Saubere Heftführung

Eine Berliner Ausstellung versucht, die "Schule in der DDR" zu erklären

FRANK KALLENSEE

H ätte die DDR beim Pisa-Test Spitzenplätze besetzt? Für Ostalgiker versteht sich die Antwort von selbst. Aber dass Historiker der Berliner Stiftung Stadtmuseum dem Unterricht Margot Honeckerscher Prägung rückblickend "ein von den westlichen Industrienationen unerreicht hohes Niveau" attestieren, ist denn doch ein überraschend nachgereichter Persilschein für die gewesene Volksbildungsministerin. Die "Schule in der DDR der 1970er Jahre" habe sich durch "Verwissenschaftlichung und Praxisbezug" ausgezeichnet, wird in der gleichgetitelten Ausstellung kundgetan. Noch Fragen?

Doch, jede Menge. Hier aber wenigstens diese: Gab es in der DDR jene individuelle Förderung, deren Fehlen ja auch heute in der Bundesrepublik beklagt wird? Oder hat das 1965 aufgelegte "Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" nicht vielmehr eine gleichermaßen inhaltliche wie strukturelle Homogenisierung festgeschrieben? Höflich ausgedrückt. Weiter: Warum wurden lediglich zwölf Prozent der Schüler eines Jahrgangs zum Abitur "delegiert"? Beschränkte sich der 1978 eingeführte Wehrunterricht bloß auf Lagerfeuerromantik? Und: Wurde die "richtige" Meinung nicht in jeder Schulstunde eingefordert, egal ob in Mathe die Ballistik einer Panzergranate errechnet oder in Deutsch Friedrich Wolfs "Kunst ist Waffe" inhaliert werden musste? Die

POS – eine einzige fröhliche Pionierrepublik, in der Viertklässler glücklich "Selbstverpflichtungen" über "saubere Heftführung" oder aktive Teilnahme an "Altstoffsammlungen" verfassten und überhaupt "immer ordentlich sein" mochten? Nur für Nachgeborene: POS steht für Polytechnische Oberschule und die Pionierorganisation "Ernst Thälmann" kümmerte sich frühzeitig um das gewünschte Verhältnis des Nachwuchses zu Partei und Staat.

Nein, wo in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion das DDR-Schulwesen als vorbildhaft beschworen wird, ist entweder Geschichtsbewusstlosigkeit oder Zynismus am Werk, weil es ohne die sowjetpädagogische Ideologie, die es hervorgebracht hat, nicht zu denken war und immer noch nicht zu denken ist. In der arg bescheidenen Ausstellung müssen sich die Besucher freilich einen eigenen Reim darauf machen, was es 1971 mit dem Pioniermanöver Schneeflocke auf sich hatte oder mit dem Jugendweihe-Gelöbnis, "den Sozialismus gegen jeglichen imperialistischen Angriff zu verteidigen". Wer nichts darüber weiß, wird hier leider auch nicht schlauer.

Aber die Schau ist im dritten Obergeschoss einer ehemaligen Platten-"Typenschule" aufgebaut. Das zumindest passt – zu DDR-typisierten Lebensläufen: Nach Verlassen des Kreißsaales stand jeder sicher vor der Rente. Denn dazwischen wurde er – in Krippe, Kindergarten, POS und EOS (der Erweiterten Oberschule), in der Berufsschule oder alternativ im Studium – zur "allseitig und harmonisch entwickelten Persönlichkeit" erzogen, zu einer sozialistischen also. Wie erschütternd konkret dies geschah, zeigt der Mitschnitt einer Geschichtsstunde über den Mauerbau. Diese 45 Minuten erklären mehr als die etwas hilflos arrangierten Fotos, Fibeln und FDJ-Fundsachen.

Etwa 100 solcher für Ausbildungs- und Forschungszwecke an der Berliner Humboldt-Universität gefertigten Videoaufzeichnungen hat der Erziehungswissenschaftler Henning Schluß entdeckt, rekonstruiert, digitalisiert und nun für ein Internetportal aufbereitet. Geht es nach ihm, sollen adäquate Bestände der Akademie der pädagogischen Wissenschaften und der Pädagogischen Hochschule Potsdam noch hinzu kommen. Aber auch die dann vorläufig nur für die Wissenschaft, aus Datenschutzgründen. "Für eine öffentliche Nutzung bedarf es der Einwilligung sämtlicher ,Abgebildeten’", kommentiert er die Einschränkung. "Wir bemühen uns sehr darum." Bis dahin bleibt der Mauerbau-Film die einzige für alle – übrigens auch auf DVD erhältliche – ansehbare Quelle. Aber die erzählt wirklich genug.

"Schule in der DDR der 1970er Jahre": Sammlung Kindheit und Jugend/Stiftung stadtmuseum, Wallstr. 32, Berlin-Mitte. Di-Fr 9-17 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr. Bis 31. Januar 2008.

Unterrichtsmitschnitte aus der ehemaligen DDR im Internet unter
www.fachportal-paedagogik.de/filme
30.11.2007