Tanz / Ritual -
Integrität und das Fremde

Copyright (C) Marianne Nürnberger 2001
Nachdruck und Veröffentlichung auf Medien aller Art, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin gestattet.
PC-print nur für den persönlichen Gebrauch genehmigt.

3. Teil


Tanz und das Fremde

Das Unbekannte beherrschen: Von Grußgesten zum Gebet - körperlicher Dialog mit Mächtigen und Mächten; Zur Reflexivität zwischen Ritual und soziopolitischem Kulturwandel. Dem Fremden begegnen: Tanz für den Frieden - Tanz für den Kampf. Repräsentation sozialer Rollen: Choreographien von Arbeit und Status; Geschlechterrollen. Nationale Charakterisierung, Exotismus und andere Verzerrungen und Missverständnisse.

 

Tanzkünstlerische Auseinandersetzung mit dem Fremden kann die verschiedensten Inhalte haben und sehr unterschiedliche Formen annehmen. In der Darstellung des Fremden spielen neben Bewegungsstilen, Körperhaltungen, Gestik und Mimik auch Masken und Kostüme als oft radikale Mittel der Verfremdung ein große Rolle. Auch Formen, die zunächst bizarr und seltsam anmuten, sind nie gänzlich willkürlich gewählt, sondern spiegeln gesellschaftliche und persönliche Anliegen, Ideen und Werte wider, welche auch die Inhalte konstituieren. Eine formale Analyse, z.B. auf der Basis von Tanznotationen, kann allein keine Grundlage sein, um die Bedeutung und Intention bewegungskünstlerischer Auseinandersetzung mit der Welt zu ermessen. Die Untersuchung von Symbolen, Intentionen und Inhalten macht zudem die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Rahmens des performativen Ereignisses notwendig.

Die Bandbreite des Fremden, mit dem sich Bewegungskunst auseinandersetzen kann, reicht vom nahen Fremden, also dem bloß in einigen Aspekten Anderen, bis hin zum Bereich des Unbekannten und Metaphysischen, wie etwa dem religiösen Bereich der schicksals- fügenden Mächte. Je größer die Andersartigkeit und Macht des fremden Wesens konzipiert ist desto eher wird es von einem Objekt der Darstellung zu einem Subjekt der Anrufung und desto größer ist in der Regel auch der Grad der Außeralltäglichkeit der Bewegung und oft auch der verfremdende Charakter der Maskierung und Kostümierung, die zur Anwendung kommen. So werden in Indien und Sri Lanka Götter durch reinen also nichtdarstellerischen Tanz (nrtta) angerufen, während der darstellende Tanz (nrtya), dessen Gesten noch ihre Herkunft aus alltäglichen Bewegungen erahnen lassen, auch dann, wenn er Episoden aus dem Leben der Götter erzählt, der Unterhaltung und Erbauung vorbehalten bleibt. In Afrika werden Geister und Götter oft in hochabstrakten, den ganzen Körper verhüllenden Masken getanzt, die den Tänzer als Menschen bewusst unkenntlich machen.

Um solche Abhängigkeiten der Form vom Inhalt und von den allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen und vorherrschenden Werturteilen sichtbar zu machen, möchte ich die bewegungskünstlerische Auseinandersetzung mit den großen Bereichen des Fremden und deren gegenseitige Abhängigkeiten erhellen. Das betrifft zum einen den Bereich des Göttlichen und Dämonischen, als dem Bereich des nur zu Erahnenden und des Schicksals, dessen Unergründlichkeit sich Menschen seit jeher durch die verschiedensten personifizierten nichtmenschlichen Kräfte gestaltet vorstellten. Dieser religiöse Bereich des Unbekannten ist teilweise nach dem Vorbild, jedenfalls aber in Abhängigkeit vom Bereich der Auseinandersetzung mit dem Fremden im engeren Sinne, der Menschen, die eine andere Sprache sprechen, eine fremde Kultur haben, von der man kaum etwas weiß und die vielleicht sogar aus anderen Weltgegenden stammen, gestaltet. Der Bereich des Fremden im Tanz umfasst aber auch Auseinandersetzung mit Menschen, die einem zwar relativ oft begegnen, von denen man vielleicht eine ganze Menge zu sehen bekommt, die aber dennoch eigene Welten innerhalb einer Gesellschaft bilden, Repräsentationen der Frauen- oder Männerwelten oder Angehörige anderer religiöser Gemeinschaften oder ethnischen Gruppierungen oder verschiedener Berufsgruppen und Sozialschichten im eigenen Land. Dies nenne ich hier den Bereich des "Anderen", der in großer Vielfalt in tänzerische Gestaltungen einfließt. Anhand der Beispiele zu jedem dieser Themen sollen Überlappungsbereiche und gegenseitige Abhängigkeiten sichtbar gemacht werden sowie gewisse generelle Strategien der körperkünstlerischen Auseinandersetzung mit dem Fremden, die sich durch alle Bedeutungsebenen ziehen.

 

 

Das Unbekannte beherrschen

 

Wenn Krankheiten durch die bekannten Kräuter und Medikamente nicht heilbar waren, wenn unbezwingbar erscheinende Seuchen, Kriege oder Naturkatastrophen, wie Trockenheit oder Überschwemmung drohten, wenn schicksalhaft erscheinende Pechsträhnen mühsam errungenen Wohlstand zunichte machten, dann wandten sich Menschen zu allen Zeiten an Spezialisten, die es verstanden, mit jenen Mächten, Göttern, Dämonen, personifizierten Naturkräften und anderen nichtmenschlichen und mächtigen Intelligenzen und Kräften zu verhandeln, die man für solche Mißstände verantwortlich machte. Saisonale Riten, die auch europäischen Folkloretänzen (43), wie zum Beispiel den Maitänzen zugrunde liegen, sollten den Ablauf der Jahreszeiten sowohl sichern als auch berechenbar gestalten. Das bedrohliche Unbekannte wurde zu allen Zeiten rituell geordnet und benannt und schließlich auch magisch und rituell manipulierbar gemacht. Insbesondere sollte die Beschwichtigung, gelegentlich auch die Bestrafung und Zurechtweisung mythischer, schicksalsfügender Mächte erreicht werden. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Umgang mit Geistern, Göttern und Dämonen in vielerlei Hinsicht nach dem Vorbild des Umgangs mit mächtigen Menschen gestaltet wurde. Seine Riten sind noch in der einfachsten Form dialoghaft konzipiert: ein mehr oder weniger aufwendiges Opfer - vom einfachen Wunschgebet bis zum langwierigsten Ritual - wird den 'zuständigen Mächten' dargereicht, in der Hoffnung, dass der Adressat - sei es ein launischer Wassergeist oder der allmächtige und eine Gott - darauf positiv reagiert. Auch das Scheitern solcher Versuche denkt man sich dialoghaft: die angesprochene mythische Macht oder Gottheit hat negativ auf das Ansuchen reagiert.

Durkheim (1947) hat in seinem Werk über die elementaren Formen der Religion die soziale Basis menschlichen Wissens zu demonstrieren begonnen. Er argumentierte, dass die angeborene Sozialität des Menschen zur Entwicklung vereinheitlichter Symbolsysteme in Sprache und Ritual führte. Man kann heute davon ausgehen, dass Ritual, Tanz und Theater im wesentlichen aus dem sozialen Schauspiel oder dem, was Blacking (1976, 1986:14) den biosozialer Tanz nannte, entstanden sind. V. Turner (1989:11-15) spricht in diesem Zusammenhang vom sozialen Drama und sieht dieses in erster Linie dort stattfinden, wo öffentlich darstellerische Bewältigungs- und Mitteilungsformen für komplexe soziale Konflikte gefunden werden. Ich glaube indes, das das soziale Schauspiel, als Keim- und Urform des Theaters und des Tanzes, allgemeinere Funktionen hat und überall dort stattfindet, wo es darum geht, kollektive Stimmungen auszudrücken oder aktiv zu erzeugen - auch wo diese nicht konflikthafter Natur sind. Das soziale Schauspiel dient in erster Linie der Produktion von Solidarität und zwar sowohl von einigender als auch unter Umständen mit polarisierender Wirkung.

In Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem bedrohlichen Unbekannten, aber auch z.B. in Hinblick auf die Etablierung politischer Machtstrukturen, tendiert das soziale Schauspiel zu seiner mystischen und religiösen Erweiterung in Riten, die durch die Wahl intensivst außeralltäglicher Ausdrucksmittel unterstrichen wird. Während Streit- und Flammreden im zwischenmenschlichen Bereich auch in Prosa gehalten werden können, ist die Anrufung, Zurechtweisung und Beschwörung der Schicksalsmächte in Vers- und Hymnusform gekleidet. Ebenso tendieren Ritualspezialisten dazu, alltägliche Gebärden durch geplante, also choreographierte, esoterische (i.e. nicht allgemein verständliche) Bewegungsabfolgen und kodierte virtuose Tanzbewegungen zu ersetzen. In komplexeren Ritualformen kommt es dann oft zu besessenheitsartigen Identifikationen mit mythisch-religiösen Figuren, die Ikonographie und Mythos der Religion bestätigen und nähren, und zu Personifikationen dieser religiösen Gestalten. Diese rituellen Darbietungen können mit dramatischen Trance- tänzen und überzeugenden Akten der Überwindung der Naturgesetze einhergehen, wie etwa durch ein Feuerlaufen, das sowohl die rituelle Kompetenz des Ritualspezialisten bestätigt wie die Faktizität der Präsenz des Heiligen. In diesen Handlungen geht die dialogische Funktion des Rituals unmerklich in die der Kommunion, der direkten Teilhabung an den schicksalsformenden Mächten über und damit in den, im vorangehenden Kapitel "Rituelle Wirkkraft - das transkulturelle Potential" beschriebenen Bereich der Heilssuche, Ekstase, Besessenheit und ähnlichen Phänomenen.

 

 

Von Grußgesten zum Gebet - körperlicher Dialog mit Mächtigen und Mächten

 

Bei allen Akten, die dem Dialog mit dem Fremden dienen, spielt körperliche Repräsentation eine hervorragende Rolle. Die offensichtlichste Form sind formelle Grußgesten, Ritualisierungen, die von Kultur zu Kultur, je nach dem Grad der Bekanntheit und je nach dem Statusgefälle zwischen den einander Begegnenden variieren, deren Sinn jedoch in der Bekundung einer grundsätzlichen Sozialisationsbereitschaft liegt. Diese formalisierten Bewegungen und Haltungen erlauben oft schon weitere Aufschlüsse über die Gestalt des sozialen Verhältnisses zwischen den Grußpartnern oder zumindest über diesbezügliche Gestaltungsintentionen und oft auch über Absichten, die dem Treffen zugrunde liegen. Will man außergewöhnliche Situationen im Dialog mit dem Fremden meistern, werden oft außeralltägliche Bewegungen gewählt. Wenn Freunde einander begrüßen kann dies oft gänzlich informell und kaum durch kulturspezifisch begleitende Bewegungen dramatisiert sein, es sei denn, es soll eine gemeinsame Gruppenzugehörigkeit zu einer bestimmten Clique, sozialen Schicht oder gar zu einer Geheimgesellschaft in der Zusammenkunft thematisiert werden. Im informellen Bereich sind jene universellen und ererbten Grußgesten, wie etwa der Augengruß, angesiedelt, die Eibl-Eibesfeld (1997) als der Biologie des menschlichen Verhaltens zugehörig bestimmen konnte. Weitere Unterschiede in der kulturellen Geladenheit der Grußsituationen ergeben sich aus dem sozialen Kontext in dem ein Zusammenreffen stattfindet. Wenn ein Schüler in einer südasiatischen Gesellschaft seinem Lehrer auf der Straße begegnet, wird er ihn informeller grüßen als im Unterrichtskontext, wo er ihm religiöse Verehrung schuldet. Das Verhalten der Grußpartner drückt einfache Gleich- rangigkeit durch Parallelität - so wie beim europäischen Händeschütteln - aus, Statusgefälle wie das Verhältnis zwischen Geber und Nehmer hingegen durch Gegenläufigkeit und Reziprozität - der verehrenden Geste des Schülers entspricht dann eine segnende des Lehrers. Komplexere Beziehungen, wie jene zwischen zwei Kulturen, werden in der Befolgung komplizierter Begrüßungsprotokolle gestaltet, hinter deren Dramatisierung durch 'militärische Ehren', Empfangskomitees, Chor und Folkloretanz die Angst vor einer Verletzung der Ehre des Staatsbesuchers und auch vor dem eigenen Gesichtsverlust stehen. Dabei sind Ehre und Gesicht gleichsam Masken und Kostüme zweiter Ordnung der repräsentativen Performance und gehören zur Meta-Dramaturgie der Begegnung.

Das Prinzip der Angleichung der verkörperlichten Form an den ideellen Anlaß einer Begegnung wird am deutlichsten in der Art und Weise sichtbar, in der im Rahmen von Glauben und Ritual schicksalsfügenden Mächten begegnet wird. Da die Begegnung mit Gott gleichsam eine höhere Oktave der Begegnung mit den Mächtigsten der Menschen ist, wird hier Dramatisierung durch ausgefeilte Formen körperlicher Gestaltung zur Notwendigkeit. Selbst bei den schlichtesten Anrufungen finden sich deshalb begleitende Gesten, wie das Händefalten beim christlichen Gebet oder wie gewisse Verbeugungen vor gegenständliche Repräsentationen und Abbildungen der Mächte, oft verbunden mit einem Berühren der Erde oder besonderer Körperstellen, wie Scheitel, Stirn oder Herzgegend, die oft auch als Sitz des Lebensfunkens, des religiösen Glaubens oder der Erkenntnis im Menschen aufgefasst werden. Je wichtiger das Ritual erachtet wird, desto aufwendiger wird es gestaltet und desto größere Bedeutung kommt der körperlichen Bewegung zu. Das dokumentiert sich sogar noch in den tanzfeindlichen Riten der katholischen Kirche in den feierlichen Bewegungen der Messe, in Schreittänzen, Prozessionen und ausladenden Gesten der Segnung. Die Funktionalität körperlicher Bewegung in Riten der Kommunion ist dabei offensichtlich so überzeugend, dass auch das Christentum, trotz einer bereits dargelegten Tendenz zur Dämonisierung des Körperlichen, immer wieder Sekten und Kirchen hervorbrachte, die Tänze in ihrer Liturgie wiedereinführten. Als Beispiele wurden in dieser Arbeit bereits die Praktiken der Springer-Sekte im steiermärkisch-slowenischen Grenzgebiet, der Tanz der Unschuldigen Knaben der katholischen Kirche des spanischen Sevilla und der Tarantismo der Kapelle von St. Paul im italienischen Salerno genannt.

Auch die Riten der von Außenseitern im allgemeinen als Shaker bezeichneten christlichen Sekte gehören zu jenen, die ekstatische Tänze zu Teilen ihrer Liturgie erhoben. Diese 1776 unter Ann Lee als United Society of Believers in Christ's Second Appearing gegründete Gemeinde soll 1823 die Entwicklung ihrer getanzten Liturgie im Wesentlichen abgeschlossen haben:

Die Shaker florierten insbesondere in den USA des 19 Jh. Ekstatische Bewegung findet sich als Trend im Singen, Klatschen und Stampfen einiger amerikanischer weißer und schwarzer Pfingstgemeinden zusammen mit anderen ekstatischen Manifestationen, wie dem Sprechen in Zungen (Glossolalie), Geistheilen und auch Ohnmachtsanfällen der Gläubigen. Entwickelte Formen ekstatischer Gruppentänze, die mit einem 'Empfangen des Heiligen Geistes' verbunden sind, findet man auch in verschiedenen christlichen Kirchen der West Indies. Es handelt sich hier um religiöse Vereinigungen, die ihre Grundlagen - zumindest teilweise - in den Traditionen der Methodisten finden. Zu ihnen gehören die Spiritual Babtists von Trinidad und auf der Insel St. Vincent sowie andere Gruppen in Jamaika und auf Haiti. Einige von diesen, wie jene in St. Vincent und auch in Haiti sind - in irreführender Weise - ebenfalls als Shaker bezeichnet worden. Das gilt auch für bestimmte indianische christliche Kirchen des Nordwestens der USA (Bourguignon 1968: 21).

Der Islam verordnet seinen Gläubigen in den täglichen Übungen des Ritualgebets (namaz) rhythmische körperliche Bewegung, die sich in den mystischen Tanzriten der Sufi, im Gedenken Gottes (dhikr) und in den bereits ausführlicher beschriebenen Sufireigentänzen (sema) zur Bewegung als Vehikel ekstatischer Ergriffenheit steigert. Der sema geht auf die Tradition Hz. Mevalana Celalettin Rumis (1207-1273) und auch Hadschi Bektashs († 1338) zurück (ibid.: 187). Die Praxis des dhikr ist noch viel älter. Der Islam betont in diesen Praktiken eine Auffassung des Menschen als Einheit von Körper-Geist-Seele und die Fähigkeit des Menschen, ein Leben in Einklang mit seiner göttlichen Natur zu erreichen. Özelsel spricht deshalb von einem 'theomorphen Menschenbild' des Islam. (Özelsel 1996: bes. 186f.)

Das jüdische Gebet kennt ein rhythmisches Sich-Wiegen, das bei den osteuropäischen Chassidim (Hasidim) zu freudigen und ekstatischen Gebetstänzen weiter entwickelt wurde, die auch die Choreographie von "Fiddler on the Roof" inspirierten (Bourgouignon 1968: 16). Zu Beginn des 18.Jh. wurde die von Israel Ball Shem Tov geleitete jüdische Revitalisationsbewegung ins Leben gerufen, welche Chassidismus genannt wurde und sich rasch von Polen durch Osteuropa verbreitete. Sie stand im Gegensatz zu dem sehr scholastischen Judentum, das ihr voranging. Der Chassidismus betonte das Gebet gegenüber dem Studium, Herz und Gefühl gegenüber dem Kopf. In seiner im Rahmen des Judentums einzigartigen Psychologie und Technologie der Andacht hatte die körperliche Bewegung im Gebet zentralen Stellenwert. Gebetstänze wurden in Kreisformationen als mechol getanzt oder aber aus Platzmangel als Springtänze, rikud, an Ort und Stelle ausgeführt (Barboza 1990:17). In allen diesen Tänzen wird ein erhöhtes Bewusstsein der Teilhabe an den mystischen Kräften des Heiligen kultiviert. Sie sind Gruppentänze, Formen von kollektivem Mystizismus. Anders als Besessenheitskulte beinhalten sie kein Ausagieren von Charakteren irgendwelcher speziellen Geister, oder Personifizierungen oder Rollenspiel, denn es gibt nur einen Heiligen Geist und alle nehmen an seiner Kraft teil. Doch sind die genannten tanzenden Sekten und religiösen Gruppierungen des Islam, der neu- und alttestamentarischen Religionen marginalisiert, da alle diese Religionen zur "Dämonisierung des Körpers" (vgl. gleichnamiges Kapitel, s.o.) neigen.

Der personifizierende und ausagierende Typus der Besessenheitstrance ist in Europa nicht gänzlich verlorengegangen und begründet sich nach Bourguignon (1968:16) im zweiten altertümlichen Wurzelstrang europäischer Kultur neben dem judeochristlichen, im Erbe der Griechen, insbesondere in den Kulten des Dionysos und der Korybanten, die aus literarischen und ikonographischen Quellen nur fragmentarisch überliefert sind. Doch gibt es bis heute gelebte Bezüge zu diesen Kulten, in den nordgriechischen Riten der Feuertänze zu Ehren der Heiligen Helena, zum Beispiel, aber auch im zar-Kult des äthiopischen Raums (ibid.: 17f) und in den Praktiken der Mevlevi-Derwische von Konya in Zentralanatolien. Diese Stadt ist einzigartig, indem sie diese etwas abweichende Form moslemischer Bruderschaft hervorbrachte und trotz eines Verbots durch die türkische Regierung um 1920 bis heute erhält, wo die Drehtänze der Derwische als eine Art musealer Tradition und Attraktion erlaubt und erhalten werden. Jedenfalls war auch Konya eine zentrale Heimat des phrygischen Dionysoskults (ibid.: 18f). Die Derwischtänze sind jedoch weit über Konya hinaus verbreitet und finden sich in einem großen Bogen von der Atlantikküste Nordafrikas bis nach Malaysien und Indochina (ibid.: 22). Das Anliegen hinter ihren Drehtänzen ist nicht Bessenheitstrance oder Personifikation, sondern - wie dies auch die kinetologische Analyse bestätigt - die mystische Kommunion mit dem Schöpfergott. Walter Sorell (1981: 30) weist darauf hin, dass Homer der Auffassung war, der dionysische Kult wäre aus Thrakien importiert worden, während Wissenschaftler unserer Zeit ihn auf babylonische Kulte zurückführten. Korinth bildete die Grenze zwischen Ost und West und orientalische Motive flossen durch diese Pforte in die griechische Kultur ein.

Das Prinzip des Dialoges mit dem Göttlichen durch Bewegung ist in all jenen Religionen und Sekten am meisten verwirklicht, in denen Körperlichkeit und Tanz nicht aus dem einen oder anderen Grund abgelehnt oder gar verteufelt wurde, also zum Beispiel in schamanistischen Riten oder Riten mit hohem Anteil an dem allen Hochreligionen zugrundeliegenden schamanistischen Substratum, im hinduistischen, taoistischen, shintoistischen und vor allem auch im Einflussbereich afrikanischer Religionen. Die Tanzkulte dieser Religionen räumen auch der Virtuosität der Tänzer einen höheren Stellenwert ein. Oft sind es jahrelang ausgebildete Berufstänzer, die hier den Gottesdienst abhalten.

Tanz wird nicht nur zu einer mehr passiven Kommunikation mit den göttlichen Bereichen, im Sinne einer Erkundung des Willens des Schicksals etc. angewendet, sondern macht teuflische oder dämonische Mächte auch manipulierbar. Er spielt deshalb im Bereich der magischen Manipulation und auch der rituellen Heilung eine große Rolle. Der Ritualtänzer Sri Lankas ist ein auf vielfältige Weise geschulter Verwandlungskünstler, der nicht nur dazu ausgebildet ist, ohne die Fassung zu verlieren großer Empathie mit den krankhaften Bewusstseinszuständen seines Patienten fähig zu sein. Er versteht es auch, besondere Aspekte dieser Zustände in sich selbst zu steigern und zu überhöhen, so dass er Macht über das Befinden seines Patienten erlangt. Der Patient erlebt eine spezifische Form der psychophysischen Interaktion mit den Ritualtänzer, die ihn zuerst noch mehr in seine krankhafte Bewusstseinsveränderungen hineintreibt, die ihn dann aber den Tänzer als 'vergrößertes' und 'idealeres' Abbild dieser Zustände erleben lassen. Der Ritualtänzer macht seine Beherrschung der dämonischen Macht dem Patienten sichtbar. Er dramatisiert sie und führt sie auch praktisch vor, indem er 'den Dämon ruft', den Patienten zu Anfällen provoziert, bis dieser Namen und Anliegen des ihn plagenden Geistes oder Dämons preisgibt. Die kathartischen, projizierenden und kräfteübertragenden Vorgänge des Rituals erlebt der Patient größtenteils in der dramatischen Handlung des Dialogs mit dem Dämon. Das ist einerseits eines Dialoges, der über seine eigene Person geführt wird, andererseits aber auch über das Auftreten des Dämons als Maske des Exorzisten und durch Akte der rituellen Übernahme der dämonischen Krankheit durch den Ritualtänzer, indem der Dämon aus dem Patienten 'ausgelagert' und für ihn in 'ästhetische Distanz' (im Sinne von Scheff 1979) gebracht wird, aus der er seine eigenen Symptome nun von außen wahrnehmen, 'erkennen' und verwandeln kann. Der Weg seiner Verwandlung ist Inkorporation des Mythos, indem er den vorgegebenen Pfad des Rituals folgt. Doch ist diese Verkörperung auch gleichzeitig ein aktives Weiterentwickeln des Mythos, indem ständig die gelebte Wahrheit der Teilnehmer des Rituals unterschwellig einfließt: am offensichtlichsten in die verbalen Dialoge des Rituals, zumeist unmerklicher in das rituelle Verhalten, die 'Auftritte' und ihre Körperbewegungen. Der Dialog mit den Schicksalsmächten entpuppt sich hier als aktive kulturelle Integration des komplexen Prozesses mikro- und makrosozialer Veränderung und als Dialog zwischen Individuum und Gesellschaft (Nürnberger 1993b,1995). Der Patient erhält zum einen Stütze in der Verwirklichung von sozial akzeptablen Verhaltens- und Lebensweisen, zum anderen aber auch - zum Beispiel bei initiatorischen Besessenheiten, wie den Berufungserlebnissen von Ekstasepriesterinnen - öffentliche Akzeptanz von Deviationen zu diesen Formen, indem diesen ein sozialer Sinn zugewiesen wird.

 

 

Zur Reflexivität zwischen Ritual und soziopolitischem Kulturwandel

 

Es gibt Entwicklungen in Tanz und Ritual, die die kulturelle Nähe von Praktiken der Auseinandersetzung mit religiösen Mächten zu Praktiken der Auseinandersetzung mit politischen Mächten in scharfer Deutlichkeit eindringlich klarwerden lassen. Diese Fokussierung erfolgt durch den eruptiven Einbruch gesellschaftspolitischer Veränderungen in den rituell verkörperten und sich dadurch auch verwirklichenden Mythos. Ein solcher plötzlich auftauchender, neuer körperorientierter Kult wurde von Stoller (1995) anhand des modernen westafrikanischen Hauka-Kultes untersucht, dessen 'Besessenheiten' Mentalität und Macht der Kolonialisten verkörpern und das Trauma des Kolonialismus durch Wiederholungen, Spiegeleffekte und Rollenumkehr kulturell fruchtbar werden lassen.

Infolge der Entwicklung modernen Bühnentanzes im Zuge der Nationalbewegung, des allmählichen Falls der Kastenschranken und der Begrenzungen traditioneller geschlechtlicher Arbeitsteilung im rituellen Bereich, erfährt auch das Ritualwesen Sri Lankas heute eine Phase sehr rascher soziopolitischer Veränderungen, in der zum Beispiel eine persönliche und ritualisierte Umdeutung krankhafter Besessenheit von singhalesischen buddhistischen Frauen in die Gnade einer heilsamen Trance, die eine Initiation zu einem modernen ekstatischen Priesterinnentum bedeutet, möglich geworden ist (Obeyesekere 1981, Nürnberger 1993b, 1994).

Durch die spezifischen Bedingungen innerhalb der multiethnischen Kulturlandschaft Londons wird es als politisch-kulturelle Wandelerscheinung schließlich auch möglich, dass indische Tänzerinnen die Shakerhymne 'Jesus is the Lord of the Dance' zu sakralen und profanen Tanzdarbietungen im modernen Bharata Natyam-Stil verarbeiten:

Vijayambigai Indra Kumar (44) führte ihr "Jesus as the Lord of the Dance" erstmals 1988 in der St. Barnabas' Kirche in Newham, East London, zu einer indischen musikalischen Bearbeitung des englischen Originals auf. Sie beauftragte Sirgazhi Govindarajan damit, aus dem musikalischen Thema ein thillana, eine Komposition zu den typischen Solmisationssilben des indischen Tanzes, die als Abschluss einer klassischen Bharata Natyam Vorführung getanzt wird, zu entwickeln, das von dessen Sohn, Sirgazhi Sivachidambaram vokal interpretiert wurde. Vijayambigai ist bekannt für ihre Experimentierlust. Die in Sri Lanka geborene Tänzerin lernte unter anderem an der modernen Kalakshetra-Akademie in Madras und an Adyar K. Lakshmans Schule 'Bharata Choodamani' Bharata Natyam, bezieht in ihr Repertoire aber auch Bewegungen aus dem Kathakali-Tanztheater und dem Kuchipudi-Tanzstil und der südindischen Kampftechnik Alarippu mit ein (45). Sie hat die von ihr choreographierten traditionellen Teile einer Bharata Natyam-Vorführung 'Padam'(46) und 'Tillana'(47), die aus dem Shakerlied entwickelt wurden, anlässlich verschiedener Gottesdienste der Anglikanischen Kirche (48) und der Methodisten in Londoner Kirchen getanzt. Sie tanzte dieses Stück in einem schlichten weißen Kostüm und ohne dem traditionellen Schmuck der Bharata Natyam-Tänzerinnen. Ihre Interpretation des eigentlichen, englischen Liedes beinhaltet in erster Linie pantomimische Teile, in denen sie zum Beispiel das Tragen des Kreuzes und andere Textpassagen tänzerisch darstellt. Jesus als Gott des Tanzes aufzufassen, kommt dem indischen Verständnis von sakralem Tanz sehr entgegen. Im Hinduismus gilt Shiva in seiner Erscheinungsform als Herr des Tanzes (Nataraj) als Gott der Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung der Welt.

Auch Bisakha Sarker (49), die als Tanzlehrerin indischen Stils, als Tanzanimateurin und in verschiedenen Kulturfunktionen an verschiedenen Orten Englands tätig ist, hat dasselbe Lied in ihre Arbeit einbezogen. Sie verwendet es, um weißen englischen Jugendlichen die Spiritualität des indischen Tanzes in ihren Workshops nahezubringen und unterrichtete zu seinen englischen Versen einfache abstrakte Bewegungen, horizontale, vertikale und diagonale Linien der Arme und Hände sowie des ganzen Körpers bevor sie mit ihren Schülern daraus einen Gebetstanz erarbeitet. Für diese Art von Arbeit gilt, was Mira Kaushik (50), Direktorin der Academy of Indian Dance in London über ihr Aufgabengebiete 'Education' und 'Community' erzählt. Die Tänzerinnen wenden hier in erster Linie eine Kunstform an, die sehr allgemein ist, nicht einen speziellen tanzdramatischen Stil, sondern einfachere grundlegende Formen indischen Tanzes, wie sie sich auch in den Volkstänzen wiederfinden, die grundsätzlich auch die populärsten Züge herausstreichen, um über Gemeinsamkeiten und akzeptable Verschiedenheit als 'nahe Fremde' in Dialog zu Vertretern anderer Kulturen treten zu können.

Alle diese Beispiele machen unterschiedliche und vielschichtige Zusammenhänge zwischen Form und Inhalt der dialogischen Auseinandersetzung mit den als schicksalsfügend begriffenen Mächten auf der einen Seite und der Gestaltung dieses religiösen Dialoges in Abhängigkeit von politisch-sozialen Strukturen der Macht auf der anderen Seite deutlich.

 

 

Dem Fremden begegnen

 

Insbesondere in den Libretti der Opern des 17. und 18 Jh. findet sich eine große Anzahl von Balletten mit exotischen Inhalten. Im Gefolge der in dieser Zeit häufigen geographischen Entdeckungen treten Inder, Chinesen, Mohren, Türken, Spanier, Polen oder Moskoviten als Figuren auf. Rassen und Nationalitäten vermischten sich in diesen Darstellungen oft ohne Rücksicht auf anthropologische oder ethnologische Fakten. In "Il Pomo d'Oro" von Marc Antonio Cesti etwa, trat die allegorische Gestalt 'Amerika' als dunkelhäutiger König der Mohren auf, später singt dieselbe Figur jedoch eine charmante Melodie zum Rhythmus einer Barcarole (Nettl 1948:28). Die Maskeraden des Barock hießen generell Moresken, ursprünglich eine Art Tanzpantomime in Kostümen von Mohren mit geschwärzten Gesichtern, angeblich einem orientalischen Fruchtbarkeitstanz, der in persiflierter Form unter den Spaniern aufkam. Nach rezenten Forschungen soll die Moreske auf das Jahr 1149 zurückgehen, als in der Stadt Lerida, westlich von Barcelona, die Verehelichung der Königin durch einen Tanz gefeiert wurde, der den Kampf zwischen den Christen und den Mauren zum Inhalt hatte, ein Jahr nachdem die Mauren aus Lerida vertrieben worden waren (Smedley in Academy:11). Im Barock war die Verkleidung des Mohren jedenfalls die wichtigste und populärste Maske:

Die Moreske galt als Ausdruck der unaufhörlichen Kämpfe zwischen den Christen und Ungläubigen und ist in Spanien bereits für die Mitte des 12. Jh. belegt. In der Renaissance wurde sie zum beliebtesten Gesellschaftstanz und gehörte zur Kategorie der Waffentänze. Sie galt für alle Hoffestlichkeiten vor dem Ballet de Cour als Höhepunkt des Festes. Auf den Balearen treten an die Stelle des Ritterkorps Pferdeattrappen, womit die Moreske auch den ethnologisch bekannten weitverbreiteten Typ der Pferdetänze einbindet (Smedley 1983, Liechtenham 1993:43f., 200, Ettl 1992a: 628f). Die Moreske gilt heute als wichtige Urform des Balletts (51). Auch der rezente Morristanz, der seit der Zeit Edward III Teil der Unterhaltungen des ersten Maitags in England ist, geht auf sie zurück (Schikowski 1926:89; Nettl 1948:30f; Smedley in Academy 1983; Liechtenham 1993:43f,200; Nürnberger 1996b:252).

Seit jeher wurden über das Medium Tanz Urteile über fremde Kulturen transportiert. Die Geschichte der Moreske, Mauresque oder Moriske in Spanien, Frankreich, Belgien, Rumänien und schließlich des zeitgenössischen englischen Morris-Dancing, die allesamt auf die Moresca zurückgehen, ist nur ein Beispiel dafür. Nach Nettl (1948: 30-33 )ist auch die höfische Chaconne und Sarabande des 17. Jh. eine spanische Weiterentwicklungen aus orientalischen Tänzen und die volkstümliche Jig eine englische Weiterentwicklung der spanischen Canarie. Die Canarie ist eine Tanzform des 16. Jh., die selbst auf der Nachahmung der als bizarr und wild empfundenen Bewegungen von kanarischen Tänzen basierte (Schikowski 1926:89, Liechtenham 1993:196). Spanische Kolonialherrscher ließen sich gerne Tänze der kolonisierten Stämme darbieten und ermutigten ihre eigenen Hofchoreographen zur Kreation von exotischen Balletten.

In ähnlicher Weise legt auch die außereuropäische Tanzgeschichte Zeugnis über die Geschichte von Invasionen in vielerlei Formen ab. So werden in den nordindischen Tanztraditionen Absorptionen fremder Elemente aus den kontinuierlichen Invasionswellen ebenso sichtbar wie die daraus resultierende Betonung kriegerischer Formen im Tanz (Academy 1983:15).

Viele tanzsoziologischen Arbeiten beziehen sich auf die Rolle des Tanzes als Selbstdarstellung gegenüber dem Fremden, als Darstellung der eigenen Macht und Unabhängigkeit, Kampfkraft und Schönheit, oft auch in die Form von einer Art Wettbewerb untereinander oder mit dem Fremden (Spencer 1988 b: 21-27) wobei manche Tänze auch den Fremden in Gebaren, Maske und Kostüm miteinbeziehen.

Im singhalesischen dörflichen Tanztheater Kolam erscheinen die Kolonisatoren in Gestalt des Offiziers und des Polizisten als verkommene, betrunkene, undisziplinierte Gestalten. Stoller (1995) berichtet von den Haukas, Geistern der Kolonisatoren, die in Westafrika Besessenheiten verursachen. Die von den Haukas Besessenen Rauchen exzessiv, tragen europäische Hüte, schütteln Hände, spucken viel, benehmen sich herablassend und können heilen.

Solche Tänze sind in erster Linie dazu da, den Gegner über karikierende Identifikation begreifbarer zu machen, dann bisweilen auch dazu, den Gegner zu beein- drucken, ihm zu gefallen oder ihn zu entmutigen oder die eigenen Leute beeindruckender darzustellen. Diese Tänze bedeuten für den Fremden Einbeziehung oder Reflexion des Selbst im Fremden. Zwischen Aggression und Akzeptanz, Missverständnis und neuer Sinnzuweisung, Karikatur und Sakralität, Unterwerfung und Widerstand, Entspannung und Stress begegnen wir unserem Abbild als Fremde. Schechner (1993:18f.) spricht in 'The future of ritual' vom 'recycling' zwischen den Kulturen, Stoller (1995) von der 'Verkörperung kolonialer Erinnerungen'.

 

 

Tanz für den Frieden - Tanz für den Kampf

 

Die Parallelen zwischen Bräuchen der rituellen Beschwichtigung von Schicksalsmächten und Praktiken der Friedensstiftung zwischen Menschen sind keineswegs nur aus etischem Blickwinkel zu entdecken. Rituelle Spezialisten vieler Völker sehen diese Parallelen und handhaben sie geschickt, um soziale Harmonie innerhalb ihrer Gesellschaften aufrecht zu erhalten. Diallo, selbst afrikanischer Trommler und Musiktherapeut, berichtet über die Vorstellungen seiner Herkunftsethnie, der westafrikanischen Minianka:

Auch die Ritualtänzer Sri Lankas sehen dämonische Besessenheit in kausalem Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, welche erst eine Angriffsfläche für böswillige Geister und Dämonen erschafft. Krankheiten, von denen angenommen wird, dass sie durch solche Wesen hervorgerufen wurden, werden nach Vogt-Frýba (1991) deshalb manchmal auch "Isolationskrankheit" (tanikama dosa) genannt. Sie werden im Tiefland durch die Spezialisten der Exorzismustanzzeremonien (yak nätum) behandelt. Diese Art von Zusammenhängen bildet nicht nur den mythologischen Hintergrund für die Heiltänze der Exorzismusriten, die Individuen gelten, sondern auch für das priesterliche Tanzritual Kohomba Kankariya des Hochlandes, das der Korrektur kollektiver Schicksale dient. Dieses Ritual wird als ältestes und ursprünglichstes Ritual Sri Lankas angesehen. Es bietet ein ausgezeichnetes Beispiel für die Verflechtung der Intentionen der Harmonie- und Friedensstiftung mit den Anliegen allgemeiner Schicksalskorrektur und Heilung, weshalb ich darauf hier näher eingehen möchte:

Das Kohomba Kankariya ist bis ins 15 Jh. schriftlich belegt. Seine Entstehungsmythe verweist auf die Regierungszeit Panduvasudevas als Nachfolger von Vijaya ins 5. Jh. v.u.Z. Ich habe an anderem Ort (Nürnberger 1994:79-112) auf die komplexe politische Bedeutung des Rituals in Bezug auf die Friedensstiftung innerhalb srilankischer Königreiche hingewiesen. In das Pantheon des Rituals wurden über Hunderte von Jahren Götter und Heroen eingegliedert, welche die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Insel repräsentieren und auf diese Weise ein 'multikulturelles' Pantheon bilden.

Dieses Ritual ist ein Kult der frühen Königreiche, der für die Aufrechterhaltung des Friedens zwischen verschiedenen und verschieden alten indigenen Bevölkerungsgruppen und den Nachkommen der indischen Kolonisatoren unter Vijaya diente. Die Verehrung all dieser Gottheiten diente zuerst und noch lange Zeit zumindest in erster Linie der Friedenssicherung. Im Lauf der Zeit wurde es jedoch immer mehr zu einem allgemeinen Garant von Wohlstand, Fruchtbarkeit und Gesundheit. Als Erinnerung an die alte politische Funktion des Rituals überliefert sein Ursprungsmythos die Geschichte von den verheerenden Folgen eines 'interkulturellen' Eidbruchs, den sich der nordindische Eroberer-König Vijaya gegenüber der 'ur-srilankischen' Königin Kuveni, Herrin über das mythische 'Urvolk' Lankas, der Yakkas, zuschulden kommen hat lassen. Vijaya beging einen Eid- und Friedensbruch, indem er seine indigene Gemahlin Kuveni und ihre gemeinsamen Kinder zugunsten einer indischen Prinzessin verstieß. Seine Heirat mit Kuveni und seine Kinder waren die Garanten seiner friedlichen Absicht gewesen, mit dem Volk von Lanka auf gleicher Stufe zu verkehren. Aus Rache verursachte Kuveni nun auf magischem Weg die Erkrankung Vijayas und schließlich auch seines Nachfolgers Panduvasudeva. Die Krankheit, die ihn befiel hieß 'divi dos', was 'Eidbrecher Krankheit' bedeutet, aber auch 'Leopardenkrankheit' und häufig als Lepra identifiziert wird. Der kohomba-Baum (azadirachta indica, engl.: margosa), der dem Ritual seinen Namen gab, ist eine heilkräftige Pflanze, dessen Wurzeln, Rinde, Holz, Blätter und Samen unter vielen anderen Anwendungen auch in der Behandlung von schwereren Seuchen wie Pocken und Lepra Verwendung finden (Chandrasena 1935:94). Die Gottheit Kohomba, oft unter der Bezeichnung 'Gruppe der drei Kohomba Götter' angerufen, gehört zu dem Gefolge des mythischen Priesterkönigs Mala-Raja, der als kultischer Held im Zentrum der Mythe des Tanzrituals steht. Er ist der mythische Heiler des Königs Panduvasudeva, Vijayas Neffen, und repräsentiert eine Figur aus einem archaischen Pantheon von Naturgottheiten. Sein Name kann als 'Blumen-König' übersetzt werden. 'Mala' heißt nach Clough (1982:464) aber nicht nur 'Blume', sondern auch 'Wedda', 'Förster', 'einer, der mit dem Bogen jagt' und 'Bogen', 'Netz', Schlinge'. 'Malaya' hieß früher auch ein unzugängliches Waldgebiet des Hochlandes von Sri Lanka, in das sich jene Teile der Ur- und Mischbevölkerung vor der Kultur der indischen Eroberer zurückzogen, die die Ahnen der heutigen Wedda wurden. Die Figuren des Kohomba-Gottes und des Mala-Raja gehören also zu dem mythischen Bereich der Weddas und der vorsinghalesischen Dschungelbewohner Sri Lankas. Die Kohomba- Gottheiten und die Figur des Mala-Raja können der ältesten Schicht des Ursprungsmythos des Rituals zugeordnet werden. Sie gehören zu 'Kuvenis Seite' in der Eidbrechergeschichte und stehen so für die Macht der präkolonialen Bevölkerung vor dem Einbruch Vijayas. Diese Macht ist es, die durch das Ritual befriedet wird und diese Bevölkerungsgruppen sind es, die über die Verehrung ihrer Ahnen und Götter hier nach der Logik des Kohomba Kankariya-Rituals geehrt werden. Der Ablauf des Kohomba Kankariya enthält zahlreiche Darstellungen und Tänze, die auf das Kulturgut von Singhalesen, Yakkas, Weddas und Indern gleichermaßen verweisen. So stand ritueller Tanz in Sri Lanka immer in Verbindung mit den prekären Rändern der Gesellschaft, mit den Gefährdungen, welche von Fremden und Anderen ausgingen und mit der Abwehr von Bedrohungen kollektiver Interessen. Singhalesische Tanzkunst entwickelte sich entlang dieser Vorgaben, wurde immer komplexer und ausgefeilter, bis sie zu einem unentbehrlichen Bestandteil der Staatsriten, der Tempelkulte und der dörflichen Heil-Zeremonien wurde.

Ein Tanzritual zur Friedensstiftung zwischen verschiedenen Kulturen hat sich hier zu einem Tanzritual zur Sicherung des kollektiven - und eben auch multikulturellen - Wohlbefindens gegen ganz andere Bedrohungen als Kriege, nämlich gegen Seuchen, Dürreperioden, Überschwemmungen und Hunger, unter der Beibehaltung der Anrufung eines multikulturellen Götterpantheons entwickelt. Marina Roseman (1996) beschreibt ein Beispiel einer umgekehrten Entwicklungslinie. Sie untersuchte die Art und Weise in der Machtbeziehungen zwischen den 'Waldbewohnern' und den 'außerhalb des Waldes wohnenden' Temiar in therapeutischen Riten vermittelt und ausgeglichen werden. Diese Heilriten waren traditionell ein ritueller Raum der Inbeziehungsetzung der Temiar zueinander und zum Wald als ihrem ökologischen und sozialen Lebensraum. Heute dient es dazu, ihre Stellung als Mitglieder der unabhängigen Malaysischen Nation zu artikulieren. Roseman demonstriert, wie eine Heilzeremonie für ein bestimmtes Kind auch vorbeugende und therapeutische soziale Heilung für eine soziale Gruppe ausagiert, die durch ihre Konfrontation mit Problemen der Entwaldung, islamischer Religiosität und durch ökonomische Veränderungen, von generalisierter Reziprozität zu marktwirtschaftlichen und kapitalistischen Systemen des Güteraustausches, traumatisiert ist. In einem Prozess fortschreitender Entmachtung durch Landverlust und Ressourcen, eignen sich Temiars die Macht der Fremden und ihre Gebrauchsgüter im Rahmen ihrer Geister-Zeremonien für ihre Zwecke an. In der kulturell demarkierten Zone des Heilrituals verkörpert ein Temiar-Medium das sich entwickelnde Konzept des 'Staates von Kelantan'. Klänge, Formen und theatralische Formate, die traditionell von diesen Bewohnern des Waldes verwendet wurden, werden mit anderen kombiniert, die mit der kulturell diversifizierten Bevölkerung von Kelantan, unter der sich chinesische Buddhisten, malaysische Muslims und tamilische Hindus finden, in Verbindung gebracht. Miteinander wetteifernde soziale Äußerungen werden auf diese Weise zeremoniell zu einer multiplen sensorischen Ganzheit verwoben.

Solche und ähnliche Beispiele legen nahe, dass sehr enge Zusammenhänge zwischen Heil- und Friedensritualen bestehen und auch, dass es keine grundlegenden Unterschiede in dem rituellen Prozess der Anrufung der beschützenden Mächte eines Kollektivs gibt, ob diese nun für den Frieden, für die Fruchtbarkeit oder die Gesundheit der Gemeinde angerufen werden, wodurch die fließenden Übergänge zwischen beiden Ritualtypen erst möglich werden.

Olga Maynard (1963:53) schreibt über den Tanz (52):

Der Fremde wird auf der Ebene seiner Götter und Geister mit den Unseren verbunden, verwandt gemacht und zum Teil des Eigenen geformt. Selbst die eigenen Götter und Geister werden wie eine Art mächtiger Fremder, über den man zwar einiges weiß, den man aber nicht gänzlich zu ergründen vermag, angerufen und beschworen, befriedet oder beeinflusst. Der Tanz transportiert dabei in idealer Weise das kollektiv verbindende Agens des Rituals, ein Konglomerat aus transzendierenden emotionalen, physischen, triebhaften, geistigen und kreativen Energien, das eine Gemeinschaft und eine alltägliche Raum-Zeit 'erheben' und durch rituelle Raum-Zeit, rituelle Physis und Sozialität leiten und transformieren kann. In diesem Sinn transportiert Tanz 'eine profunde evokative und weissagende Kraft' - eine schicksalsbewältigende kognitive Kraft von mythischer Tiefe, die im Kollektiv wurzelt.

Das Fremde, sei dies nun ein kulturell Fremdes oder das Übermenschliche, primär Unbegreifliche in Gestalt eines Gottes oder Dämons, wird immer zuerst physisch begriffen, ist durch Andersartigkeit von Gestalt und Bewegung und erst in der Folge auch nach emotionaler und ethischer Substanz charakterisiert und dadurch auch körperlich, besonders durch Bewegung darstellbar. Bill T. Jones und Arnie Zane sind zwei amerikanische Choreographen und Tänzer, die besonders in ihren frühen Arbeiten dieses Potential des Tanzes in Hinblick auf den Abbau von Rassenvorurteilen ausloteten:

So erscheinen in ihren Stücken verkörperte Gegensätze sowohl schärfer als auch unproblematischer, sowohl prekärer als auch spielerischer lösbar als im Alltag. Das Fremde wird in der Darstellung sekundär und oft karikierend verwirklicht, wird darin begreifbar, in das Eigene integrier- und bewältigbar. Solche Darstellungen können verschiedene Wirkungen hervorrufen. Wenn sie Missverständnisse über kulturgeprägten Körperausdruck enthalten, können sie zum Beispiel Fremdenhass durchaus auch aktivieren und das selbst dann, wenn die Darstellung selbst gut gemeint ist (Hanna 1983:22). Doch können Repräsentationen des Fremden, als Formen von interkultureller Performance von hohem kommunikativem Potential, auch Wissen über das Fremde und Identifikationsmöglichkeiten mit dem Fremden transportieren, die eine Versöhnung mit den bedrohlichen Anteilen des Fremden ermöglichen helfen. Richard Schechner schreibt deshalb sehr enthusiastisch über die Bedeutung interkultureller Performance:

Stoller (1995: 30f) greift in seiner Darstellung des postkolonialen Besessenheitskultes der Haukas, der Geister der Kolonisatoren Westafrikas, Lipsitz Vorstellung von einem kulturellen Gegengedächtnis (counter-memory) auf, das sich besonders in künstlerischen Ausdrucksformen kultureller Randgruppen widerspiegelt, in Erzählungen, Objekten und Körpern mehr als in Texten. Er argumentiert, dass Besessenheitskulte mehr sind, als bloßes Schauspiel und wendet sich damit gegen die französischen Vertreter eines bloß performativen Ansatzes wie z.B. den Afrikaforscher Michel Leiris, aber auch Gilbert Rouget, der in "La Musique et La Trance" die Entwicklung des griechischen Theaters aus den Besessenheitskulten der Korybanten verfolgte (ibid: 37f.). Stoller bezieht sich auch auf den Ansatz von Jean-Marie Gibbal, der den Wurzeln des 'Grausamen Theaters' Antonin Artauds in Besessenheitskulten nachspürt. Stoller läßt sich von Michael Taussigs 'Mimesis and Alterity' inspirieren, der u.a. den Effekt untersucht, den eine Darstellung in einem Akt des 'second contact' auf den Dargestellten selbst hat und der dem vereinnahmenden und verarbeitenden Charakter solcher Darstellungen nachspürt. Stoller streicht heraus: Wissen ist körperlich, man stellt dar, um zu verstehen. Nachahmende Prozesse sind aber auch Manipulation, sind auch sehr stark Bestandteil magischer Praktiken (ibid.: 41-45). Für Stoller ist die Begegnung mit dem von den nigerianischen Tänzer-Medien vermittelten Haukas, weiße und militärische Geister der französischen Kolonisatoren, mehr als ein 'second contact'. Man könnte in einer Weiterführung von Stollers Gedanken sagen: Körperliche Darstellung kann mehr als Schauspiel sein, sie kann die alltägliche Existenz in einer Anstrengung für Verbesserung transformieren. Das menschliche Sein in einer Welt der Machtlosigkeit, von Hunger und Krankheit bedroht, von Kolonisatoren gedemütigt, findet nicht nur temporäre Erlösung, sondern auch faktisch verwirklichte soziale Macht in darstellungsorientierten Kulten.

Ismael Ivo, Schwarzer, Brasilianer, Alvin Ailey-Stipendiat und künstle- rischer Leiter der Wiener Sommer- und Wintertanzwochen, windet sich in den Achtzigerjahren in Wien von einer hohen Strickleiterwand herunter, die auf die Bühne herabhängt. Die Taue werden ihm zu Fesseln, geraten so unmerklich zum Bühnenbild eines Sklavenschiffs. Der langsame qualvolle Tanz, der an die seltsam halluzinogenen zeitlupenartigen Verwindungen des modernen japanischen Butoh erinnert (Ivo hatte auch Butoh-Lehrer), wird zur Metapher der Kolonisation: der 'schwarze Kontinent' in Menschengestalt, gebundenes geschundenes Fleisch. Die latente Möglichkeit der Rache im Wiedererwachen dieses Kontinents - Ivo ist auf dem Boden der Bühne angelangt und beginnt sich in unerwarteten, kraftvollen Formen emporzurecken - ruft wage Schuldgefühle und Ängste in mir weißer und friedenshungriger Zuseherin hervor.

Die Tänzerin und Choreographin Vijayambiguai lässt in ihrem Tanzstück "Bharata Kande Vibishi Arankam" den indischen Poeten Bharata gemeinsam mit tamilischen Freischärlern auf einer kleinen Bühne in London aufmarschieren. Bharata besucht in ihrem Tanzstück Sri Lanka, stellt das Elend seiner Landsleute dort fest und ruft zum bewaffneten Widerstand auf. Das Publikum dieser Vorführung sind tamilische Besucher und Emigranten in England. Der singhalesische Feind ist nicht zugegen. Er würde einen in der Heimat, die man verlassen hat, zum Schweigen bringen, vielleicht auch töten. Das Stück ist lang wie die Tanzdramen Tamil Nadus, Sri Lanka ist fern und die Helden sind groß. Im Tanz mischen sich Elemente des Bharata Natyam mit der südindischen Kampfkunst Kalaripayattu, mit Bewegungen des Karate, des europäischen Ausdruckstanzes und mit Darstellungen der Kriegsmaschinerie des 20. Jahrhunderts. Der Tanz befriedigt das tamilische Publikum, man hat etwas 'getan', reagiert auf die bedrückenden Erinnerungen aus der Heimat, ein Schattengefecht ausgefochten, das Emotionen entladen half. Die gefeierten Musiker fahren zurück nach Indien. Die Tänzerin wendet sich in London neuen Projekten zu.

Vijayambiguai ist in Colombo aufgewachsen. Sie studierte lange Zeit in Madras, unter anderem offenbar an derselben Schule, an der auch die Leiterin des Wiener Natya Mandir, Radha Anjali, bekannteste Bharata Natyam-Tänzerin in Wien, unterrichtet wurde, die nicht die geringsten kriegerischen Absichten auf die Bühne bringt. Nicht Lehre, sondern inhaltliche Intention bestimmt die endgültige Form des Tanzes. Dieselbe Tänzerin, Vijayambiguai, tanzt in einer Londoner Kirche Jesus Christus, als den Wegbereiter auf Erden, der sein Kreuz selber trägt, im Bharata Natyam-Stil. Vijayambiguai ist ein 'Medium' des Kulturwandels. Sie gehört zu der ersten südasiatischen Frauengeneration, die den relativ niedrig dramatisierten Pfauentanz (kekiyattam) des zuvor Männern vorbehaltenen Kathakali-Stils lernen durfte. Vor ihr hatte eine kleine Generation westlicher Tänzerinnen (u.a. La Meri) dieses Vorrecht genossen. Vijayambiguai ist als Frau in Südasien und als Tamilin im eigenen Land marginalisiert. Sie reizt Grenzen aus, ist fasziniert von Utopien, nutzt jede Gelegenheit, mit Phantasie und vor dem Hintergrund ihrer vielseitigen Ausbildung zu experimentieren.

Tanz ist ein potentes Mittel um die emotionsgeladene Kluft zum Fremden zu überwinden. Doch seine Anwendung für die Förderung der Koexistenz zwischen unter- schiedlichen Bevölkerungsgruppen, vor allem, wenn Unterschiede sich aus Körpermerk- malen erschließen lassen, erfordert große Virtuosität. Für einen Kriegstanz mag es manchmal auch hinreichend sein, sich unter gemeinsamem Trommeln, Stampfen und Brüllen in Rage zu bringen, seine eigenen Vorzüge zu rühmen und seine Gegner zu verspotten. Ein Tanz für den Frieden erfordert größere Geschicklichkeit, auch Weitsicht und multikulturelles Wissen. Unter Umständen kann es dann auch zu einem kulturpolitischen Metatanz für den Frieden gehören, einer verfolgten Ethnie einen Kriegstanz im Ausland zu ermöglichen, um ihre Identität zu stützen, ihr eine öffentliche Plattform oder auch bloß ein Entlastungsventil zu bieten.

 

 

Repräsentation sozialer Rollen

 

Darstellungen von Gesellschaftsklassen und Kasten, Arbeitsbewegungen, Geschlechterrollen, Frauen- und Männertänze finden in tänzerischen Darstellungen - von Riten bis zu Nationaltänzen - Eingang, in denen Geschichten über die eigene Kultur und über das, was man vom Anderen hält, erzählt werden. Die Charakteristika sozialer Rollen werden geschönt oder karikiert, vergöttlicht, geehrt oder lächerlich gemacht und erfüllen eine Vielzahl performativer Funktionen von Repräsentation bis zur Gesellschaftskritik, letztere oft auch mit Ventilfunktion, in dem soziale Spannungen zwischen Gesellschaftsschichten oder ethnischen Gruppen entlastet werden.

 

 

Choreographien von Arbeit und Status

 

Die tänzerische Einbindung sozialer Rollen aus der Arbeitswelt und gesellschaftlichen Machtstruktur hat viele Facetten und kann unterschiedliche und interagierende Funktionen erfüllen, deren Vielfalt hier anhand einiger weniger ausgewählter Beispiele nur angedeutet werden kann. Choreographien von Arbeit und Statusfunktion innerhalb einer Gesellschaft können neben der gesellschaftlichen Wertung körperlicher Arbeit umfassendes soziales und auch psychophysiologisches Wissen kommunizieren und gesellschaftlich nutzbar machen.

Der Entwertung des physisch arbeitenden Körpers mit dem aufkommenden Bürgertum (53) des Westens, steht seine Huldigung in den Arbeitstänzen der ganzen Welt gegenüber. In zahlreichen Kulturen sind Volkstänze aus Arbeitsbewegungen hervorgegangen, die ursprünglich oft bestimmten sozialen Schichten vorbehaltenen waren. In Sri Lanka gibt es unter anderem den Tanz des jagenden Wedda-Jägers, den Tanz der Wasserträgerinnen, der tamilischen Teepflückerinnen oder den der singhalesischen Worflerinnen, welche heute von allen Folkloregruppen des Landes gezeigt werden. Es ist nicht in allen Fällen geklärt, ob die Tänze ursprünglich von den Arbeitenden selbst erfunden wurden, oder ob andere Menschen die verschiedenen Arbeitsbewegungen in dekorative Tänze umsetzten. Auch sind die Bereiche Arbeit, Tanz und Spiel nicht überall so von- einander getrennt wie im Westen. In Südasien tendiert man beispielsweise dazu, die Arbeit auf dem Feld als eine Manifestation der Natur zu betrachten, welche durch Tanz gefeiert wird. An vielen Orten der Welt werden in den tatsächlichen Arbeitsprozess Gesang und Tanz mit einbezogen, um ihn angenehmer zu machen. Nach Carl Campbell (in Academy 1983:12) stammen besonders die afrikanischen und afrokaribischen Tänze, neben jenen, die auf der Imitation von Tieren beruhen, hauptsächlich aus dem Alltagsleben und aus der Arbeitswelt. Arbeitstänze sind unverzichtbare Bestandteile von Folkloreprogrammen der Nationalballette geworden. In diesem Fall sind Arbeitstänze oft eng mit dem Nationaltanz verbunden worden.

Wie bereits im Abschnitt "Emotionalisierung und Katharsis" (54) erwähnt, werden bei den westafrikanischen Minianka die Arbeitstänze des Alltags auch tanz- und musiktherapeutisch zur Bewältigung persönlicher Krisen genutzt. Diallo (Diallo & Hall 1989: 99, 105-112) beschreibt die Wichtigkeit von Tänzen, welche aus Arbeitsbewegungen heraus entwickelt wurden, für das Selbstwertgefühl und die persönliche Integrität der Angehörigen der verschiedenen Berufsgruppen, der Schmiede oder der Bauern etwa, aber auch, wie zum Beispiel im Fall der Hirten, von anderen mit ihnen kooperierenden Ethnien. Jeder Beruf erfordert und fördert seine eigenen charakterlichen, emotionalen und körperlichen Stärken und jeder Arbeitstanz wird mit einem speziellen Berufsrhythmus durch Angehörige der Berufsgruppe der Trommler musikalisch begleitet. Diese musikalischen Rhythmen werden auch dazu verwendet, krankhaft gestörte Identität in gesunde intakte Integrität zu überführen, indem individuelle Schwächen durch tänzerische Identifikation mit spezifischen sie stärkenden Berufspersönlichkeitsbildern musik- und tanztherapeutisch, in der weiter oben bereits kurz beschriebenen Form, behandelt werden. So sind bei den Minianka therapeutisches Ritual und Arbeitstanz eng miteinander verbunden.

Die Ritualisierung spezieller Arbeiten durch strukturierte Bewegungssysteme, wie in der von Adrienne Kaeppler (1988) untersuchten königlichen Kava-Bereitung auf Tonga, signalisiert eine Verdichtung der sozialen und kommunikativen Bedeutung dieser Arbeiten und sind Zeugnis ihrer besonderen kulturellen Wertschätzung. Das Kava-Trinken ist bis heute in Polynesien ein wichtiger Bestandteil gesellschaftlicher Ereignisse, von der Hochzeit bis zum Begräbnis. Die würdevollste und formalisierteste Zubereitung von Kava ist die taumafa kava, die königliche Kava, die in der stratifizierten Gesellschaft Tongas vor allem Teil der zeremoniellen Verleihung von Amtstiteln (fakanofo) vom Tu'i Tonga (König) bis zum Niedrigsten der Beamten (matapule) ist und in zwei Stilen ausgeführt wird. Während dieser Ereignisse werden virtuose formalisierte Bewegungen in festgelegter Reihenfolge aufgeführt, die der Leitung des ordinierenden matapule gehorchen. Es gibt auf Tonga drei Arten von Kava-Zeremonie, neben der bereits genannten noch die ilo kava, die Kava des Adels und der Vornehmen, und die fai kava, die Kava der gewöhnlichen Leute. Während weniger formeller Kava-Zubereitungen sind die Bewegungen weniger ausführlich, weniger beredt, weniger strukturiert, ähneln aber noch immer, auf eine nicht formalisierte Art, der königlichen Zeremonie. (Kaeppler 1988: 97f, Maruna & Wernhart 1979: 16-18).

Kava hatte früher auch im östlichen und zentralen Polynesien wichtige zeremonielle Bedeutung. Kava diente unter anderem der Verehrung oder der Kommunikation mit den Göttern und wurde in Hawaii für die Krankenbehandlung und in der Hexerei verwendet, aber auch "um Schlaf herbeizuführen oder der Ermattung entgegenzuwirken" (Maruna & Wernhart: 18). Auf Samoa war es Aufgabe einer eigens zu diesem Zweck von Kindheit an vorbereiteten Dorfjungfrau von vornehmer Abstammung den Kavatrank vorzubereiten und die Gäste durch Tanzvorführungen zu unterhalten. Sie führte also nicht nur die eigentliche Choreographie der Kavabereitung, sondern zusätzliche Tänze aus. Ihre Erziehung beinhaltete unter anderem eine Schulung in Konversation und das Anlegen wertvoller Kleidung (ibid.). Erst durch den Einfluß der Missionare seit der Mitte des 19. Jh. wird die Zubereitung und das Trinken von Kava in Ostpolynesien, z.B. auf den Gesellschaftsinseln und auf Tahiti, nicht mehr geübt, hat sich aber in Samoa, Tonga und im melanesisch-polynesischen Grenzbereich des Fidschi-Archipels bis heute erhalten (ibid.: 16).

Die choreographierten Bewegungsverläufe des hochstrukturierten königlichen Kavatrinkens auf Tonga, die aus westlicher Perspektive als Arbeitstanz bezeichnet werden können (55), fallen jedoch für die Tonganer nicht ohneweiters unter einen vergleichbaren Terminus. Für die Tonganer ist Tanz "entertainment and probably ephemeral and frivolous" während strukturierte Bewegungssysteme, wie die choreographierte Zubereitung des Kava-Trankes, als "social metaphors to be remembered and passed on" (Kaeppler 1988: 115) hohe Wertschätzung genießen. Zusätzlich ist hierbei von Bedeutung, dass das tonganesische Wort me'e für Tanz generell an Gebräuchlichkeit verlor, als protestantische Missionare sich um die Auslöschung heidnischer Tänze bemühten. Anstatt dass jene wichtigen sozio- kulturellen Formen, die von den Missionaren als heidnische Tänze bezeichnet wurden, starben, 'erfanden' die Tonganer neue Formen und gaben ihnen neue Namen. Die 'Neuheit' dieser Formen beschränkte sich auf neue Kombinationen alter Bewegungssequenzen. Aho-me'e (Tagestanz) bedeutete früher formalisierte Tanzaktivität, während po me'e (Nachttanz) informellen Unterhaltungswert hatte. Aho-me'e und seine semantischen Nachfolger beziehen sich heute in erster Linie auf soziale Metaphern, die dazu verwendete werden können, kulturelle Information weiterzugeben - wobei einiges davon besser nicht laut ausgesprochen wird - oder auch als visuelle Erweiterung von oraler Literatur fungiert (ibid.: 114). In der Interpretation von ritualisierten Arbeitsbewegungen mit verdichteter sozialer und kommunikativer Bedeutung ist daher auf die Erhebung emischer Terminologie besonderes Augenmerk zu legen.

Choreographierte Arbeitsprozesse können wie beim Kavatrinken aus ritualisierten strukturierten Bewegungsabläufen erwachsen und verweisen dann auf spezifische verdichtete soziale und kommunikative Funktionen dieser Arbeiten. In der modernen Gesellschaft erhält die Choreographierung von Arbeitsbewegungen für eine tänzerische und ästhetisierte Repräsentation auf der Bühne neben dem graduellen Weiterbestand kultur- und sozialindikativer Funktionen zuweilen auch neue, insbesondere auch sozialkritische Bedeutung. In Indien hat Uday Shankar in Anlehnung an das sowjetrussische 'proletarische Theater' etwa eines Sergej Prokofjew den mechanisierten Arbeitsprozess, der in Indien aufgrund der importierten Technologien unter den Bedingungen des Kolonialismus in besonderem Ausmaß auch mit nationalen Konflikten verbunden war, in "Arbeit und Maschinerie" als einer der ersten tänzerisch thematisiert (Rebling 1981: 233f). Piali Rai war von 1966 bis 1974 eine Schülerin des Uday Shankar Indian Cultural Centre in Kalkutta. Nach ihrer Emigration aus Indien nach Birmingham in England 1982 begann sie als Tanzlehrerin und Tanzanimateurin aktiv zu werden und war als heutige Direktorin 1991 wesentlich an der Gründung von Sampad, einem südasiatisches Kulturinstitut in Birmingham, beteiligt. 1988/89 produzierte sie in Birmingham gemeinsam mit dem afrokaribischen Choreographen Jacky Guy und der aus je vier asiatischen und afroamerikanischen Tänzern und Tänzerinnen bestehende Cucuma Dance Company das Stück "Human Machine" (Manav Jantra). Darin thematisierte sie in Anlehnung an die Tradition Uday Shankars die spezielle Situation jener Menschen, die, aus Jamaica oder aus indischen Dörfern nach England kommend, in den großen Fabriken Birminghams für billiges Geld arbeiten müssen. Auch hier wurde über Tanz Sozialkritik an einer Arbeitswelt geübt.

Tänze, die Arbeit und Status choreographieren, bedeuten öffentliche Anerkennung gesellschaftlicher Funktionen, stellen soziale Zusammenhänge öffentlich dar, bestätigen überkommene und neu erlangte Identität. Insbesondere wo nicht die eigene, sondern die fremde und entfremdete Arbeit und Sozialrolle thematisiert werden, können solche Tänze aber auch therapeutische oder gesellschaftskritische Funktionen übernehmen.

 

 

Geschlechterrollen

 

In vielen Ländern ist Tanz dem einen oder anderen Geschlecht vorbehalten oder gibt es zumindest weibliche und männliche Tanzstile.

Im indischen und srilankischen Raum wird im allgemeinen zwischen einem männlichen Tanzstil (tandava) und einem weiblichen Stil (lasya) unterschieden, die jedoch von Vertretern beiderlei Geschlechts getanzt werden können. Eine Besonderheit ist das traditionelle Repertoire des hinduistischen Tempeltanzes, in dem sowohl Frauen als auch Männer eine weibliche Rolle in einem intensiv persönlichen Verhältnis gegenüber einem männlichen Gott oder herrschaftlichen Patron interpretieren (Gaston 1996:48). Einzelne Stile, wie der Kandytanz (Hochlandtanz) Sri Lankas oder der Kathakali-Tanzstil Keralas sind überwiegend männlichen Stils (tandava) und zeigen deshalb hauptsächlich die Emotion heroischer Mut/ Stolz (vira rasa). Im traditionellen Kathakali-Tanzdrama spielen Männer bis heute sowohl Frauen- als auch Männerrollen. Hanna (1983:164) berichtet, dass Männerrollen als prestigevoller gelten, da das Ausdrucksrepertoire der Frauenrollen auf Liebe und Trauer beschränkt ist. Frauenrollen werden eher langsamer getanzt, Männerrollen hingegen besonders kraftvoll. 'Frauen' bewegen einen Arm manchmal quer über den Leib und stützen ihn an der Taille auf. Auch 'Dämonen' haben unterschiedliche Bewegungen nach ihrem Geschlecht. Weibliche Dämonen gehen mit undulierenden Bewegungen, es sei denn sie sind wütend. (Hanna 1983:165)

Im japanischen Kabuki-Stil der Frauendarstellung tendieren die Bewegungen zur Zentripedalität, die Knie sind gebeugt und werden zusammengehalten, die Arme wenden sich gegen den Körper. Frauen gehen mit eng zusammengehaltenen Knien und etwas einwärts gedrehten Füßen. Bei schleifenden Schritten schwingt der Körper unmerklich mit den graziös undulierenden Schultern mit. Das Kinn bewegt sich leicht von der Seite des vorgestreckten Fußes weg. Die Öffnung des Kimonos von der Vorderfront bis zum Boden sollte nicht durch den Gang beeinträchtigt werden. Hohe Perücken zwingen den Kopf zu einer nur sanften Bewegung nach den beiden Seiten. Die Ellbogen werden eng an die Hüfte gehalten, die Finger der Hand meist eng aneinander. Gelegentlich werden vierter und fünfter Finger leicht gebeugt, um eine asymmetrische Kontur zu erzielen, der Daumen wird manchmal einwärts und eng an die Handfläche gebogen. Dem Kabuki entsprechend gehen Männer mit auswärts gedrehten Füßen und machen tendenziell expansive Bewegungen. In starken Rollen (meist im Theater, weniger im Tanz) projizieren sie intensive Spannung durch Schielen, Grimassen und Herausstrecken der Zunge. (Hanna 1983:121)

Frauen sind in den meisten Kulturen marginalisiert, das Andere, das Unsichtbare und das Fremde, gegenüber dem dominanten männlichen Geschlecht. Die Zuschreibungen von natürlichen Eigenschaften zu den Geschlechtern können dabei jedoch stark variieren:

Edith Almhofer (1986:38) weist auf die Funktionalisierung des Frauenbildes in Hinblick auf männliche Bedürfnisse hin. Die Frau erscheint als "Imaginierte, als Verkörperung verloren- gegangener Einheit, eines Naturprinzips". Und weiter:

Ein Teil der feministischen Bewegung rebellierte wie Ruth St. Denis und Isadora Duncan gegen Bräuche und Normen männlicher Domination. Es ist jedoch ein wichtiger Gedankengang Hannas (1983: 33), dass Frauen nicht nur häufig von bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeklammert waren, sondern dass sie dadurch auch nicht von allen seinen Normen so berührt und eingegrenzt wurden. Dies betraf auch die pejorative gesellschaftliche Wertung von öffentlichem Tanz, die auch im Zusammenhang mit der im allgemeinen abgelehnten Zurschaustellung von Emotionalität steht, welche für Frauen in vielen Kulturen weniger verwerflich erschien als für Männer. Bis heute haftet dem männlichen Tänzer im Westen ein Image des Weibischen an, so dass es keineswegs überrascht, unter ihnen in der Regel einen auffallend hohen Anteil an Homosexuellen vorzufinden. In Asien trifft dieses Bild eher nur jene Tänzer, die, entsprechend einiger lokaler Tanz- und Schauspielstile, zur Gänze auf Frauendarstellungen spezialisiert sind. In Kulturen, die Tanz nicht in erster Linie für die Zurschaustellung von Grazie und emotional geladenem Erzählstoff verwenden, sondern zum Beispiel, wie in Sri Lanka, ganz im Gegenteil, geradezu zur Kontrolle und als Therapie von zu stark emotionalisierten Patienten, ist die Situation gänzlich anders. In vielen Kulturen tanzen Männer, ohne deshalb als weibisch angesehen zu werden. In Sri Lanka sind Ritualtänzer traditionell männlichen Geschlechts. Frauen, so sagt man, wären durch ihre periodische rituelle 'Unreinheit', wie sie durch Assistenz bei Geburten oder durch eigene Schwangerschaften, durch ihre rituellen Pflichten bei Todesfällen und vor allem auch durch ihre Menstruationen bedingt erklärt werden, als Ritualspezialistinnen nicht jederzeit verfügbar.

Wie im Kathakali spielen in den Riten Sri Lankas Männer auch Frauenrollen. Insbesondere zum Höhepunkt der Exorzismustänze des Tieflandes, wenn der Ritualtänzer den Dämon vom Patienten weglockt und sich selbst als Opfer anbietet, zieht er Frauenkleider an. In den Initiationsriten der Hochlandtänzer findet man überdies Ähnlichkeiten mit dem Pubertätsritus der Mädchen. Ich habe (Nürnberger 1989) die These ausgeführt, dass diese Bräuche Anklänge an das weltweit verbreitete Thema der Transsexualität von Ritualspezialisten und Ritualspezialistinnen ist. Singhalesische Tänzer gelten deshalb nicht als weibisch. Rituelle Transsexualität ist eine Demonstration dafür, dass der Ritualspezialist während der liminellen Zeit des Rituals über den Geschlechterrollen und damit eben auch über der alltäglichen und weltlichen Wirklichkeit steht. Er demonstriert damit seine Außerordentlichkeit und transformierende Macht. Die rituelle Geschlechtsverwandlung kann an diese Überlegung anschließend somit auch als eine Variante des Schamanentodes interpretiert werden, als ein Zurücklassen des alten, verwundbaren und geschlechtsbeschränkten Ichs.

 

Westliche Performancekünstlerinnen der Sechziger- und Siebzigerjahre machten sich erneut auf die Suche nach einer umfassenderen weiblichen Identität. Unter anderen gehören Pina Bausch, Susanne Linke und Reinhild Hoffmann zu jenen Choreographinnen, die heute als Begründerinnen des deutschen Frauentanztheaters gelten (Zamponi 1986:2). Doch auch männliche Choreographen, wie Bill T. Jones und Arnie Zane mit ihrem Stück "Secret Pastures" (57), bemühen sich, Vorurteile und Stereotypen über Geschlechterrollen zu brechen:

Die Suche nach weiblicher Identität bezog jedoch zwangsläufig auch die Darstellung und Vermittlung der eigenen Sexualität mit ein. Einige Artefakte des weiblichen Alltags boten sich als Requisiten dazu in besonderem Maße an. Der Spiegel, z.B. hat für Frauen eine besondere Rolle. Ständig in der Handtasche mit herumgeschleppt dient er der gesellschaftlich und deshalb höchst männlich verordneten Schönheitskorrektur und wird zum ständigen Symbol von Zweitrangigkeit, Verlust an Selbstwertgefühl, Selbstkontrolle, kurz weiblicher Erfahrungsgestalt (Almhofer 1986: 38, 39, 47). 1970 führt Joan Jonas ihr "Mirror Piece" im New Yorker YMCA auf. Almhofer schreibt darüber:

Auch für Shobana Jeyasingh, die indischer Herkunft ist, wird der Spiegel zu einem wichtigen Element der Darstellung der Frau. Für die Choreographie der Weiblichkeit ergibt sich eine besondere Perspektive aus dem Blickwinkel der Emigration, in der die Frau oft mehrfach marginalisiert erscheint, einmal aufgrund ihres Geschlechts und dann auch wegen ihrer kulturellen Herkunft, schließlich eventuell auch noch aufgrund politischer Verfolgung in ihrem Herkunftsland. Die Choreographin Shobana Jeyasingh beugt sich dieser Perspektive nicht, sie entwirft in ihrer Choreographie von "Making of Maps" ein positives Bild nicht nur spezifisch weiblicher, sondern auch interkultureller und pluralistischer Kulturidentität. Sie wird deshalb im Kapitel über "Multikulturalität und Tanz" gemeinsam mit ihrer Choreographie von "Making of Maps" noch eingehender vorgestellt.

In Bezug auf das Frauenbild transportiert der Bharata Natyam in der Regel ein kulturelles Ideal des verehrenden Verhältnisses einer Frau zu einem Gott oder Helden. Ähnlich wie im klassischen westlichen Ballett erscheint die Frau hier als "scheues Wesen, das immer auf irgend etwas oder irgend jemanden geduldig wartet" (Jeyasingh, Interview, 16.3.1994, London). Dieses Bild enthält auch eine Metapher über religiösen Lebensstil, indem sich ein Mann zu Gott, wie eine Frau zu ihrem Mann (und zu Gott) zu verhalten hat. Demgegenüber sieht Jeyasingh die indische Frau in der englischen Emigration als gerades Gegenteil dieses Bildes, als starke und selbständige Person, die auf niemanden warten braucht. Sie ist aber deshalb nicht ad hoc weniger religiös. Polaritäten wie statische Tradition - furchteinflößender Wandel, sakrales Leben - postindustriell säkulares Leben, traditioneller Osten - vom Wandel besessener Westen, verstellen hier nach Jeyasinghs Sichtweise nur den Blick auf Realität und (Jeyasingh 1997: 31) widerspiegeln die Haltung des Westens als 'den ewigen Anthropologen', der durch seine Kategorisierung die Kolonisation der Welt fortführt. Um diese Widersprüche aufzulösen, zeigt Jeyasingh Aspekte eines 'normaleren' Bildes der Frau in ihrer gegenwärtigen Lebensweise durch eine Tanzkunst, die dennoch in ihren konstitutiven Teilen aus Elementen des Bharata Natyam besteht und auch spirituelle Anklänge hat.

Pushkala Gopal und Unnikrishnan sind ein in London ansässiges Tänzerpaar, das mit Elementen aus dem Bharata Natyam und der Kathakali-Tradition arbeitet. Sie haben für ihre Interpretation der Mahabharata an der sie 1994, als ich sie besuchen konnten, gerade arbeiteten, ebenfalls eine weibliche Perspektive gewählt. Sie lassen Draupadi diese Geschichte eines Krieges, eines sogenannten 'gerechten' Krieges, erzählen und weichen so von der zweitausend Jahre alten Vorlage der Mahabharata ab. Ihr modernes Stück beinhaltet aber auch viele andere gesellschaftskritische, psychologische und philosophische Perspektiven, weshalb es erst im Kapitel "Von der Bühnenkunst zum Ritual", im Abschnitt "Tanz als Kulturkritik und Kulturtherapie" etwas eingehender inhaltlich erörtert wird.

Malllika Sarabhai lehrt und arbeitet an der Darpana Academy of Performing Arts in Ahmedabad. Mallika Sarabhai, die die Rolle der Draupadi in Peter Brooks "Mahabharata" spielte, beschäftigte sich mit der gesellschaftlichen Funktion der 'Vergöttlichung' und der Verehrung einzelner Frauen als Heldinnen. Sie entstammt selbst einer indischen Sippe, die voller Legenden über Heldinnen aus dieser Familie ist. Eine ihrer Tanten soll ein Regiment gegen die Briten geführt haben, eine andere verkleidete sich als Grenzsoldat und half 1947 Frauen und Kindern über die gefährliche Grenze zwischen Indien und Pakistan, und eine Großtante von ihr leitete Tausende von Mühlenarbeitern in einer ersten erfolgreichen gewaltlosen Protestaktion für Gehaltserhöhungen. Sarabhai nahm im Prozess ihres Erwachsenwerdens wahr, dass die Verherrlichung solcher und anderer Heldinnen dazu dient, die Frauen als Gesamtgruppe 'aus dem Rennen herauszuhalten' und 'sie so zu verherrlichen, wie Männer sie gerne sehen wollen'. Auch Frauen, so meint sie, fallen auf diese Sichtweise herein und eifern diesen 'Göttinnen' im Sinne einer männlichen Vorstellungswelt nach. Für sie bedeutete deshalb die Arbeit an der Rolle der Draupadi für Peter Brook, dass sie diese Figur, wie sie sagt, "mit westlichen Augen zu sehen" versuchte - und das heißt für sie: als neues weibliches Rollenmodell, das möglichst frei sein soll von männlichen Sichtweisen. Diesen Ansatz entwickelte sie 1990 gemeinsam mit anderen Künstlern zu der feministischen Produktion "Shakti" am Londoner Goldsmiths' College unter der Direktion von John Martin weiter, die im Abschnitt "Tanz als Kulturkritik und Kulturtherapie" näher behandelt wird.

Obwohl in den beiden letztgenannten Projekten wieder Männer die Leitung hatten, können alle der genannten Arbeiten als Beispiele für Schritte in Richtung einer soziokulturellen Aufarbeitung und Korrektur von weiblichem Rollenverhalten gewertet werden.

Die gegenseitige Abhängigkeit von Frauen- und Männerrollen kommt insbesondere in den Verhaltensmustern in Paarbeziehungen zum Ausdruck. Toshiko Takeuchi ist eine moderne japanische Choreographin, die sich nahezu ausschließlich mit Beziehungsproblematiken zwischen Männern und Frauen beschäftigt. Für ihr Stück "Fuyu no owari no tango" ("Ein Tango am Ende des Winters") erhielt sie 1990 den ersten Preis des japanischen Tanzwettbewerbs in Tokyo. 1991 entwickelte sie ein Tanzstück mit dem Titel "Four for Tango". Bei der Titelauswahl wurde sie durch das Musikstück "Four for Tango" des Kronos Quartetts, einer bekannten Jazzformation, inspiriert. "Tango IV + I", das vom 22. bis 24.9.1994 im Wiener Theater des Augenblicks aufgeführt wurde, ist die Neuinszenierung und Weiterentwicklung dieses Tanzstücks. Die Bewegungen sind in diesem Stück weniger Balletterzählung als Verkörperungen der von den Tänzern ausgehenden Kräfte. Die Musik, für welche das Bandeon - eine Art Ziehharmonika - eingesetzt wird, "ist nicht allein Begleitmusik, sondern unterstreicht vielmehr die Dynamik des Körpers und die Materialität des Raumes" (Programmheft). Yuko Kimbara, der seit fünf Jahren Mitglied des Ensembles sagt über ihre Arbeit:

Toshiko Takeuchi wurde 1951 in Tokyo geboren und studierte modernen Tanz und Ballett. Zu "Tango IV + I" fertigte ich während des Besuchs der Vorstellung im Theater des Augenblicks am 24. 9.1994 folgendes Protokoll an:

Noch erscheint Beziehung als ein Spiel, doch spätestens im Ende kündigt sich prekäre Nähe von Leidenschaft und Gefährdung an.

Die Frau wird hier als Opfer männlicher Projektionen dargestellt. Sie wird jedoch durch Akzeptanz der ihr zugewiesenen Rollen zur Mittäterin. Die sich in einer Beziehung entwickelnden Rollenerwartungen verselbständigen sich und gefährden die Frau:

..., aber auch der Mann kann sich dem unseligen Einfluss von missglückten Erwartungen und Projektionen nicht entziehen:

Es folgt nun ein Versuch zu neuen Beziehungsinhalten zu finden. In "Tango IV + I" geht der erste Versuch von der Frau aus:

Die Geschlechterrollen erscheinen nicht mehr so rigid. Besteht jetzt vielleicht eine erlösende Möglichkeit in einem Austausch der Rollen? Eine Denkpause scheint am Ende notwendig:

Der Bewegungsstil ist fast euroamerikanisch, enthält jedoch insbesondere in der Schlussidee und in einigen der langsamen Sequenzen starke Anleihen aus dem spirituellen und meditativen fernöstlichen Erbe. Ich notierte:

Insgesamt enthält dieses Stück gelungene Charakterisierungen von verschiedenen typischen Problemen zwischengeschlechtlicher Beziehungen in ihrer Prägung durch die Rollenklischees der Moderne, wie sie sowohl im modernen Japan als auch in unseren Breitengraden anzutreffen sind.

 

 

Nationale Charakterisierung

 

In einer Gegenüberstellung des Eigenen und des Fremden wird in der Regel das Eigene als glanzvoller und kultivierter gegenüber dem unzivilisierten und barbarischen Fremden dargestellt. Auf diese Weise lässt sich die eigene Geschichte mythologisch begründen. Gleichzeitig wird es auch möglich, anderen Völkern Geschichte abzusprechen (Wolf 1991, Vester 1996:12).

Nach Clifford Geertz' (1991) Konzept der 'dichten Beschreibung' ist den Selbstinterpretationen und -darstellungen der Fremden größte Aufmerksamkeit zu zollen. Diese zeigen sich auch symbolisch "auf einer intersubjektiv vermittelten und öffentlich zugänglichen Ebene kultureller Darstellung". Die Selbstinterpretationen der Fremden, ihre "Vorstellungen, Codes, Stereotype, Leitbilder", kommen z.B. in "Ritualen, Gesten, Bildern, Theater, Festen oder auch literarischen Texten" zum Ausdruck (Bachmann-Medick 1992:5). Die moderne Tanz- und Theateranthropologie (V.Turner, Royce, Hanna u.v.a.) betont die Bedeutung der performativen Künste als symbolträchtige und bedeutungsproduzierende Aktionssphäre der Kulturen.

Insofern enthält die darstellerische Charakterisierung des Anderen Informationen über das Eigene. Sie klärt auf über Ideale, Klischeebilder, Sehnsüchte und Ängste der Darsteller. So wird z.B. der Orient als 'Morgenland' im Westen oft mit Sinnenfreuden assoziiert, die 'alten Griechen' stehen für Intellektualität (Schöning-Kalender 1978: 123f), umgekehrt werden Amerikaner und Europäer von Asiaten oder Afrikanern oft als 'schmutzig' empfunden, ihre Frauen als 'sexuell ausschweifend' abgewertet, etc. Was auch immer der 'Bauchtanz' in seinen Herkunftsländern gewesen sein mag, bei uns im Westen hat er den Nimbus der 'Natürlichkeit, Sinnlichkeit, Weiblichkeit' schon wegen seiner Assoziation mit dem Orient - obwohl ein guter Teil seiner erotischen Ausstrahlung durch die Art der Kostümierung - nabelfrei, gepolsterter Büstenhalter, Fransen und Glimmer - entsteht, und diese ist westlichen, vor allem amerikanischen und französischen Ursprungs, wobei auch indische Vorlagen eingearbeitet wurden!

Ein wesentlich neuer Versuch nationalen Charakter im Tanz zu thematisieren stellen moderne Bühnenexperimente dar, in denen Vertreter von Tanztraditionen unterschiedlicher geographischer Herkunft miteinander arbeiten. Ein Beispiel ist die Koproduktion "Une journée blanche", in der die japanische Butoh-Tänzerin Carlotta Ikeda und der französische Tänzer Hervé Diasnas 1990/91 aufeinander trafen (Leeker 1991:5-7). Fremde Tanz- und Theaterformen sind in erster Linie praktisch dafür herangezogen worden, sie den eigenen kulturellen Traditionen gemäß zu adaptieren. Leeker sieht hierin einen Widerspruch zu einem dialoghaften, kommunikativen Anspruch, der nur durch wirklich gemeinschaftliche Arbeiten der genannten Art direkt und vollständig erfüllbar scheint. Diasnas beschreibt sein Experiment selbst in Metaphern der Leere:

Durch diese Art des Herangehens wird die Ethnizität der Tänzer zum Thema und zum Regulator des Stückes, dessen Ästhetik sich aus dem Prozess heraus neu gebiert. Aus der Prozesshaftigkeit des Bühnengeschehens heraus haben hier auch die Zuschauer direkteren Anteil am Schaustück. Sie können sich nicht damit begnügen einen konventionellen Theater-Code zu dechiffrieren, sondern sie werden den "Verunsicherungen durch die eigene Vorstellungskraft ausgesetzt. Auch er wird dem Prozess einer Annäherung unterworfen" (Leeker 1991: 6f):

Kunst erscheint hier als Mittel zur Wahrnehmungserweiterung. Der interkulturelle Austausch wird zu einer 'Metapher für die Art des Wahrnehmens und Denkens, eine Haltung des Individuums zur Welt". Anstelle von Ästhetik, tritt die "Suche nach Strategien zur Weltaneignung" in den Vordergrund (Leeker 1991:7). Diasnas betrachtet seine Arbeit als eine Art Zeugnis des Verbindenden zwischen den Menschen:

Hier begegnen wir - obwohl als solches von Leeker nicht behandelt - wieder der Rückbindung des Fremden an das Eigene, indem das Fremde als Ausgangspunkt für die Erneuerung des Eigenen herangezogen wird. So wird auch die Repräsentation des eigenen Nationalcharakters wird von Vorstellungen anderer Völker geprägt. Für Inder und Srilankaner wurde 'Oriental Dance', ursprünglich eine pejorative Bezeichnung der Kolonisatoren für ihre Tänze, die von den Fremden als lasziv, voller abergläubischer Inhalte und unkultiviert empfunden wurden, zu einer selbstbewussten Bezeichnung ihrer vielfältigen Tanzkultur, die sie aber jahrzehntelang um so eifriger von der Konnotation des Erotischen und auch des Rituellen zu 'reinigen' bestrebt waren (z.B. Bharucha 1995: bes. 39-46, Gaston 1996, Nürnberger 1994: bes. 27-59, 193-227).

Die Expansion des Tourismus in nichtwestliche Länder hat viele Menschen mit deren Tanzkulturen in Berührung gebracht. Angebot und Nachfrage an außereuropäischen Tanz- formen werden in Europa durch den Ferntourismus mitgeprägt. Annette von Wangenheim (1989: 60-63) verlangt deshalb anläßlich der Jahrestagung 'Arbeitskreis Kultur und Entwicklung' in Stuttgart 1989, dass oberflächliche Eindrücke außereuropäischer Tanzformen durch entsprechende Angebote im Heimatland der Touristen differenziert und vertieft werden, um Missverständnisse zu korrigieren. Dadurch könnten spezielle Tanzvorstellungen für Touristen im Ausland ihre Exotik verlieren und der Tanz wieder an jenen kulturellen und gesellschaftlichen Platz gerückt werden, den er in seinem jeweiligen Heimatland einnimmt. Dies gelte als kulturelle Aufgabe insbesondere für internationale Tanzfestspiele und Workshops. Dabei soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Tanz im Leben außereuropäischer Kulturen einen primären Platz als die ganzheitlichste und unmittelbarste aller Künste einnimmt. Es biete sich deshalb durch Tanz eine vorzügliche Gelegenheit fremde Denk- und Verhaltensformen am eigenen Leib zu erfahren. Wangenheim unterstreicht dabei ausdrücklich die Notwendigkeit des Dialogs zwischen fremden und einheimischen Künstlern, der eine tiefergehende Auseinandersetzung erst ermöglichen würde. Als Wege dazu wären für sie z.B. Diskussionen zwischen einheimischen Künstlern und Gastkünstlern, Workshop-Programme für Gäste über hiesige Tanzstile und offene Proben denkbar. Einen solchen Dialog sieht sie nicht in allen internationalen Festivals Deutschlands gewährleistet. Sie relativiert deshalb auch in einer ähnlichen Weise, wie dies in den einleitenden Kapiteln dieser Arbeit getan wurde, das Schlagwort von der 'Weltsprache Tanz'. Sie schreibt z.B. über das Nordrhein-Westfälische Tanzfestival 1986, dessen Motto 'Shiva und Terpsichore' lautete und das asiatische Tanzformen aus Indien, Indonesien und Bali zugleich mit modernem und neoklassischem westlichen Ballett anbot:

 

Die Bewohner von fremden Ländern oder bestimmte ethnische Gruppierungen im eigenen Land können über charakteristische, überzeichnete oder sogar fiktive Bewegungsstereotypen tänzerisch dargestellt und interpretiert werden. Dabei wird von einer mehr oder weniger fiktiven Einheitlichkeit der Kultur der Anderen ausgegangen, aus der sich die Darstellbarkeit erst ergibt. Schneider-Wohlfahrt et al. (1990: 27), die sich mit interkulturellem Lernen auseinandersetzen, machen darauf aufmerksam, dass Kulturen nie einheitlich oder gar national einheitlich sind. Es sei ethnozentristisch über die Konstruktion einer 'kulturellen' oder 'ethnischen Identität' zu einer ideologischen Abgrenzung von anderen Kulturen zu gelangen. Die Autoren lehnen aber auch eine 'kulturrelativistische' Sichtweise ab, die "die existierenden Kulturen gleichberechtigt nebeneinander reiht, ohne über ein Bewertungskriterium zu verfügen" (ibid.: 23). Zum interkulturellen Lernen müsse man sich einem "ständigen Balanceakt" aussetzen, "bei dem sowohl Akzeptanz als auch Distanz (zum Fremden) verlangt werden" (ibid.). Die 'kulturanthropologische' Vorstellung von einer sogenannten 'Basispersönlichkeit', die allen Mitgliedern einer Kultur zu eigen ist, wird von ihnen ebenfalls explizit abgelehnt (ibid.: 29). In der heutigen Persönlichkeitspsychologie gehe man davon aus, dass das Subjekt neben der 'kulturellen' auch eine 'persönliche Identität' als Selbstkonzept in Abgrenzung zu anderen Mitgliedern der eigenen Kultur herausbildet (Haubl et al.: 205ff). Persönliche und kulturelle Identität ergeben zusammen die integrierende Ich-Identität. Das Individuum hat nach Haubl (et al.) "die Fähigkeit zur Probe-Identifikation" mit Personen, Gruppen oder ideellen Gebilden (ibid.: 180). Die Autoren sprechen auch von einer 'Identitätsbalance' beim Individuum (58) (zit. nach Maschke 1996:17f.).

Diese Überlegungen gelten natürlich in besonderem Maß in Bezug auf die kulturelle Identität der Bewohner der großen Weltmetropolen, wie zum Beispiel New York. Die Kompanie Garth Fagan Dance zeigte in Rahmen des Wiener internationalen Tanzfestivals Tanz'92 Fagans Stück "Griot New York". Garth Fagan gründete seine Gruppe Garth Fagan Dance 1971 in New York mit Tänzern, die zum Großteil von ihm selbst ausgebildet wurden. Die Truppe zählt zu den führenden Kompanien in den USA. In Westafrika versteht man unter 'Griot' einen Erzähler, der die mündlich überlieferte Geschichte seines Volkes durch Lieder, Tänze und Gedichte vermittelt. In Fagans "Griot New York" wird dieses Geschichtenerzählen wie unter dem Zeitraffer beschleunigt. Die schnellen Übergänge von einem Jahrhundert ins nächste, von einer Region zur anderen, der schnelle Wechsel der Kulturen, der Dynamik und Struktur spiegeln 75 Minuten lang die Geschichte und Vielfalt von New York City wieder. Fagan will dabei die Sonnen- und Schattenseiten der Geschichte einer pulsierenden Stadt des zwanzigsten Jahrhunderts aus einer multiformen Perspektive darstellen, die nicht nur den Gesichtspunkt seiner eigenen, der schwarzen Rasse spiegelt, sondern eine ethnische Vielfalt von Sichtweisen. Seine Choreographie zeigt folgerichtig eine Verquickung von klassischem Tanz, Modern Dance und afro-karibischen Stilen und besteht aus vier lose miteinander verbundenen Teilen. Diese zeigen die ethnische Vielfalt New Yorks, seine Vergangenheit und Gegenwart, die dunklen Seiten der Stadt und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wobei sich in dieser Sequenz die klassisch europäische Bewegung mit der traditionellen afrikanischen vereint. Dabei bleibt die Choreographie Fagans frei von wörtlich übernommenen ethnischen Begriffsinhalten und frei von folkloristischen Elementen (Kneiss 1992:4). "Griot New York" ist kein erzählender Tanz, sondern eine Serie von poetischen Bildern und hat seinen Ursprung in einem impressionistischen Gedicht von Fagan, das in gemeinsamer Arbeit mit den Tänzern des Ensembles, dem Musiker Wynton Marsalis und dem Objektkünstler Martin Puryear künstlerische Verwirklichung fand (Vaugham 1992: 7-10).

 

 

Exotismus und andere Verzerrungen und Missverständnisse
 

Die Begegnung mit dem Fremden misslingt auch in der Tanzkunst oft zu einer bloßen Begegnung mit hausgemachten Vorurteilen und Erwartungen. Der exotistische Charakter von Tanzproduktionen blieb selbst dann oft noch bestehen, wenn direkter Augenschein die Quelle der Inspiration war, aber nur zu pseudo-orientalischem Glamour verwendet wurde, während der Inhalt den einschlägigen abwertenden Urteilen über das Fremde Vorschub leistete. Nasseem Khan (Academy 1983:6) weist darauf hin, wie die frühen britischen Eindrücke von Indien durch die Begegnung mit den höheren Schichten der Rajas gefärbt waren. Das daraus abgeleitete exotistische Image indischer Kultur malte Bilder von unvorstellbarem Reichtum in Verbindung mit Banketten voller Überfluss, Tigerjagden und unmoralischen Tänzen. Der herausragendste und erfolgreichste Exporteur pseudo-orientalischen Tanzes waren zweifellos die Ballets Russes, eine legendäre Kompanie, die ihr Publikum durch ihre Visionen von verbotenen Harems und betörender weiblicher Versuchung umgarnte. Zu ihrem Repertoire gehörten Ballette wie "Sheherezade", "Kleopatra" und die "Polovetzer Tänze" aus "Prinz Igor". Eines der raffiniertesten dieser 'östlichen' Ballette war "Thamar", die Geschichte einer wunderschönen Königin, die ihre Liebhaber ermordete. Laurel Victoria Gray (1981) kommt in ihrer Untersuchung von "Thamar" zu dem Schluß, dass diese Produktion Diaghilews in exemplarischer Weise Einsichten in siebzig Jahre der Geschichte des Russischen Orientalismus gewährt. Das Gedicht Mikhail Lermontows, auf das das Libretto basiert, geht auf eine historische Gestalt zurück, die Königin Tamara von Georgien, welche im 12. Jh. regierte. Lermontows um 1841 entstandenes Gedicht verfälscht die Geschichte in einer für den russischen Exotismus typischen Art:

Die russische Literatur des frühen 19. Jh. reflektierte den europäischen Orientalismus als eine Hauptströmung der Dichtkunst dieser Periode. Die Romantik brachte exotische Szenerien in Mode, so dass 'der Osten' zu einer beliebten Themenwahl für viele Schreiber, Künstler und Musiker wurde. Das expansionistische Russland fand seinen 'Osten' im eigenen geographischen Hinterhof, in Zentralasien und im Kaukasus. Die Musik zu "Thamar" war von Mily Balakirew komponiert, der mit der Musik des Kaukasus vertraut war. Auch der Choreograph des Balletts, Mikhail Fokine, benutzte viele authentische Bewegungselemente in dem Ballett. Er hatte ebenso wie Lermontow und Balakirew den Kaukasus selbst besucht und kannte einige regionale Tänze. Der georgische Tanz bot einen farbigen Fundus an komplexer Fußarbeit, stolzer Haltung und akrobatischen Sprüngen und Drehungen. Fokine bezog auch eine traditionelle Dolchwurf-Sequenz in das Stück mit ein (ibid.). Doch all diese authentischen Elemente dienten letztlich nur als anziehende Verpackung für einen transportierten Inhalt, der in seinen wesentlichen Elementen dem obigen Zitat entspricht: Da war einmal die geheimnisvolle Erotik des Ostens, die einerseits laszive Primitivität bedeutete, andererseits die lockende Gefahr der Verführung thematisiert. Einmal mehr erscheint die Fremde in Gestalt des lockenden Weibes, das letztlich Vergewaltigung verdient. Fokines Choreographie beinhaltete zur Illustration dieses Inhalts eine Sequenz, in der die Königin, Tamara, ihren Gast während eines Tanzes leidenschaftlich küsst und umarmt - eine dramatische Abwendung von der georgischen Tanztradition, die abgesehen von seltenen Ausnahmen keine Berührung zwischen den Tanzpartnern gestattet. Öffentliches Zeigen von Zuneigung wird wie in vielen asiatischen Kulturen abgelehnt und ein Kuss in der Öffentlichkeit galt in der Realität Georgiens als undenkbar. Zweitens wurde der Osten als grausam, blutrünstig und voller Täuschungen dargestellt. Das Ballet Russe zeigte, wie Tamara ihren Gast nach seiner Verführung erdolchte, worauf sich eine Falltür im Boden öffnete, durch die das Opfer entschwand. Die Stereotypen über 'den Osten', das Geheimnisvolle, Gewalt, Verführung und Luxus, der in der Ausstattung von Bakst meisterlich fasziniert, werden alle nacheinander strapaziert. Trotzdem Gray in ihrem Artikel über "Thamar" die exotistischen Verfälschungen solcher Stücke anprangert, macht sie doch auch auf die enorme kulturelle Bedeutung von Diaghilews Balletten aufmerksam:

Die starke öffentliche Reaktion auf diese Ballette entsprach einerseits ihrer Innovationskraft andererseits der hohen künstlerischen Qualität ihrer Produktionen. Irgendwie, wenn vielleicht auch nur mittelbar, wurde hier doch auch - zumindest in einigen Aspekten - östlicher Kultur als solcher Anerkennung gezollt. Es gibt jedenfalls härtere Beispiele von Missgunst und Missverständnis fremden Kulturen gegenüber durch europäische Tänzer und Choreographen. Es mag angesichts der enormen Bedeutung Labans für die Theorie und Praxis des multikul-turellen Tanzes überraschen, dass solche Vorurteile selten so klar dokumentiert sind, wie in Labans Autobiographie "Ein Leben für den Tanz", indem er unter anderem seine emotionale Begegnung mit den Tänzen fremder Völker beschreibt.

Als Rudolf von Laban im multikulturellen Amerika, "in einem Land, das alle Rassen an Bord hat" "vergleichende Tanzstudien" (1989:145) betrieb, fand er dort in den "Indios" "kleinwüchsige Mischlinge von Japanern und Indianern" vor und glaubte in ihnen "eine dienende Rasse, deren Unterordnung naturgegeben" (60) sei, erkennen zu können. An anderer Stelle (ibid.: 164) spricht Laban in unverkennbar faschistischer Projektion von einem "allgemeinen Rassenhass" und "Angst vor der Herrenrasse", der die "Farbigen" in Amerika zu Angriffen treibt. An solchen Beispielen tritt sein eigener Rassismus, der zweifellos im faschistischen Deutschland und Österreich entstand und gefördert wurde, klar zu Tage.

Laban versucht seine Eindrücke über die Tänze der fremden Völker in Amerika, die ihn uneingestandenermaßen überfordern, nach verschiedenen 'Graden der Wildheit' zu ordnen:

Scheinbar gelang es ihm nicht, einer ekstatischen schamanistischen Séance bei Indianern beizuwohnen. Selbst wenn ihm dies gelungen wäre, hätte er das Geschehen zweifellos nicht als das erkannt, was es war, nämlich eine durch mühsame Schulung kontrollierbar gewordene und sozial, psychologisch und therapeutisch genutzte Form der Bewusstseinsveränderung eines Ritualspezialisten.

"Dem Schwarzen fehlt jede symbolische Form" schreibt Laban auf derselben Buchseite weiter und wischt mit dieser kurzen Phrase einer der am höchsten stilisierten und auch technisch virtuosest entwickelten Tanzkulturen der Welt (61) von seinem Tisch, denn er vermag die Symbolik und Metaphorik des afrikanischen Tanzes nicht zu erkennen. Er sieht nur ihm unverständliche und ungewohnte Bewegungen. Gerade die hohe Entwicklung der Symbolik des afrikanischen Tanzes, etwa des Tanzes der Vodoo-Riten, versperrt dem Unein- geweihten ihr Verständnis. Die offensichtliche Entlehnung von Elementen afrikanischer Tanzkultur in den populären Tänzen der Weißen passt nicht in sein Weltbild und er dreht sie sich deshalb so zurecht (ibid.: 168):

Denn:

nur um ein paar Seiten weiter doch zuzugeben:

Und:

Wobei er ja auch nicht viel vom amerikanischen Modern Dance hielt:

Den Asiaten sprach Laban hingegen bereitwillig einen hohen Grad der Stilisierung zu (ibid.162). Er hatte in Amerika Gelegenheit chinesische Darbietungen zu sehen. Er erkennt in ihnen historische Themen und die Entwicklung einer tänzerischen Bewegungssprache, deren hohe schauspielerische Virtuosität er bewundert. "Interessant wäre es, Grammatik und Syntax der asiatischen Bewegungssprache zu ergründen" schreibt er und vergleicht die Körperhaltungen mit der Bedeutung von Runen (ibid.: 62), ganz im Geiste der Zeit, denn Runen übten ja auf die Faschisten eine besondere Faszination aus.

Insgesamt findet man bei ihm eine Akzeptanz der zivilisatorischen Werte verschiedener untergegangener alter Kulturen, der Azteken, der Griechen, der Ägypter (ibid.: 108, 151, 160f.), gefolgt auch von jener der Indianer und Asiaten, von denen die Nationalsozialisten überzeugt waren, dass sie "der Herrenrasse näher stehen", bei gleichzeitiger extremer Verachtung der afrikanischen Kulturen und von sogenannten Mischrassen. All dies scheint durchaus Allgemeingut und nicht auf Nationalsozialisten beschränkt gewesen zu sein, symptomatisch für das ideelle Klima zu Beginn des Ausdruckstanzes und des Modern Dance im allgemeinen, Ansichten, die Laban zum Beispiel mit Isadora Duncan teilte, wie dies an anderer Stelle Erwähnung findet. Die Amerikaner haben sich dabei früher von ihrer Ignoranz gegenüber afrikanischer Kunst gelöst als der deutschsprachige Raum, der diesen Kulturen länger verständnislos gegenüber stand. So wichtig Laban für viele multikulturelle Entwicklungen des zeitgenössischen Tanzes war, so wenig kann er heute noch als ein Lehrer über Wert oder Unwert außereuropäischer Tänze gelten. Fortschrittlichkeit und Rückschrittlichkeit können in der Kunst jedenfalls oft nahe beieinander stehen.

Verschiedene Tanzethnologinnen wie Keali'inohomoku (1970) und Drid Williams (1977) haben wiederholt den impliziten Rassismus und Ethnozentrismus in vielen historischen und Tanzstudien angegriffen, in denen Tanz mehr oder weniger explizit als eine Form natürlichen, instinktiven und universellen Verhaltens dargestellt wurde, das sich von seinen Anfängen in 'primitiven Kulturen' bis zum hochstilisierten westlichen Theatertanz entwickelt hätte, wobei letzterer als die am 'weitesten entwickelte' und zivilisierteste Form angesehen wurde. Einige dieser veralteten und irreführenden Studien bauen, wie Youngerman (1974) und Williams (1977) zeigen konnten, auf Curt Sachs "Weltgeschichte des Tanzes" auf, die 1937 in Erstauflage erschien. Sachs argumentierte auf ethologischer Basis. Er beanspruchte, dass Tanz eine ererbte Erfahrung sei, wobei er sich darauf berief, dass auch Tiere rituelle Bewegungsmuster, zum Beispiel in ihrem Paarungsverhalten, zeigen. Auf diese Weise unterstrich er den Gedanken der Natürlichkeit und Instinktivität von Tanzverhalten. Sachs' Auffassungen waren dort Erbe der Kulturkreislehre des deutschsprachigen Raums, wo er davon ausging, dass geographisch isolierte Kulturen in einem urtümlichen Zustand der Primitivität verharren müssen, der sie zu einem Abbild tatsächlicher 'Urkulturen' werden lässt. Unter anderem impliziert eine derartige Sichtweise, dass Kulturen mit einfachen Formen der Subsistenzwirtschaft als relativ unterschiedslose Gesamterscheinung betrachtet werden, ihre Vielfalt, kulturelle Komplexität und ihre individuellen historischen Entwicklungen negiert werden. Impliziert wird weiters, dass die Tänze dieser Kulturen Ausdruck ihrer postulierten gesamtkulturellen Primitivität sind, dass sie die Anfänge des Tanzes repräsentieren und natürlich auch dem westlichen Tanz kulturell unterlegen sind (Thomas 1995: 169 f). Diese Sichtweisen sind zwar im Rahmen der Tanzforschung heute widerlegt und ihre Fußangeln werden in der zeitgenössischen Tanzethnologie sorgfältiger vermieden, im Bereich des zeitgenössischen Bühnentanzes machen sich künstlerische Zitate über 'primitiven' (62) Tanz mit Anspielungen auf den einen oder anderen ethnischen Tanzstil aber nach wie vor breit.

Dass Exotismus und Ethnozentrismus innerhalb der Ethnologie und auch innerhalb der zeitgenössischen sogenannten Theateranthropologie bis heute noch keineswegs gänzlich ausgemerzt sind, wird an geeigneten Stellen im vorliegenden Band immer wieder Gegenstand der Kritik sein. Auch Zarilli, der ausdrücklich vor der Gefahr der Deformation fremder Kulturen durch eine Sprache der dominanten Kulturen im generellen Diskurs über Interkulturalismus warnt (Zarilli 1995a: 74f.), setzt seine Interessen und deren Begrenzung zuweilen unbewusst gegen die faktische Realität jener Rituale, denen die von ihm untersuchten performativen Techniken entstammen: Tanz gehört für Zarilli zu jenen expressiven Formen, in denen das 'Worüber' weniger wichtig ist als die 'Zurschaustellung' (display). Insofern glaubt er, Tanz generell mit westlicher Pantomime oder Oper vergleichen zu können (Zarilli 1995a:25). Fast nur in diesem Rahmen untersuchen Zarilli und seine Mitautoren, vielleicht mit Ausnahme von Foleys (1995) Exkurs über balinesische Verkörperung, Elemente, wie Intentionalität, Bewusstheit und Symbolhaftigkeit. Ich habe in dem Kapitel über "rituelle Wirkkraft" angedeutet, wie wenig dieser Bereich aus emischer Sicht von dem 'Worüber' performativer Riten, von ihren therapeutischen und spirituellen Zielen getrennt werden können und wie sehr eine solche einseitige Sicht auf die bloß performativen Seite von rituellem Tanz eine irreführende Entkontextualisierung bedeutet.

Ein interessanter Kritiker der transkulturellen Performance-Forschung und -Praxis sowie des westlichen transkulturellen, sogenannten 'heiligen Theaters' stammt aus Indien. Rustom Bharucha verweist auf die kommerziellen und imperialistische Vereinnahmung östlicher performativer und konzentrativer Techniken durch den Westen. Ähnlich, wie jene Tanzanthropologen, die er als seine Kontrahenten begreift, ist auch er Autor, Dramaturg und Regisseur. Bharuchas allgemeinere Kritik in Bezug auf Intrakulturalität, Globalisierung und hegemonialer Vereinnahmung haben bereits in der Einleitung Erwähnung gefunden. Er (1993) stellt einige der Annahmen in Frage, die den theatralischen Visionen einiger der bekanntesten Theaterpraktiker und Theoretiker des Zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich Artaud, Grotowski und Brook, zugrunde liegen. Er behauptet, dass östliches Theater einerseits maßlos mythisiert, andererseits von westlichen Regisseuren und Kritikern in sinnent- stellender Weise aus dem kulturellen Zusammenhang gerissen wurde. Er möchte die Praxis des sogenannten interkulturellen Theaters durch eine des 'intrakulturellen' Theaters abgelöst sehen, eines Theaters, dass auf die Besonderheiten der multiplen kulturellen und politischen Kontexte Rücksicht nimmt. Die Arbeiten von Artaud, Grotowski und Brook kritisiert er als 'Zusammenstöße' von Kulturen, als 'Unfälle', die nur Missverständnisse produziert haben. Peter Brook etwa habe indisches Kulturgut in seiner "Mahabharata" essentiell verfälscht (ibid.: 68-87). Er hätte den wichtigsten Text Indiens aus seinem kulturellen Kontext gerissen (ibid.: 68). Das Fehlen geeigneter Erklärungen zur indischen Philosophie und Lebensweise, zu Hinduismus und Kastengesellschaft provoziere Missverständnisse über die indische Kultur im allgemeinen und über die Bedeutung der Mahabharata im besonderen (ibid.: 71). Selbst wenn man Auslassungen dieser Art als dichterische Freiheit einer Textinterpretation über- gehen möchte: warum setzte Brook für seine "Mahabharata" eine internationale Theatergruppe ein, wenn nicht einmal die einzige Inderin des Ensembles sich darin - und wenn auch nur für kurze Zeit - in ihrem eigenen performativen Medium, dem indischen Tanz, ausdrücken durfte (ibid.: 80)?

Aus seinen Anliegen und aus den Resultaten ist ableitbar, dass Peter Brook mit seinem Stück "Mahabharata" in erster Linie ein Stück und ein Mythos für Europäer schaffte. Und auch Barba und Grotowski arbeiten zuallererst im Sinne der Bedürfnisse ihres euro- amerikanischen Publikums, ihrer Tanz- und Theaterschüler. Dies ist essentiell für die Einordnung der Bedeutung von solchen Arbeiten, deren universalistischer Anspruch natürlich jeweils im einzelnen kritisch zu hinterfragen bleibt. Wenn Brook von 'dem Universalen' spricht, dass er hinter der indischen Mahabharata sichtbar machen will, muss man begreifen, dass er das meint, was von westlichem Interesse daran ist, was westlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten entspricht.

Bharucha sieht kaum Erfolge in Richtung kreativer, gleichrangiger Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Kulturen. Er wirft den im Westen bekanntesten Vertretern des Interkulturalismus im Theater und in der Theaterwissenschaft vor, die indische Kultur zu einer Ware zu reduzieren (ibid.: 7). Schon Artaud habe asiatische Kultur missdeutet und für seine eigenen Anliegen missbraucht (ibid.: 15ff). Grotowski stehe der indischen Ästhetik, trotz der Aneignung einiger technischer Aspekte, nach eigenen Aussagen mit völligem Nichtbegreifen gegenüber (ibid: 25). Und Schechner wolle das Andere gar nicht verstehen, sondern begnüge sich mit der Projektion seines Egos auf das Fremde (ibid.: 28). Obwohl diese Ansichten eine als in vielerlei Hinsicht zu einseitige Kritik erscheinen, schaffen sie dennoch Stoff zum Nachdenken über die Notwendigkeit präziserer Argumentationen im Rahmen der sogenannten Theateranthropologie und einer verbesserten Transparenz bezüglich der wahren Anliegen im Rahmen des interkulturellen Theaters.

Doch immerhin haben die Arbeiten der von Bharucha kritisierten Autoren und Regisseure auf ihr Publikum und ihre Leser oft genug als befruchtende Anregung gewirkt, sich mit östlichen Tanz- und Theaterformen vertiefter zu beschäftigen. Was die Einschätzung weiter kompliziert ist die Tatsache, dass auch die performativen Künstler Indiens ständig mit westlichen Materialien in respektloser und experimenteller Weise umgehen, wie dies Bharucha auch ohne weiteres zugibt und bisweilen selbst praktiziert. Das ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit, sich in der Bewertung kultureller Prozesse der Einhaltung einer essentiell politischen Ethik zu vergewissern, die sich ihrer Geschichtlichkeit bewusst bleibt. Teil dieser Ethik ist die Verpflichtung der transparenten Deklaration kultureller Produkte durch ihre Vermarkter, also zum Beispiel als Adaptionen und Erfindungen für den heimischen Markt und nicht als Präsentation einer anderen Kultur.

 

 

Zusammenfassung - 3

 

Stilisierte Bewegung und Tanz sind integraler Bestandteil der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Fremden, indem sie der Repräsentation eigener Identität dient, soziale Wertungen über das Eigene und das Fremde transportiert, aber auch indem sie einen Aktionsradius des Sozialisationswillens in Bezug auf Intention und Kontext entwerfen. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden enthält Affinitäten und Interdependenzen zu religiösen Praktiken des Inbeziehungtretens mit höheren Mächten und schicksalsbestimmenden Wesenheiten, wie Göttern, Geistern oder Dämonen. Das religiöse Ritual projiziert sozialisierende und kommunikative Bewegungsfolgen und Tänze auf die metakollektive Ebene des Religiösen, um über das Heilige die Sorgen und Nöte der menschlichen Gemeinschaft abzuhandeln. So gibt es keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den körperlichen Riten einer Begrüßung zwischen Menschen und jenen der Anrufung eines heiligen Wesens, sondern nur graduelle, die sich in Dauer, Intensität, Virtuosität der körperlichen Performance und Grad der Theatralität oder Außeralltäglichkeit kundtun. Tanzriten, die der Beilegung von Zwistigkeiten zwischen unterschiedlichen Kulturen dienen sind deshalb nicht grundsätzlich verschieden von Riten, die der Beschwichtigung von Göttern dienen und können - wie dies anhand eines Tanzrituals aus dem singhalesischen Hochland dargestellt wurde - ineinander übergehen. In Zeiten rascher kultureller Veränderungen werden immer wieder neue körperorientierte Riten erfunden, die dem Wandel Rechnung tragen und den Fortbestand kultureller Integrität auch in Zeiten bedrohlicher Einbrüche des Fremden sichern. In der modernen Gesellschaft und im multikulturellen Umfeld übernimmt der Bühnentanz teilweise ritenähnliche Funktionen. Darstellungen des Fremden oder des Anderen erfüllen eine Fülle von Funktionen, unter denen kollektive kognitive Prozesse bis in den modernen Bühnentanz hinein eine hervorragende Rolle spielen. Im Bewusstsein dieses Bedeutungspotentials interkultureller performativer Formen wurde auf die Dringlichkeit der Einhaltung einer kritischen, geschichtsbewussten Ethik und einer Abwendung von Exotismen sowohl im Rahmen der Performancetätigkeiten als auch vor allem im Rahmen von deren wissenschaftlichen Aufarbeitung hingewiesen.

 


Anmerkungen

43 Einige grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Volkstanz, Folklore und Kulturwandel finden sich im Kapitel "Vom Ritual zur Bühnenkunst" im Abschnitt "Soziale Neuorientierungen". blue2_5.gif zur Textstelle

44 Interview am 12.3.1994 in London, schriftliche Werbematerialien ihrer Schule, Zeitungskritik vom 5.2.1988 der Asian Times. blue2_5.gif zur Textstelle

45 Näheres über Vijayambigai Indra Kumars Ausbildung findet sich im Kapitel "Vom Ritual zur Bühnenkunst" im Abschnitt "Wandel in Formen und Inhalten der Tanzlehre". blue2_5.gif zur Textstelle

46 Padam ist die Bezeichnung für einen Tanzteil, der reinen Ausdruckstanz in langsamen Tempo, meist ohne abstrakten Tanz (nrtta) zeigt. blue2_5.gif zur Textstelle

47 Tillana ist die Bezeichnung für einen Tanzteil, der abstrakten Tanz zeigt und die plastische und rhythmische Qualität des Tanzstils betont. Ein graziöser und unbeschwerter Tanz mit sehr lebhaftem Rhythmus. blue2_5.gif zur Textstelle

48 Die Anglikanische Kirche hatte nach Barboza (1990:20) Tanz bereits um 1978 in ihre Liturgie eingeführt. Barboza erwähnt an dieser Stelle auch Tanz als Teil methodistischer Liturgie, gibt jedoch hierzu keine Jahreszahl. blue2_5.gif zur Textstelle

49 Interview am 8.6.1995 in der Academy of Indian Dance in London, Video Dutta & Sarker1989. blue2_5.gif zur Textstelle

50 Interview am 8.6.1995 in der Academy of Indian Dance in London. blue2_5.gif zur Textstelle

51 Siehe Kapitel "vom Ritual zur Bühnenkunst", Abschnitt "Hofkultur, Religion und das Fremde" blue2_5.gif zur Textstelle

52 Es geht ihr hier im Speziellen um den afrikanisch beeinflussten Tanz von Bahia und Trinidad, doch läßt sich das hier gesagte auf rituellen Tanz in vielen Kulturen ausdehnen. blue2_5.gif zur Textstelle

53 Vgl. Kap. "Grundlagen", Abschnitt "Entfremdung und Dämonisierung des Körpers". blue2_5.gif zur Textstelle

54 Siehe Kap. "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential". blue2_5.gif zur Textstelle

55 Eine detaillierte Beschreibung findet sich in Kaeppler (1988: 98-100). Kurz zusammengefasst findet die Formalisierung der Bewegungen ihren Ausdruck zunächst in spezifischen Seitwärtsbewegungen des Kopfes (fakateki), die den Ablauf der Zerkleinerung der Kava-Wurzel strukturieren. Die Person, welche die Bestandteile zusammenmischt, führt dann eine Reihe von Armbewegungen (haka) über dem Mixgefäß aus, die Formenmotive sind, von denen einige benannt sind, die ebenfalls durch fakateki- seitwärts Kopfnicken akzentuiert sind. Das Sieben der Flüssigkeit wird durch vorgeschriebene Bewegungsabläufe verziert, die auch ein virtuoses Zuwerfen des Siebes an einen Helfer, sowie fakateki beinhalten. In der weiteren Folge verkündet ein stilisierter Ausruf des Mixers und die stilisierte Antwort des matapule die Fertigstellung der ersten Portion und den Namen des ersten Gastes, der bewirtet wird. Dieser klatscht in die Hände und bestätigt damit öffentlich seinen Namen und Rang für sich und die Anwesenden. Die Servierbewegungen und Schritte sind ebenfalls genau vorgeschrieben. Die Formalisierung der Bewegungen der Kava-Zeremonie kommuniziert, dass diese Bewegungen öffentlich sind. Ihre Art gibt weiters Hinweise auf verwandtschaftliche Verbindungen mit der Lineage des Oberhaupts. Das Klatschen der Hände und vorschriftstreue Trinken des Kava verkündet Titel und Rang in der Öffentlichkeit. blue2_5.gif zur Textstelle

56 Quelle des Zitats: Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main: 1993:48, Quellenhinweis in eckiger Klammer eingefügt durch d. A. nach Angaben im zitierten Text. blue2_5.gif zur Textstelle

57 Das Stück wurde im Rahmen des Wiener Internationalen Ballett-Fests Tanz'86 am 22. und 23. Februar 1986 im Theater an der Wien gezeigt. blue2_5.gif zur Textstelle

58 Alle Zitate dieses Absatzes nach Maschke 1996: 17ff. blue2_5.gif zur Textstelle

59 Buckle 1975: 158 (zitiert nach Gray 1981) blue2_5.gif zur Textstelle

60 Es waren dies die Bediensteten des Mission Inn, in dem, wie man aus Labans Beschreibung heraushören kann, ein kurioser Kult der besinnlichen Exotik und Herrenrassen betrieben wurde, denn Laban hörte, dass "man angeblich bei den unmerklichen Eingangskontrollen nur weißrassige gesunde und wohlgestaltete Menschen durchließ" (Laban 1989:147). Dennoch betrieb man dort mit inbrünstiger Inkonsequenz einen Kult der Idealisierung gewisser nichtweißer Menschen, wie etwa der Azteken, von denen geglaubt wurde, dass sie keinen politischen Machtmissbrauch kannten, sondern nur "eine selbstverständliche Auswahl der Tüchtigsten, der Stammeshelden, der vergöttlichten Sippenmitglieder, der Priester und Heilsfinder". Man glaubte die Azteken seien beseelt von dem "Geist der Rechtschaffenheit, der aus der Naturverbundenheit erwuchs". Ihre Grundgedanken, so meinte man, waren "Treu bleiben, Mut Haben, Pflicht tun", usw. usf. (ibid.: 151) blue2_5.gif zur Textstelle

61 Eine eingehende Beschreibung der komplexen Bedeutung afrikanischer Tanzkunst sowie deren Niederschlag auf die Körperästhetik und bildende Kunst Afrikas findet sich zum Beispiel in Robert Farris Thompsons "African Art in Motion" (Thompson 1979). blue2_5.gif zur Textstelle

62 Näheres zum Thema des Primitiven im modernen Tanz siehe Kapitel "Von Bühnenkunst zum Ritual", Abschnitt "Primitivität - das Einfache, das Natürliche (Universelle) und das Fremde". blue2_5.gif zur Textstelle



 

blue1_2.gif weiter zum nächsten Kapitel

blue1_1.gif zurück zum Inhaltsverzeichnis der Habilitation
"Tanz/Ritual - Integrität und das Fremde"

top4.gif zurück zur Startseite der Homepage
Univ.-Doz. Dr. Marianne Nürnberger Uni Wien