Krtitischer Überschuss Doris Bachmann-Medick, die Autorin von „Cultural turns“, im Mail-Interview über den politischen Gehalt kritischer Kulturwissenschaften, neue Analysekategorien und die Herausforderungen der veränderten Welt nach 9/11 für die Kulturwissenschaften. Welche Position kommt den cultural turns, die sich explizit gegen Essenzialisierungen und dichotomisches Denken wenden, im aktuellen politischen Umfeld zu? Zunächst eine differenzierende Vorbemerkung: Die verschiedenen
„Wenden“ und Neufokussierungen der kulturwissenschaftlichen
Theorien entsprechen nicht etwa eins zu eins den „Wendungen“
der realen sozialen und politischen Vorgänge. Vielmehr vollziehen
sie sich auf einer Reflexions- und Analyseebene. Und doch ist unübersehbar,
dass besonders die Ereignisse des 11. September 2001 weltpolitische Reaktionen
und Folgen ausgelöst haben, welche die Kulturwissenschaften nicht
unberührt lassen oder lassen sollten. Aufschlussreich ist allein
schon der Versuch, mit kulturwissenschaftlichem Blick das Großereignis
des 11. September selbst in ein vielschichtiges Geschehen aufzubrechen.
So werden z.B. die Medienwirkungen dieses Ereignisses betont, aber auch
seine Folgen für eine weltweite Symbolpolitik. Im Zuge des spatial
turn wird zudem seine weitreichende Veränderung der globalen
Raum-Ordnung erkannt. Durch die Linse des iconic turn wiederum
sieht man, wie in den einstürzenden Twintowers die Macht der Bilder
kulminiert. Der 11. September hat sich sehr bald zu einem inneren Bild,
ja zu einem „Geschichtszeichen“ (H. D. Kittsteiner) verdichtet.
Eben deshalb liegt es nahe, seine Inszenierungsgewalt performativ zu analysieren
(vgl. performative turn). Auch an diesem spektakulären Brennpunkt
wird deutlich: Die kulturwissenschaftlichen turns vervielfältigen
die Analysemöglichkeiten und Deutungsperspektiven auch der politischen
Wirklichkeiten und unterhöhlen zugleich deren gesellschaftliche Deutungshoheiten. Wie kann eine solche Auseinandersetzung aussehen? Die Kulturwissenschaften entwickeln in erster Linie Konzepte
und Kategorien, um zunächst einmal den Horizont für eine solche
Auseinandersetzung abzustecken und diesen Horizont über die vorherrschende
westliche Perspektive hinaus zu öffnen. Vor allem in einer Zeit,
in der nationalstaatliche Denk- und Handlungsrahmen immer brüchiger
(und zugleich doch erneut beschworen) werden, erscheint ein Rückzug
auf in sich geschlossene Kulturverhältnisse nicht mehr möglich.
Alte Analysekategorien wie Geist, Identität, Tradition usw., die
eher geschlossene Zusammenhänge voraussetzen, sind weniger geeignet
zur Analyse globalisierter Vernetzungs- und Vermischungsverhältnisse
in transnationalen Macht- und Konfliktbeziehungen. Was man heute braucht,
sind Grenzbegriffe, Übersetzungsbegriffe, Beziehungsbegriffe (vgl.
translational turn). Aber was nützen solche Begriffe, wenn
die Wirklichkeit nicht mithält? Was nützen alle wohlgemeinten
anti-essentialistischen Konzepte von Grenzüberschreitung, wenn physisch-geographische
Grenzen auf der einen Seite aufgehoben, auf der anderen Seite doch wieder
stärker gezogen werden, wenn kulturelle Abgrenzungen und kultureller
Separatismus erneut aufbrechen? Driften die kritischen Kulturwissenschaften
dann nicht doch in utopische Regionen ab, bilden sie eine wissenschaftliche
„Parallelgesellschaft“ zur Wirklichkeit? Wie können diese neuen möglicherweise produktiven Ansätze in die Sphäre der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungen hinein vermittelt werden? Es ist auffällig, wie stark heutzutage politische Zusammenhänge
durch eine kulturelle Linse wahrgenommen werden. Dabei ist es in der Tat
erstaunlich, wie wenig sich die Sphäre der Politik für kulturwissenschaftliches
Wissen öffnet und wie schwer es ist, die aktuellen wissenschaftlichen
Debatten auch eindringen zu lassen in Kulturpolitik, Innen-, Sicherheits-
und Entwicklungspolitik, nicht zuletzt natürlich in eine Wirtschafts-
und Außenpolitik, die sich Fragen kultureller Globalisierung stellen
muss. Gerade für Probleme von Migration und Integration würden
kulturwissenschaftliche Ansätze und Einsichten weiterführen,
um nicht immer wieder auf Kategorien „von gestern“ –
wie Identität, Tradition, Integration als Assimilation, Dialog als
Austausch usw. – zurückzufallen. Die Schere zwischen kulturwissenschaftlichen
Erkenntnissen und politischer Entscheidung klafft in Wirklichkeit erschreckend
weit auseinander. Es geht also nicht mehr länger um „Kultur“ im engeren Sinne. Nein, denn es ist entscheidend, dass die cultural turns kulturelle Erklärungsmuster nicht isolieren, sondern sie immer wieder auf politische und ökonomische Bedingungen rückbeziehen. Denn indem die Kulturwissenschaften kulturelle Praktiken in den Blick nehmen, können sie zugleich kritisch aufdecken, wie heutzutage fast alles durch eine kulturalistische Brille wahrgenommen und damit verengt wird, wie Weltkonflikte kulturalisiert als Kulturkonflikte wahrgenommen werden und warum ein festbetoniertes Kulturverständnis (wie es Samuel Huntington vertritt) nur einen clash erkennen kann, nicht aber die Möglichkeit von Übersetzungs- und Vermischungsprozessen, von dynamischen, vielstimmigen, durchaus in sich widersprüchlichen Konstellationen.
Dieses Interview ist Teil des MALMOE-Schwerpunkts Engagierte Wissenschaft. Das ungekürtze Interview gibt es auf www.malmoe.org
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