Fünf Minuten für die Mauer
Ein Videoband von einer Schulstunde in der DDR aus dem Jahr 1977 offenbart,
wie Schülern der Mauerbau nahe gebracht wurde
Beim Durchsuchen alter Archive der Humboldt-Universität machte ein Unbekannter
einen einmaligen Fund: eine Videoaufzeichnung von einer Schulstunde in der DDR
aus dem Jahr 1977. Thema der Geschichtsstunde: der Bau der Mauer 1961. Das
Videoband landete bei Henning Schluß von der Humboldt-Universität, der über den
Fund recherchiert hat.
Mit moderner Videotechnik stellte damals die Humboldt-Universität anschauliche
Unterrichtsbeispiele zur Lehrerausbildung her. Ein Bus brachte die Jungen und
Mädchen einer 10. Klasse aus Köpenick. Die Lehrerin doziert im frontalen
Unterrichtsstil zielorientiert und druckreif. Die jungen Frauen und Männer mit
westlich langen Haaren, lässig auf die Schulbänke gestützt, geben mit eigenen
Worten ihre Einschätzungen wieder. Alles wirkt diszipliniert und sachlich –
wenn auch einer eine Schnitzfigur aus Radiergummi herstellt.
Nach
Henning Schluß handelte es sich um eine Schulstunde mit Vorzeigecharakter, die
aber nicht grundsätzlich anders als normale Unterrichtsstunden war. Ein
ehemaliger Schüler versicherte, der Unterricht sei nicht etwa abgesprochen
gewesen. Rund 40 Minuten lang werden die Jahre vor dem Mauerbau durchgenommen,
vor allem die militärische Bedrohung des Westens. Dabei bekommen die Schüler
eine Platte mit DDR-Propaganda aus dem Kalten Krieg zu hören. Für den Bau der
Mauer bleiben ganze fünf Minuten. Die zu lernende Lektion: Es gab keine
Alternative zur Mauer, die gegen Spionage, „Wühltätigkeit“ und militärische
Bedrohung schützt. Kein Wort über Abwanderung in den Westen.
Erstaunlich am Unterricht ist, wie ernsthaft die Politik der beiden deutschen
Staaten unter die Lupe genommen wird, wenngleich unter eine verzerrende. Dabei
kommt auch der Vorschlag einer Konföderation zur Sprache, den die DDR der BRD
im Jahr 1957 machte. Beide Staaten sollten souverän bleiben, auf Atomwaffen auf
ihrem Gebiet und Wehrpflicht verzichten und aus Nato und Warschauer Pakt
austreten.
Bei der Präsentation der Film-Doku in der
Landesvertretung von Sachsen-Anhalt plädierte der stellvertretende Vorsitzende
der Stiftung Aufarbeitung Bernd Faulenbach für „Mauergedenken“ und
„Erinnerungskultur“. Uwe Haass, Direktor des
Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, nannte die Zahl von
250 DVD-Bestellungen von Medienzentren vorwiegend im
Westen, während es im Osten eine „Saturiertheit“ mit dem Thema Mauer gebe. Das
Beispiel der alten Videoaufzeichnung zeigt darüber hinaus, wie gefährdet
Erinnerungskultur ist, wenn elektronische Medien archiviert werden. Von der
gefundenen Videoaufnahme konnte zunächst nur die Tonspur abgespielt werden,
weil es kein passendes Abspielgerät mehr gab. Erst nach langer Suche fand
Henning Schluß ein Studio in der Nähe von Hamburg, das noch ein Gerät besaß.
Der 83-jährige Journalist und Kameramann Franz Joseph Schreiber filmte über 30
Jahre lang Ereignisse an der „Zonengrenze“: den Ausbau eines einfachen
Stacheldrahtzauns zum Metallgitterzaun und zur komplizierten, hochgerüsteten
Grenzanlage mit Berührungsmeldern und Selbstschussanlagen; Feuerwerksraketen
und Ballons, die hüben und drüben Flugblätter abwerfen; westliche
Grenztouristen, die mit DDR-Lautsprecherpropaganda beschallt werden. Der
„Chronist der innerdeutschen Grenze“ war zur Stelle, wenn der Bundesgrenzschutz
auf der Elbe wieder einmal den DDR-Organen ein Fluchtboot übergab, was eine
höchst heikle Angelegenheit war. Die Übergabe eines kleinen Flugzeugs misslang,
weil der DDR-Vertreter zurückfahren musste, um neue Anweisungen einzuholen.
Und immer wieder überraschend Grenzüberschreitendes: Ein Soldat legt gegen die
Vorschrift seine Waffe ab und hebt ein Kind auf seine Schultern, das seiner Oma
über die Grenze hinweg winkt. Oder die Feuerwehrkapelle in Sprangenberg
an der Saale: Unerwartet und unerlaubt spielt sie „Ja das ist Kufstein“ für die
westlichen Zaungäste. Peter Düweke
Die DVDs „Der Mauerbau im DDR-Unterricht“ und
„Über die Zonengrenze hinweg“ sind über die Stiftung Aufarbeitung zu beziehen, Otto-Braun-Str. 70–72, 10178 Berlin, www.stiftung-aufarbeitung.de.
Gebühr je DVD: 7,50 Euro.