Fabio Crivellari /Henning Schluß

Unterrichtsdokumentation in der DDR - "Die Sicherung der Staatsgrenze" als Unterrichtsgegenstand.  In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, GWU, 9/2006, S. 557f.

 

Vor einigen Jahren tauchten an der Humboldt-Universität zu Berlin etwa 100 Videoaufzeichnungen aus dem Videokabinett der HU auf, die Unterrichtsstunden zur Lehrerausbildung dokumentieren. Im Rahmen eines DFG-Projektes wird das einzigartige Quellenmaterial derzeit gesichert und analysiert, wobei historische und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen und Methoden kombiniert werden.

Eine erste dieser Unterrichtsstunden, 1977 zum Thema „Mauerbau“ abgehalten wurde, ist nun von der HU und dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) auf einer DVD für den heutigen Geschichtsunterricht didaktisch aufbereitet worden. Dabei wurde die Unterrichtsdokumentation thematisch aufgeschlüsselt und mit umfangreichem Begleitmaterial wie sowie mit Vorschlägen für den Einsatz im Geschichtsunterricht ergänzt.

 

Im Mittelpunkt dieser DVD steht die 10. Klasse einer POS (Polytechnische Oberschule) aus Berlin Köpenick, deren Unterricht im Fach Geschichte 1977 im Videokabinett der Universität aufgezeichnet wurde. Das Thema der Unterrichtsstunde war der Mauerbau im August 1961. Entsprechend der Vorgaben für den Unterricht wird die offizielle Perspektive der DDR auf das Ereignis deutlich. Mit Hilfe des zeitgenössischen Lehrbuchauszuges, des DDR-Lehrplan und der damals gültigen Unterrichtshilfe (auf der DVD enthalten) kann diese Perspektive im heutigen Unterricht erarbeitet werden.

Die Aufzeichnung konnte in aufwendigen Verfahren rekonstruiert und die Hintergründe dieser Aufnahme erforscht werden. So wurden drei Filminterviews mit damals verantwortlich Beteiligten geführt, die der DVD beigegeben sind. Es gelang auch die 1977 gefilmten Schüler ausfindig zu machen und zu ihren Erinnerungen und heutigen Eindrücken von der Stunde zu befragen. Zwei exemplarische Interviews sind ebenfalls auf der DVD enthalten.

 

Vom 1-Zoll-Band zur DVD

Das Videomaterial kam auf abenteuerliche Umstände über die Universität Dresden zurück an seinen Ausgangsort Berlin. Zunächst war nicht einmal klar, worum es sich bei den 1-Zoll-Bändern handelte, da es keine geeigneten Abspielgeräte für das spezielle Format (vor der Standardisierung) gab. Es gelang nach langer Suche, in Hamburg ein Studio ausfindig zu machen, das noch ein entsprechendes Gerät besaß. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur förderte die Überspielung des Bandes und ein entsprechendes Forschungsprojekt. Damit entspringt die vorliegende DVD nicht nur einem kuriosen Überlieferungszusammenhang, sondern verweist auf ein seit längerem ernsthaft diskutiertes Problem der Mediendokumentation: Wie können Informationen heute so gespeichert werden, dass sie auch in zehn Jahren noch abgerufen werden können und wie können heute Medien aus technisch längst vergangenen Zeiten mit exponentielle kürzeren Veraltungsperioden abgespielt werden? Trotz sorgfältiger Restaurierung erkennt man in dem Schwarzweißmaterial deutlich ein Dokument der Pionierzeit der Videoaufzeichnung. Diese Patina kann die Interpretation des Dargestellten einerseits irreführen, da sie der Anmutung einer Überwachungskamera entspricht, andererseits übt sie gerade deswegen einen besonderen didaktischen Reiz aus, der natürlich zu hinterfragen ist. Für Dokumentation und Auswertung und Weiterverbreitung ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen, die im weiteren Forschungsprojekt ausgeführt werden. Eine der anschließenden Fragen ist die der Authentizität des medienhistorisch vielschichtigen Materials.

 

Authentischer Unterricht?

Die Frage der Authentizität kann hier nicht erschöpfend beantwortet werden. Ganz sicher ist es so, dass jeglicher Unterricht inszenatorische Qualitäten aufweist. Lehrer agieren in der Lehrerrolle, Schüler nehmen die Schülerrolle ein. Diese inszenatorischen Elemente werden durch Kamerabeobachtung gewiss verstärkt, jedoch nicht erst erzeugt. Von der vorliegenden Unterrichtsstunde wissen wir, dass sie nicht „geprobt“ wurde. Die Vorbereitung seitens der Schüler hielt sich im Rahmen des üblichen (Kurzvortrag etc.). Auf der Lehrerseite dagegen wurde die Stunde ungewöhnlich intensiv, im ganzen Kollegium der Geschichtsdidaktik, vorbereitet. Dennoch bleibt die Interaktion in der Stunde selbst nicht planbar und die Frage, inwiefern gerade diese Kontingenz unterrichtlichen Geschehens dessen Authentizität in einer solchen Videoaufzeichnung ausmacht, wurde durch den Quellenfund erst nachhaltig motiviert. Ihr wird im weiteren Forschungsvorhaben nachgegangen, ein erster Aufsatz dazu ist in Vorbereitung.

 

Didaktische Aspekte der DVD

Neben der Quellensicherung, der Dokumentation und der Analyse wurde das Filmmaterial für den Einsatz im heutigen Geschichtsunterricht aufbereitet. Im Zentrum der so entstandenen DVD steht der Unterrichtsmitschnitt, der trotz Schwarzweiß-Aufnahme und der ungewohnten Perspektive auf ein Klassenzimmer Schülern eine unmittelbare und anschauliche Identifikation mit den Schülerinnen und Schülern von 1977 ermöglicht. Möglicherweise unterstützt die Anmutung eines Überwachungsmonitors gerade diese Atmosphäre des Fernrohrs in die Vergangenheit. Das Material eignet sich ideal um den Perspektivenwechsel im Zusammenhang mit dem Mauerbau im Geschichtsunterricht vorzunehmen. Die Geschichte des Mauerbaus kann aus der unmittelbaren Perspektive der offiziellen DDR-Geschichtsschreibung beleuchtet werden. Daran anschließend kann auch die Vermittlungsstrategie dieses Geschichtsbildes untersucht werden. In Rollenspielen kann dann eine Diskussion über den Mauerbau mit den verschiedenen Argumenten vorgetragen werden. Was würden die Schülerinnen und Schüler heute ihren Kolleginnen und Kollegen von 1977 sagen, wenn sie den Argumenten des DDR-Unterrichtsmaterials antworten wollen?

Über das Begleitmaterial, insbesondere die Interviews zweier damaliger Schüler, kann dieser historische Zugang erneut reflektiert werden. Wie schätzen heutige Betrachter die Akteure von 1977 ein? Besteht diese Einschätzung auch nach der Ansicht/Lektüre der Interviews noch? Darüber hinaus kann und sollte auch das Thema Schulalltag und Erziehung in der DDR angesprochen werden, in das diese DVD einen gewiss einzigartigen Einblick ermöglicht. Ebenfalls über das Begleitmaterial wird sichergestellt, dass der kritische Perspektivwechsel, welcher der damaligen Unterrichtsführung lehrplangemäß gänzlich fehlte, nun auch bezogen auf den historischen Kontext hergestellt werden kann. Gewissermaßen als Bonusfilm wurde die Langzeitdokumentation „Halt Zonengrenze“ von der Stiftung Aufarbeitung zur Verfügung gestellt. Der Journalist Franz J. Schreiber drehte dafür über drei Jahrzehnte hinweg Szenen an der innerdeutschen Grenze.

In dieser Form stellt die DVD sicherlich nicht nur für Schulen sondern auch für ein Hochschulstudium angemessenes Studienmaterial zur Verfügung.

 

- Fabio Crivellari, Historiker, ist Pädagogischer Referent im FWU (www.fwu.de)

- Dr. Henning Schluß, Erziehungswissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin (www.henning-schluss.de