können zwischen Künstler und Publikum kollektive Wahrnehmungsprozesse in Gang gesetzt werden, die meditativen Erlebnissen einer inneren 'kosmischen' Schau gleichkommen. Die Grenzen zwischen Akteuren und Zeugen lösen sich auf, das Erlebnis des 'Fließens' mit typischen Veränderungen der Zeit- und Raumwahrnehmung, die dem kollektiven Erleben in lebendigen Riten gleichen, treten auf. Mihaly Csikszentmihalyi benannte jenen Zustand als 'Fließen', den Goleman (1995: 120f) als die höchste Form der emotionalen Intelligenz beschreibt, in der das Bewusstsein nicht mehr vom Handeln getrennt ist, der Selbstvergessenheit, in dem nicht das Ziel, sondern das Tun selbst hochgradig motiviert durch ein unwiderstehliches Gefühl milder Ekstase. Dazu ist es förderlich, wenn die Menschen ein bisschen stärker als gewöhnlich gefordert werden - wie etwa durch ein angemessenes Maß an 'Fremdheit'. Diese Wahrnehmungsart kann in ganz selbstverständlicher Weise auch kulturelle Barrieren aufzulösen helfen. Viele der Proponenten neuer kulturübergreifender Tanz- und Performancetechniken zielen bewusst auf derartige Wirkungen hin. Häufig werden zumindest verschiedene, sprachlich nur schwer erfassbare Facetten des menschlichen Seins durch Tanz erlebbar und nachvollziehbar gemacht und deren Verarbeitung und Integration in das eigene Sein ermöglicht.

Wie jede Kunstform hat auch Tanz Ausdrucksformen, die allgemeiner verständlich sind und andere, die nur Eliten von Kennern zugänglich sind. Tanz kann den Charakter von Cliquensprachen annehmen, wenn etwa die Stammkundschaft einer Diskothek an ihrem Tanzstil erkennbar wird. Tanz hat aber auch ein Potential zur Kommunikation mit archetypischen, kosmischen, religiösen, ekstatischen und paranormalen Seinsebenen. Bharucha (1995:85) ist der Auffassung, dass Martha Graham ziemlich genau dieselbe Art von 'Primärenergie' in ihren von griechischen Mythen inspirierten Tänzen erforschte wie sie Chandralekha als moderne indische Choreographin zu verwirklichen versuchte. Ich bin einer Meinung mit ihm, dass ein solcher 'Prozess der Inkarnation einer traditionellen Ikone' auf der Bühne nicht alleine über Tanztechnik erlernt werden kann:

Zeit, Raum und Körperlichkeit erhalten auch in den Aufführungen des modernen japanischen Butoh rituelle Qualität, indem sie ihre Dimensionen zu ändern scheinen. So heißt es im Programmheft zur Performance von Eiko und Koma im Rahmen des Wiener Internationalen Ballett-Fests Tanz'82:

Auch das Zittern des ganzen Körpers hat als eine Metapher für verändertes Bewusstsein und für Zustände erhöhter Macht seinen Platz in den Darbietungen des Butoh. Elemente dieser ekstatisch religiösen Komponenten dringen gerade über den Butoh auch in die Off-Szene und weiter in das moderne Ballett ein. Ein gutes Beispiel dafür findet sich in der Tanzproduktion der Japanerin Akemi Takeya und des Österreichers Gerwich Rozmyslowski unter dem Formationsnamen Tschangoe, in dem Tanzstück "A.TO".

Der Vorführraum im Theater des Augenblicks war ein kaum vom Publikum abgegrenzter Bereich von dessen Schmalseite sich unmittelbar einige Zuseherränge erhoben. Die Tänzer tanzten auf derselben Ebene auf der die Zuseher der ersten Reihe saßen, und dort befand ich mich als Zuseherin, zeitweise Auge in Auge mit den Tänzern. Hier war vergleichbare Intensität der Erfahrung möglich, wie ich sie von singhalesischen Riten her kannte, mit jener distanzlosen Einswerdung im 'Fluß' der Vorführung, einem Erleben der Zeitlosigkeit und auch der Magie der Suggestion die sich hier wie dort immer wieder in fröhlicher Respektlosigkeit auflösen konnte. Anders als bei dem im Kapitel "Grundlagen", im Abschnitt über "Symbol, Wort und Bewegung" genannten Beispiel, gelang hier die tanzkünstlerische Übermittlung des in unserem Kulturraum nicht mehr ganz selbstverständlich deutbaren Körperausdruck 'Zittern' als Metapher ritueller Bewusstseinsveränderung.

Die rituelle Ebene von Erfahrungsintensität wird aus kirchengeschichtlichen und körperphilosophischen Gründen im Westen mit weniger Selbstverständlichkeit gesucht und akzeptiert als im Osten. Im Gegensatz zu anderen Facetten menschlicher Kommunikation, wie Sprache und Gestik findet man in einigen Tanzstilen eine bemerkenswerte Kontinuität der Formen in allen Bereichen des Spektrums zwischen dem Profanen und dem Rituellen und Sakral-Spirituellen. Während etwa Sprache bei Eintritt in transzendente Seinszustände in Laute von festgelegter Betonung und Höhe zu zerfallen tendiert - man vergleiche etwa die Studien von Goodman (1991: 31ff) über Merkmale der Glossolalie, sowie die Praktiken von Mantras, heiligen Worten etc. in vielen Religionen - und auch Gestik vom Alltagsgebrauch klar verschieden ausgeführt wird, bleiben verschiedene indische, singhalesische, japanische oder afrikanische Kunsttanzstile, die ihre Verbindung zum Ritual bewahren konnten, ihren Formprinzipien sowohl im profanen als auch im ekstatischen sakralen Bereich bemerkenswert treu. Wenn man im Zusammenhang mit Tanzstilen von 'Tanzsprache' reden will, so muss man darauf hinweisen, dass diese von überraschender Invarianz gegenüber der speziellen Art und Intensität des zu erfahrenden und zu kommunizierenden Bewusstseins sein kann.

Die Kommunikation ritueller, sakraler oder spiritueller Bewusstseinsinhalte durch Tanz findet indes nur dort vollständig statt, wo das Publikum 'eingeweiht' ist. Dies ist der elitäre Aspekt spiritueller Kommunikation durch Tanz. Die vollständige Vermittlung wird erst durch das Erkennen des Bewusstseinszustandes des Tänzers durch den Zuseher möglich, was eine bereits erlebte Erfahrung desselben Zustands voraussetzt, nicht jedoch unbedingt ein logisches oder verstandesmäßiges Erkennen. Der Tanz kann Zuseher aber auch unabhängig von ihrem bisherigen Erfahrungsspektrum einem bestimmten spirituellen Erleben näher bringen, sie aus anderen Bewusstseinszuständen heraus 'erheben' oder eine Bewusstseintransformation zumindest erleichtern.

Ein Mystiker hört unweigerlich zu sprechen auf, wenn er sich seiner tiefsten meditativen Erfahrung nähert. Er muss indes keineswegs zu tanzen aufhören. Paradoxerweise gilt dies auch dann, wenn er äußerlich den Anschein der Reglosigkeit erwecken mag: Sein Tanz findet dann auf einer energetischen Ebene 'kosmischen' Bewusstseins statt. Dieser Überzeugung sind jedenfalls einige hinduistisch beeinflusste Bevölkerungsgruppen Südasiens, die damit einer der Metaphern für Shiva Nataraj, den uralten Gott des Tanzes, als Erhalter, Schöpfer und Zerstörer der Welt, feiern. Die moderne indische Choreographin Chandralekha verlangt ihren Tänzerinnen gelegentlich diesen 'inneren', reglosen Tanz auf der Bühne ab. Bharucha (1995:64) schreibt darüber und über das Verhältnis zwischen Zuseher und Künstler im indischen Tanz:

Dem Zuseher wird die Möglichkeit gegeben, mehr noch, es wird ihm geradezu abverlangt die mystischen Aufgabe des Tänzers, den Tanz der Stille zu tanzen, zu vervollständigen. Dieser Aspekt ist ein ganz wesentlicher Anteil der 'magischen' Faszination, welche auch Vorführungen des modernen japanischen Butoh-Stils atmen, die oft von Stille und extremer Langsamkeit der Bewegungen durchdrungen sind. Butoh (Haerdter & Kawai 1988:28, 85-89) gehört so wie indischer Tanz (Nürnberger 1996a: bes. 223-235 und 2000) zu jenen Tanzstilen der Erde, die heute extensiver tanztherapeutisch angewandt werden. So scheint neben der Tanz- und Theaterethnologie auch die Tanztherapie auf das Bedürfnis des Menschen nach Spiritualität und tiefster innerer Sammlung zurückzukommen, obwohl sie in vielerlei Hinsicht einen rationalistischen Kampf gegen die Mystik des Tanzes ausficht.

 

 

Zusammenfassung

 

Obwohl sich im Gefolge des Faschismus eine breite Ablehnung ritualistischer Formen und Inhalte der performativen Künste breitmacht, kann doch von einem generellen Bedürfnis zumindest nach gewissen Aspekten ritueller Kunst gesprochen werden. Um diese Aspekte herausarbeiten zu können, wurde zunächst zwischen dem populären Ritualbegriff und einem engerem, sakralen Ritualbegriff differenziert, als dessen zentrale Funktion die Transformation des Individuums und seiner Lebensbedingungen im Sinne sich erneuernder Identität und Integrität festgestellt wurde. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach neuen Riten in diesem Sinne betreffen eine breite Palette gesellschaftlicher Funktionen, wie Korrekturen kultureller Identität, therapeutische, sinnstiftend-spirituelle und pädagogische Funktionen, für die Tanz in mannigfacher Weise genutzt werden kann. Dies ist am Beispiel des 'Dance in the Community' und des 'Dance in Education' Großbritanniens aber auch anhand zahlreicher Beispiele von Bühnentanzproduktionen verdeutlicht worden. Das Beispiel Großbritanniens veranschaulicht, in welcher Weise Tänze aus anderen Kulturen im Sinne einer multikulturellen Erziehung und auch im Sinne eine Förderung verschiedenster Randgruppen, etwa auch von Behinderten oder sozial Auffälligen, Anwendung finden kann. Doch liegen viele therapeutischen und sozialisierenden Aspekte, die sich aus der religiösen und rituellen Einbettung traditioneller fremder Tanzkunst ergeben, brach, wenn auf eine möglichst geringe kulturelle Geladenheit ihrer Anwendungen im multikulturellem Rahmen bestanden wird. Sowohl kulturell gering geladene Formen als auch kulturell hoch geladene Formen haben ihre jeweiligen Vorzüge, die sie für unterschiedliche Anwendungsgebiete geeignet machen, was in einer entsprechenden Förderungspolitik der Gleichrangigkeit seinen Ausdruck finden sollte. Außerhalb der angewandten Kunst in Unterricht und Therapie haben Tänzer und Tänzerinnen auch auf der Bühne und im Rahmen künstlerischer Produktionen immer wieder versucht, jene gesellschaftlichen Funktionen wahrzunehmen, die durch den Niedergang ritueller Formen brachliegen. Andererseits wurden fremde rituelle Tänze auch immer wieder in Hinblick auf ihre Formen und Inhalte um ihrer bloßen Attraktivität und Sensationalität willen 'geplündert'. In diesem Zusammenhang gewinnt das generelle Problem der 'Übersetzbarkeit' fremder performativer Traditionen an Bedeutung. Schließlich wurde in den beiden letzten Abschnitten die Erzeugung von Erfahrungsintensität durch Anwendung spezieller performativer Techniken aus der Fremde im Hinblick auf das Potential der Funktionalisierung von Performancekunst im Sinne einer 'echten' Ritualität, also für transformative Anliegen, exemplarisch abgehandelt.


Anmerkungen:

 

116 Formulierung der beiden Bedeutungen nach Duden, Herkunftswörterbuch. blue2_5.gif zur Textstelle

117 Unter die Kategorie kulturell konstruierter Krankheiten fallen auch die sogenannten "kulturgebundenen Syndrome", psychophysische Veränderungen, "für die es keine Entsprechungen in anderen Kulturen und insbesondere in der Psychiatrie der westlichen Medizin gibt" (Kutalek & Prinz 1998: 1). In Kutalek und Prinz (1998) findet sich eine weiterführende Literaturliste zu diesem Thema, dessen nähere Behandlung den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. In dieser Liste sind an allgemeineren Arbeiten zu diesem Thema u.a. genannt: Carr (1985), Currer & Stacey (1986), Gaines (1992), Good (1987), Kleinmann & Good (1985), Marsella & White (1984), Quekelberghe (1991), Simons & Hughes (1985). blue2_5.gif zur Textstelle

118 Hughes-Freeman (1998:10-15) gibt einen guten Überblick über den gegenwärtigen Diskussionsstand zum Thema Realität und Virtualität im rituellen Bereich, mit Ausnahme von Heilriten, die sie nur am Rande berührt. Hierzu vgl. auch Kap. "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential". blue2_5.gif zur Textstelle

119 Featherstone 1982:27-8, zitiert nach Lyon & Barbalet 1994:51. blue2_5.gif zur Textstelle

120 Meyerhold kam 1897 zu Stanislawsky, trat später mit scharfer Kritik gegen diesen hervor, verdammte Realismus und Naturalismus und proklamierte stattdessen ein "Theater der Phantasie". Sein Ziel wurde die Darstellung einer "absoluten Wirklichkeit jenseits der Realität". Damit geriet er in Konflikt mit den Grundsätzen des staatlichen sowjetischen Kunstdogmas. Er verstarb 1940 im Gefängnis. Erst 1956 wurde im Zuge einer 'Entstalinisierung' eine Komission zur Herausgabe seines literarischer Nachlasses gebildet. (DBG 1963) blue2_5.gif zur Textstelle

121 Zum Vergleich mit anderen modernen pädagogisch ausgerichteten Protagonisten von Bewegungskunst siehe den späteren Abschnitt: "Die neuen Riten: Transformation, Therapie, Kritik". blue2_5.gif zur Textstelle

122 Die Erklärungen über die Zusammenhänge zwischen Taylorismus, Reflexologie und deren Einfluss auf Meyerhold und das konstruktivistische Theater stammen von Gordon 1995: 85-91. blue2_5.gif zur Textstelle

123 "Plastischer Tanz" bedeutet bei Laban Tanz, der nach allen Raumdimensionen hin gerichtet ist. blue2_5.gif zur Textstelle

124 Nach Menon (1991:30) bezieht sich der Begriff auf improvisierte Passagen, die nach Wahl des Schauspielers eingeschoben werden. Das Zusammenwirken von differenziertesten Variationsmöglichkeiten trotz der ausgeprägten Kodierung der Ausdrucksformen, wie es sich sowohl im Kathakali als auch im Nô findet führt Seym (1992:34) auf den religiösen und rituellen Hintergrund der spezifischen asiatischen Tanztheaterformen zurück. blue2_5.gif zur Textstelle

125 Davida nimmt diesen Eindruck im weiteren Verlauf ihres Artikels in vielerlei Hinsicht auch wieder zurück. blue2_5.gif zur Textstelle

126 Video "Making of Maps", Shobana Jeyasingh Dance Company. blue2_5.gif zur Textstelle

127 Interview am 3.2.1994 in Wien. blue2_5.gif zur Textstelle

128 Diese Forschungen sind umfangreicher dargelegt in Nürnberger (2000). blue2_5.gif zur Textstelle

129 Der nordindischen Kathak wurde relativ früh aus seinem ursprünglichen religiösen Kontext gerissen, da er sich unter der Herrschaft der Großmogule seit etwa dem 11. Jahrhundert zu einer islamisch, persisch und arabisch beeinflussten Unterhaltungskunst des Königshofes entwickelte (Rebling 1981: 21, 45, 199). Doch selbst diese Form enthält noch viele religiöse Anspielungen. blue2_5.gif zur Textstelle

130 "Die ohnmächtige Unzufriedenheit mit dem Eigenen, ohne Aussicht auf Besserung, wird entweder durch eskapistischen Exotismus psychisch kompensiert oder man erhofft sich die Lösung der eigenen Probleme durch die Orientierung am Fremden, denn aus eigenen Impulsen heraus scheint man seine Schwierigkeiten nicht mehr in den Griff zu bekommen" (Maschke 1996: 39f.) blue2_5.gif zur Textstelle

131 Ich besuchte die Vorstellung am 11. März und konnte im Anschluss daran ein kurzes Gespräch mit Sardono führen. blue2_5.gif zur Textstelle

132 Srimpi und Bedoyo sind die beiden klassischen Hauptformen Zentraljavas. Die Tänzerinnen des Srimpi sind Angehörige des Hofes. Die getanzten Inhalte zeigen im allgemeinen alte islamische und präislamische Geschichten. (Sardono, Programmheft Wien 1996) blue2_5.gif zur Textstelle

133 Gusti Raden Ajeng Koes Murtiyah, Tochter des Königs Paku Buwono XII., ist Tänzerin und Lehrerin des mythischen Hoftanzes Bedoyo Ketawang. Im Wiener Programmheft 1996 heißt es zu diesem Tanz: " Wenn immer der Bedoyo Ketawang in früheren Zeiten aufgeführt wurde, tauchte der Aberglaube um Ratu Kidul auf, die mythische Göttin der Südsee und dem Brauchtum nach "Ehefrau" jedes Herrschers auf Java". Ursprünglich war es den Prinzessinnen des Surakarta-Königreichs verboten worden, den Bedoyo Ketawang zu tanzen. "Erst Prinzessin Gusti Koes Myrtiyah hat mit dieser Tradition gebrochen. Sie gilt seither als Reformerin der mythischen Glaubensstruktur auf Java" (ibid.). blue2_5.gif zur Textstelle

134 "Das Triadische Ballett" von Oskar Schlemmer wurde in einer Ballettrekonstruktion und Neufassung durch Gerhard Bohner und einer Kostümrekonstruktion und Neufassung durch Ulrike Dietrich in einer Produktion der Akademie der Künste, Berlin, unter anderen Aufführungsorten auch am 20, 21. und 22. März 1984 im Rahmen von Tanz'84 am Wiener Volkstheater gezeigt. (Programmheft des Wiener Ballettfestivals Tanz'84): "'Raumplastisch', nennt es Schlemmer in seinem Vortrag 'Bühnen-Elemente', ... 'Raumplastisch, weil es sozusagen farbige und metallische Plastiken sind, die sich von Tänzern getragen, im Raum bewegen, wobei das Körpergefühl entscheidend beeinflusst und verändert wird, derart, dass der scheinbar vergewaltigte Körper, je mehr er mit dem Kostüm verwächst, zu neuen tänzerischen Ausdrucksformen gelangt...'".(Regitz 1984) blue2_5.gif zur Textstelle

135 Vor allem Drid Williams setzt sich in ihren Arbeiten für eine selbstkritische Deklaration der Tanzgruppen im Sinne einer klaren Trennung zwischen Tradition und Entlehnung ein (Williams 1996). Sie strebt damit jedoch keineswegs eine Entwertung von tänzerischen Arbeiten an, die auf künstlerischer Entlehnung beruhen. blue2_5.gif zur Textstelle

136 Die Bedeutung der Entlehnung von Grundideen zyklischer Riten für das reritualisierte Tanztheater ist im vorangehenden Abschnitt "Existentielle Kreisläufe" exemplarisch abgehandelt worden. blue2_5.gif zur Textstelle

137 "Die in expressiven, prägnanten Gebärden dargestellten Totentanzszenen werden von den ergebnislosen Verhandlungen der Diplomaten am grünen Tisch des Völkerbundes umrahmt. Das Konferieren der die Welt regierenden 'Herren', die Jooss mit stilisierten Masken und durch automatenhafte Bewegungen typisiert, mündet in ein Fiasko. Man zieht die Revolver - der Krieg wird aufs neue erklärt." (Stöckemann 1992:120) blue2_5.gif zur Textstelle

138 Quelle: Programmheft zum Wiener Ballett-Festival Tanz'84, Tanz-Forum Köln, "Der grüne Tisch" am Theater an der Wien, 8. März 1984. "Das Werk entstand vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und einer Weltwirtschaftskrise, die Verheerung und soziales Elend brachte. Drohend zeichnete sich die Machtergreifung Adolf Hitlers ab, eine Umwertung aller Werte stand bevor, Politik wurde zur Farce, das Menetekel der Katastrophe sichtbar" (Schleier 1984:8). blue2_5.gif zur Textstelle

139 Johann Kresnik wurde 1939 in Bleiburg in Kärnten, Österreich, geboren, wurde Statist der Vereinten Bühne in Graz und kam nach einer Schauspiel- und Tanzausbildung 1959 als Gruppentänzer nach Bremen und 1960 an die Bühnen der Stadt Köln. Dort war er von 1963 bis 1968 Solotänzer. Es kam zu gemeinsamen Auftritten u.a. mit George Balanchine, John Cranco, Agnes de Mille. 1967 zeigte er "Tanz-Collage" zu Texten von Schizophrenen: das Stück gilt bis heute als Geburtsstunde des Deutschen Tanztheaters. 1968 wurde er Ballettmeister und Chefchoreograph am Bremer Theater, 1979 bis 1988 war er Leiter des Tanztheaters am Theater der Stadt Heidelberg, wo er auch als Schauspielregisseur zu arbeiten begann. 1989 wurde er Leiter des Tanztheaters in Bremen. Dort entstand 1990 sein Stück "Ulrike Meinhof". Er ist Träger des Berliner Theaterpreises 1990 und des Kritikerpreises der Berliner Akademie der Künste in der Sparte Tanz. (Aus verschiedenen Programmheften der Wiener Internationalen Tanzfestival und Tanzwochen) blue2_5.gif zur Textstelle

140 Das Berimbao besteht im wesentlichen aus einem Stabbogen, der mit einer Drahtsaite bespannt ist, und einem in der Mitte offenen Kalebassenresonator. Die Saite wird mit einem Schlagstöckchen angeschlagen. Die Kalebasse wird gegen den Brustkorb gedrückt, wobei die Stellung des Gefäßes am Brustkorb die Resonanz des Saitenklangs verändert. Das Instrument ist unter anderem als Begleitung des Capoeira, eines akrobatischen Kampftanzspiels in Verwendung. blue2_5.gif zur Textstelle

141 vgl. vorangegangenes Kap.: "Tanz als Kulturkritik und Kulturtherapie", sein Zitat über "Istars Höllenfahrt". blue2_5.gif zur Textstelle

142 Sie fordert deshalb die Erhaltung konkreter Erfahrungswelten oder die vermehrte Einbindung von Massenkultur sowie Wissenschaft in die Lebenswelten der Einzelnen, um eine Beziehung zum Leben zu bewahren. blue2_5.gif zur Textstelle


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"Tanz/Ritual - Integrität und das Fremde"

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Univ.-Doz. Dr. Marianne Nürnberger Uni Wien