Lehre

Reflexion des Bewusstseins

Das DÖW-Jahrbuch 2008 widmet sich antisemitischen Kontinuitäten

Es seien, so die Redaktion in ihrer Vorbemerkung, die Debatten zum Neuen Antisemitismus „streckenweise etwas aufgeregt“ geführt worden, und man wolle sich mit dem Schwerpunkt des neuen DÖW-Jahrbuchs grundsätzlicher und mit bislang vernachlässigten Perspektiven dem Thema nähern. Mit den vergangenen Debatten dürfte indirekt auch der oft zitierte Sammelband „Neuer Antisemitismus?“ von Rabinovici et al. (2004) gemeint gewesen sein (siehe MALMOE # 24), von dem sich das DÖW-Jahrbuch wohltuend dahingehend abhebt, dass darauf verzichtet wird, im Dienste krauser Ausgewogenheitsansprüche auch nichts als problematisch zu nennenden Positionen Platz zu bieten, sondern vielmehr von einem Konsens etwa über einen weiten Antisemitismus-Begriff ausgegangen wird, der „jede judenfeindliche Ein-/Vorstellung bzw. Handlung umfasst“.

Das bedeutet mitnichten, dass die AutorInnen des Bandes einheitliche Positionen vertreten würden, was am augenfälligsten wird, wenn Frank Stern der etabliert geglaubten Wahrnehmung von Antisemitismus als „Zerrbild einer Gesellschaftstheorie“ (Rürup), die in der Summierung ihrer Vorurteile und Stereotypen ideologisch nicht erfasst werden kann, einen Katalog von 18 Vorurteils-Kategorien entgegenhält, in deren Licht das „Antijüdische“ zu untersuchen sei. Sterns Fokussierung auf die Interessegeleitetheit des Antisemitismus gerät dort an ihre Grenzen, wo das antisemitische Weltbild eben nicht (nur) entlang politischer oder ökonomischer Interessen gewissermaßen 'rational’ ist, sondern sich als „hermetisch abgeschlossen“ erweist, wie Andreas Peham in seiner guten Einführung in die psychoanalytisch orientierte Kritik des Antisemitismus schreibt: AntisemitInnen vermögen „noch die größten Widersprüche und offensten Widerlegungen als Bestätigung in ihren Wahn einzubauen.“ Pehams Text gelingt das schwierige Stück, den „subjektiven Gewinn für das Ich“, den der Antisemitismus verheißt, in einer Sprache plausibel zu machen, die auch Nicht-KennerInnen der psychoanalytischen Theorie einigermaßen nachvollziehbar bleibt, ohne dabei ein soziales Phänomen durch seine Rückführung auf individuelle Pathologien zu entpolitisieren – auch wenn er die abschließende Rückbindung an eine 'klassisch’ politische Kritik unterlässt, die vielleicht wünschenswert gewesen wäre.

Von hoher Qualität ist auch Karin Stögners Analyse zum Verhältnis von Antisemitismus und Geschlecht im Nationalsozialismus, weil sie die doch immer mehr verbreiteten Untersuchungen zu diesem Thema um eine fundierte Einbettung in die Geschlechterbilder des NS bereichert. Irritierend ist allerdings, dass sie in Bezug auf das System der Konzentrationslager sich ausschließlich auf die „Auflösung von Geschlechtlichkeit“ und „zwanghafte Desexualisierung“ konzentriert und dabei die Untersuchungen etwa von Katrin Auer et al. über „Sexualisierte Gewalt“ (2004), also zu Sexzwangsarbeit in KZ- und SS-Bordellen, sexueller Ausbeutung und Vergewaltigung ausklammert und konsequenterweise erst gar nicht erwähnt.

Neben dem Nationalsozialismus ist der Nahostkonflikt ein zentraler Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus, den Thomas Schmidinger allerdings für „überdimensional“ beachtet hält. Seinem detail- und beeindruckend kenntnisreichen Artikel über die Islamisierung des Antisemitismus stellt er eine Art Präambel voran, die vor der „politischen Instrumentalisierung der Problematik“ warnt, wobei sein Beitrag bei aller Wissenschaftlichkeit selbstverständlich auch politische Positionierungen zum Ausdruck bringt, und dem Rezensenten stellt sich die Frage, was denn daran per se problematisch sein soll. Denn auch Differenzierung ist Politik und nicht nur Methode: So ist es redlich, bei einem historischen Abriss die Feindschaft gegen Juden und Jüdinnen von jener gegen Israel zu unterscheiden – die Frage aber, ob die Hisbollah nun Juden oder Israelis meint, wenn sie sie in Personalunion in die Luft jagt, ist nichts als sophistisch. Das antisemitische Ressentiment richtet sich gegen Israel als jüdischen Staat, und dankenswerter Weise halten sich die Texte des Bandes nur am Rande bei der Tarndiskussion auf, ob denn 'Israel-Kritik’ erst dann antisemitisch ist, wenn das Bekenntnis zum 'Existenzrecht’ ausbleibt, das Elisabeth Kübler in ihrer innovativen Darstellung des „postnationalen Antisemitismus“ zu Recht als zur „Phrase“ verkommen benennt.

Das Jahrbuch rückt den Aspekt der antisemitischen Kontinuität in den Vordergrund, die von den AutorInnen durchaus heterogen wahrgenommen und analysiert wird, eine Kontinuität, der allein durch inhaltliche Aufklärung nicht beizukommen ist, wie auch Werner Dreier in seinen pädagogischen Überlegungen betont: Vielmehr bedarf es der kritischen Selbstreflexion und der Analyse gesellschaftlicher Funktionsweisen. Hierfür ist dieses Buch ein wertvoller Beitrag.

Ingo Lauggas

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Jahrbuch 2008, Schwerpunkt Antisemitismus. Redaktion: Andreas Peham, Christine Schindler, Karin Stögner. LIT Verlag, Wien u. a. 2008

Erschienen in MALMOE # 42 (Juli 2008) und in
"Grand Hotel Abgrund" (3/2009), Zeitschrift der Fachschaft Philosophie an der Universität zu Köln.

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